1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Diskurs »

»Man muss sich nach der Decke strecken«*

Architekturtendenzen in den neuen Bundesländern
»Man muss sich nach der Decke strecken«*

~Gudrun Escher

*aus: Bert Brecht, Mutter Courage

Ist Brecht wieder aktuell?
Anpassung an die Verhältnisse aus Selbsterhaltungstrieb ist eine Haltung, die in schwierigen Zeiten das Überleben zu sichern scheint. In diesem vordergründigen Sinne erzeugt sie jedoch Fatalismus, Mutlosigkeit, sich Verstecken hinter dem Urteil der anderen, Mittelmäßigkeit und letztlich Willfährigkeit gegenüber rücksichtslos durchgesetzten machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen einiger weniger. Dieses zieht, bezogen auf Stadtentwicklung und Baugeschehen, sinnlose Verschwendung und Devotionalien an den Gott des Zeitgeschmacks nach sich. Beides ist geeignet, die bestehenden Stadtlandschaften dauerhaft zu stören. Aber Anpassung kann mehr sein: Das Passende, Angemessene, ein bestehendes Gefüge Bereichernde herausarbeiten. Sich nach der Decke eines hoch gesteckten Anspruchs strecken bedeutet konsequent auf Ziele hinwirken, bestmögliche Lösungen im gegebenen Umfeld suchen, sorgsam mit den Ressourcen umgehen. Das erfordert Mut, Sensibilität, Kreativität, ganzen Einsatz.

