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Gut in die Jahre gekommen: Neues Gewandhaus Leipzig

1971-81
Neues Gewandhaus Leipzig

Anfang der 80er Jahre eingeweiht, erweist sich das Neue Gewandhaus auch nach 30 Jahren intensivster Nutzung in Gebrauch und Gestalt als bemerkenswert beständig. Anders als die benachbarte Universität hat der Bau die Wende gut überstanden, Veränderungen und Umbauten gab es kaum. Müssen einige der Kulturpaläste und Stadthallen aus DDR-Zeiten wie z. B. in Dresden und Chemnitz umgebaut oder ergänzt werden, wird das Leipziger Konzertgebäude seinen Anforderungen nach wie vor gerecht.

    • Architekten: Rudolf Skoda, Eberhard Göschel, Volker Sieg, Winfried Sziegoleit

  • Text: Annette Menting
    Fotos: Mathias Bertram, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Das Leipziger Gewandhaus nimmt als Bautypus eine besondere Rolle ein, denn es ist der einzige Konzertsaal-Neubau, der in der DDR realisiert wurde. Demgegenüber wurden die zahlreichen Kulturhäuser für ein breiteres Nutzungsspektrum vom populären Unterhaltungsprogramm bis zu klassischen Aufführungen als multifunktionale Räume angelegt. Die spezifische Gestaltung als Konzerthaus für das renommierte Gewandhausorchester ist Ursache für die nachhaltige Nutzbarkeit und das weitgehend schadlose Überstehen des politischen Systemwechsels.
Am Südende des heutigen Augustusplatzes sollte anstelle des im Krieg zerstörten Bildermuseums zunächst das Auditorium Maximum der Karl-Marx-Universität entstehen. Aus Kostengründen sah man schließlich davon ab. Nach einer Eingabe des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur 1974 wurde die Entscheidung endgültig zugunsten des Neuen Gewandhauses getroffen, das somit den ehemaligen Standort des Vorgängerbaus von Martin Gropius und Heino Schmieden aufgab und stattdessen an den zentralen Platz zog, dessen Benennung nach Karl Marx zugleich seine politische Bedeutung und Funktion als Aufmarschfläche dokumentierte.
Mit seiner eindringlichen Form behauptet sich das Gewandhaus als Pendant zur gegenüberliegenden Oper. Während diese sich als fein gegliederter Quader in der vorgegebenen Formensprache »nationaler Traditionen« zeigt, präsentiert sich das 20 Jahre später fertiggestellte Gewandhaus in spätmodern-expressivem Ausdruck. Über den gestaffelten Baumassen erhebt sich der große Saal, der als gewaltiger Körper einen markanten Abschluss des Ensembles bildet. Eine große, leicht nach außen geneigte Glasfassade gewährt den Foyers großzügig Ein- und Ausblicke, zugleich haben Volumen und Materialkontrast vom Saalkörper zur Frontfassade eine dramatische Erscheinung des Baus zur Folge. Mit dem skulpturalen Konzept wurden die seltenen Möglichkeiten zu einer anderen Architektursprache jenseits der profanen Massenproduktion bei diesem »Gesellschaftsbau« ausgeschöpft. Die dominante Gestalt bezieht sich auf die Fernwirkung des Solitärs am weiträumigen Platz zwischen Europahochhaus und der »Bildzeichen-Architektur« des Universitätshochhauses. Das Gewandhaus nimmt ebenso wie die Oper eine Sonderstellung ein, denn es befindet sich innerhalb des grünen Promenadenrings und reagiert auf zwei konträre Raumsituationen: den urbanen Platz im Norden und die Parkanlage im Süden. Somit steht der hohen Platzfront ein terrassierter Bauteil mit dem zurückgestaffelten kleineren Saal gegenüber, der einen Übergang zum Park und zur flachen Moritzbastei bildet. Einladend gestaltet ist die gesamte Erdgeschosszone, die sich umlaufend zu den verschiedenen stadträumlichen Situationen öffnet.
Vom Schuhkarton zum Weinberg
Entsprach der historische Gewandhaussaal im Musikviertel noch dem tradierten Schuhkartonprinzip, suchten die Architekten in den 70er Jahren nach zeitgemäßen Formen für das Gewandhausorchester, das während seiner Tourneereisen weltweit hohe Standards kennenlernte. Eine der eindruckvollsten Entwicklungen war seinerzeit die Saalgestaltung nach dem Weinbergprinzip, das Hans Scharoun bei der Berliner Philharmonie erstmals realisiert hatte. Auch im Rotterdamer Konzertsaal de Doelen (1966) wird das Podium von einem amphitheaterförmigen Gestühl umschlossen, um das Miteinandererleben des musikalischen Ereignisses zu erreichen. Beide Räume wurden von der Architektengruppe anhand von Veröffentlichungen analysiert, um einen modernen Klangkörper zu entwickeln, der unter den bautechnischen Bedingungen der DDR bei eingeschränkten Baukapazitäten und Materialkontingentierungen realisiert werden konnte.
Der große Saal ist nach dem Weinbergprinzip als reiner Konzertsaal für rund 1 900 Zuhörer ausgelegt, während der kleinere Saal verschiedenen Veranstaltungsformen für 500 Teilnehmer dient und zeitweise auch von der benachbarten Universität genutzt wird. Der Gewandhauskapellmeister hatte bei den Gestaltungsfragen eine besondere Rolle, denn obgleich der Rat des Bezirks offiziell Bauherr war, übernahm Kurt Masur wichtige Bauherrenentscheidungen. Nach der ersten Spielzeit zitierten die DDR-Medien Dirigenten wie Yehudi Menuhin und Herbert von Karajan, die den Leipziger Bau als einen »der akustisch und optisch gelungensten modernen Konzertsäle« lobten. Dieser Saal ist weitgehend unverändert geblieben. Die fest installierten Decken- und Wandelemente sind seit den ersten Akustikproben in ihrer Form erhalten. Die Lichttechnik wurde demontabel ergänzt, da inzwischen auch einzelne Veranstaltungen mit variablen Lichtinszenierungen erfolgen, wobei die provisorischen Scheinwerfer-Traversen inzwischen zum dauerhaften Mobiliar geworden sind. Ausgetauscht wurden vor einigen Jahren lediglich die Sesselpolsterungen in Orientierung am Original.
Die Foyers umgeben den gesamten Saal in der oberen Ebene und bieten in ihrer Offenheit und Weitläufigkeit gleichermaßen gute Orientierung sowie eine angenehme Raumsituation. Einzelne nachträgliche Installationen beeinträchtigen die großzügige Raumwirkung der Empfangsfoyers: Neben dem Eingang ist ein Gewandhaus-Shop entstanden, etwas weiter eine »HörBar« als Informationsinsel sowie ein Gastronomietresen und an einigen Stellen stehen die unerlässlichen Info-Screens unvermittelt im Raum. Das Neue Gewandhaus wurde seit seiner Fertigstellung mit besonderem Aufwand instand gehalten, dank engagierter technischer Leitung und integrierter Werkstätten. Bei den Modernisierungsmaßnahmen ist seit den 90er Jahren eine Tendenz zur Veredelung spürbar. Dabei wird den einfacheren Zweite-Wahl-Materialien der Entstehungszeit (das Erste-Wahl-Material war Exportgut und stand in der DDR kaum zur Verfügung) ein edleres postsozialistisches Korrektiv gegenübergestellt. Das DDR-Zeitzeugnis aus den 80er Jahren hat dadurch in einzelnen Details irritierende Veränderungen erfahren, die sich nicht eindeutig von der schlichten Originalfassung absetzen – gestalterische Dissonanzen sind zu spüren. Deutlich wird dies bei einem Detail der Foyer-Leuchtringe, die ursprünglich mit sachlichen Industrieleuchten ausgestattet waren und heute befremdlich-gediegene Kristallfassungen aufweisen.
In der Gestaltung des Gewandhauses scheinen einige überraschende Kontraste auf: Während der auskragende Saalkörper über der hohen Glasfront gezielt eine moderne Konstruktionslösung darstellt, greift die Bekleidung des Baus mit Cottaer Sandstein die Tradition des historischen Vorgängerbaus von 1884 auf. Demgegenüber schafft die zeitgenössische Kunst im Bau mit ihrem expressiv-exaltierten Duktus eine Distanz zu den Konventionen tradierter Konzerthäuser. Das Monumentalbild von Sighard Gille erstreckt sich über die gesamte Saalunterseite (seinerzeit das größte Deckengemälde Europas) und ist von den Foyerumgängen über drei Etagen erlebbar, allerdings nie als Ganzes, sondern jeweils in Ausschnitten. Auch vom Platz ist das Bild nur partiell erlebbar, da es sich mit den Foyergalerien verschneidet und die geneigte platzreflektierende Glasfassade den Blick einschränkt ebenso wie der neobarocke Mendebrunnen. Gilles figürliche Darstellung mit dem Titel »Gesang vom Leben« ist nicht mehr vordergründig politisch belehrend wie frühere Beispiele der architekturbezogenen Kunst in der DDR. Neben abstrakteren Themen tritt in dem Gemäldesegment »Orchester« auch Kurt Masur in Erscheinung, der zur Identität des Neuen Gewandhauses nach wie vor beiträgt, obgleich inzwischen Riccardo Chailly als Gewandhauskapellmeister wirkt.
Der Wandel des denkmalgeschützten Gebäudes ist nach 30 Jahren eher geringfügig: Die früher im Foyer installierte Leihgabe der Beethoven-Plastik von Max Klinger steht nun im neuerrichteten Bildermuseum, stattdessen wurde eine Skulptur von Felix Mendelssohn Bartholdy aufgestellt. Im kleineren Saal wurden bewegliche Akustikpaneele in die ahornfurnierten Holzwände integriert und das große Saaldach musste neu eingedeckt werden. Im kommenden Jahr steht die Integration von neuen Brandschutzmaßnahmen bevor wie z. B. zusätzliche Schutzvorhänge, mit denen die weitläufigen Foyers im Gefahrenfall geteilt werden können.
Während der Bau sich insgesamt als beständig erweist, hat sich sein Umraum deutlich verändert. Wesentlich ist auch das, was auf dem Platz nicht mehr sichtbar ist, denn der ruhende Verkehr befindet sich inzwischen in einer Tiefgarage. Stattdessen fassen an der westlichen Seite stählerne Pergolenbauten den Platz ein, die seinem großstädtischen Charakter jedoch abträglich sind. Einige der angrenzenden Bauten haben einen deutlichen Wandel erfahren: Das frühere Hotel Deutschland wurde aufwendig modernisiert, das heutige City-Hochhaus hat anstelle der Aluminiumbekleidung eine steinerne Fassade sowie einen Sockelbau erhalten (Entwurf: Peter Kulka). Besonders markant ist der Abbruch des erst 30-jährigen Universitätsgebäudes, an dessen Stelle ein Neubau nach dem Entwurf von Erick van Egeraat entsteht. Während das Universitätsgebäude schon aufgrund der willkürlichen Sprengung der Paulinerkirche negativ besetzt war, ist das Neue Gewandhaus von Beginn an positiv assoziiert mit der langen Musiktradition Leipzigs sowie dem internationalen Wirken von Kurt Masur und erfährt daher uneingeschränkte Anerkennung. Gestalterischen Sonderstatus am einst sozialistischen Platzensemble sichert sich das Gewandhaus durch seine Differenz zum industriellen Bauen und ist damit heute ebenso wie die Oper identitätsprägender Bestandteil des Augustusplatzes.
Den Wandel im Selbstverständnis bekundet der zunächst nebensächlich erscheinende Austausch einer kleinen Bronzetafel am Gewandhaus, auf der die Vollendung des Karl-Marx-Platzes als politisch-gesellschaftlicher Akt gewürdigt wurde. Die Anfang der 90er Jahre ausgewechselte Tafel verweist auf das Eröffnungskonzert mit Kurt Masur sowie auf den Konzerthaus-Entwurf, allerdings unter Nennung von nur einem der vier Architekten. Diese Reduktion der Entwurfsgenese widerspricht jedoch den tatsächlichen kollektiven Gestaltungsprozessen und so wird die irritierende Tafel mit weiterer Erforschung des Themas in absehbarer Zeit erneut ausgetauscht werden müssen. •

~Annette Menting
1965 in Dorsten geboren. Architekturstudium und Promotion an der Universität der Künste, Berlin. Mitarbeit bei Hinrich Baller und Projektleitung im Büro von Gerkan, Marg und Partner. Seit 2000 Professur für Baugeschichte und Baukultur in Leipzig.
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