Vielerorts »Zwischen Görlitz und Eisenach« scheint der Humus dünn zu werden, aus dem neuer Elan gespeist werden könnte, nachdem die Aufbruchstimmung der Nachwendezeit abgeflaut ist und deutlich wurde, dass Blütenträume, die auf Wachstum setzten, nicht reifen konnten. Aus ernüchternden Erfahrungen, wie sie der Architekt Gabor Freivogel in Halle machte, dem es jedoch trotz zäher Widerstände gelang, sein Konzept durchzuhalten, zog Jochen Lagerein in Dresden die Konsequenz, für Wohnungsbau nach seinen Maßstäben der Raum- und Materialqualität sein eigener Bauherr zu werden. Beide verbindet die Erfahrung mit Bauwerkserhaltung und Sanierung, die das Gespür für Materialien und Details schärfte, kein Einzelfall in den Neuen Ländern. Im Denkmalamt von Mecklenburg-Vorpommern hat man die Erfahrung gemacht, dass gerade diejenigen, die im Neubausektor Herausragendes leisten, auch die besten Denkmalpfleger sind, denn sie hätten Respekt vor der Leistung anderer. Der Architekt Eugen Rimpel, der den Amtssitz »Domhof« in Schwerin denkmalgerecht erweiterte, versteht sich als Dienstleister an der Architektur seiner Region, die jahrelang vernachlässigt worden war, obgleich seit 1977 in der DDR fünf dezentrale Betriebe für die Denkmalpflege mit so genannten Projektierungsateliers arbeiteten, in denen auch alte Handwerke gepflegt wurden. Mit dem Domhof war er bereits vor der Wende befasst, doch das Heizungsproblem war damals unlösbar und Material fehlte, so dass alles liegen blieb.
Das Arbeiten im Bestand und mit dem Bestand ist allgemein in das Zentrum des Aufgabenfeldes der Architektur gerückt, aber bedingt durch die besondere Situation der Neuen Länder, wo die massive Modernisierungswelle der sechziger Jahre weitgehend ausgespart blieb, erhalten aktuelle Strömungen und neue Positionen in der Stadt- und Landesentwicklung hier eine exemplarisch zu nennende Pointierung. »Wir haben gelernt, mit dem zu arbeiten, was da und was erreichbar ist«, so formuliert es Ulrich R. Schönfeld, Architekt und Geschäftsführer der ipro Dresden, einem Ingenieur- und Planungsunternehmen, das seit 1949 große Aufgaben der Industrie übernahm und sich nach der Wende in neuer Konstellation wieder gegründet hat. Ob es gilt, in Dresden die Frauenkirche wieder aufzubauen und dabei mit modernster Haustechnik auszustatten, oder bei laufendem Betrieb ein Werk für Druckereimaschinen bei Würzburg mit neuem leistungsfähigerem Tragwerk zu erweitern, beides erfordert das präzise Arbeiten im Rahmen eines durchstrukturierten Gesamtkonzepts. Das mag an Planwirtschaft erinnern, ist jedoch etwas grundsätzlich anderes als ein Funktionalismus, dessen gesellschaftlicher Nutzwert an unabänderlichen Normen gemessen wurde. Dagegen ist heute die Neuorientierung ohne solche Leitlinien in einem oft unüberschaubaren und kaum beeinflussbaren Geflecht von Beziehungen und Wirkungsweisen ein andauernder Prozess. Die Aneignung von Stadtgeschichte in einer neuen Offenheit und Differenziertheit zieht im gleichen Maße eine vielgestaltige Ausprägung des Zeitgenössischen, Modernen nach sich. Beides unter dem Signum der Baukunst zum Ausgleich zu bringen, ist eine Aufgabe, der sich auch Silke Wagenitz als Alleinkämpferin im brandenburgischen Bad Saarow verpflichtet, die während ihres Architekturstudiums in Weimar die Wende erlebte und nach eigener Einschätzung von beiden Ausbildungssystemen profitierte.
Modern sein im Wortsinn heißt sich wandeln, Formen finden, die diesen Wandel implizieren, und bedeutet etwas anderes, als verordneter, vorausbestimmter Fortschritt. Das Abkoppeln von solchen traditionellen Fortschritts- und Wachstumskriterien birgt die Chance, eine Vorreiterrolle zu übernehmen, allerdings um den Preis von Konflikten zwischen retardierenden, an den gesicherten Eckpfosten einer Vorstellung von Stadt und Raum festhaltenden Strömungen und solchen Eingriffen, die jene auf Wandel zielenden Fragen der Zukunft benennen. Nicht von ungefähr initiierte das Bauhaus in Dessau eine IBA Stadtumbau, die sich mit den Auswirkungen der Schrumpfung beschäftigt und dem Thema »Stadt und Erbe« gerade in Halle einen Kongress widmete. Auch heißt das Motto der Architekturbiennale 2006 »Converted city«.
Ein weiteres Kapitel schlägt die IBA Fürst-Pückler-Land in der Lausitz, kurz IBA-See, auf mit der Ausweitung auf das Phänomen der Landschaft, in die Stadtlandschaften eingebettet sind und die Kulturträger und Wirtschaftsfaktor zugleich sein kann. Thomas Lieschke erhielt für seine Diplomarbeit an der BTU Cottbus den ersten Förderpreis zum Gewerbebaupreis der Hypo Real Estate Stiftung, denn sein Vorschlag für eine Energiefarm bei Welzow bindet im Rahmen der Landschaftsreparatur die topografische, historische und humane Identität dieser Region mit ein, schafft aber gleichzeitig ein außenwirksames Bild zur Vermarktung der Technologien. Sein Studium in Cottbus – mit einem Atelierplatz für jeden Studenten! – bewertet er sehr positiv. In Ergänzung zu den traditionellen DDR-Hochschulen für Architektur in Dresden, wo Technologieforschung auch zu DDR-Zeiten auf internationalem Niveau betrieben wurde, in Weimar mit der Bauhaustradition und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee ist die BTU Cottbus nach der Wende aus einer Ingenieurschule hervorgegangen. Hier werden heute mit interdisziplinär strukturierten Kompetenzzentren wie dem neu gegründeten für schwimmende Architektur Erfahrungen für die Aufgaben der Zukunft gesammelt.
Ein Pfund, mit dem die Städte der ehemaligen DDR heute wuchern können, sind die instandgesetzten Innenstädte meist in angemessener Farbgebung und mit beachtlicher zeitgemäßer Ergänzung wie der Markt in Senftenberg, vorausgesetzt Wettbewerbe ebnen den Weg und Impulse von außen können fruchtbar wirken wie auch in Chemnitz, wo mit Großinvestitionen eine zeitgemäße Innenstadtentwicklung auf dem Vorkriegsgrundriss möglich wurde. Der Stadtplaner Rolf Kuhn, der am Bauhaus das Institut für Urbanistik gründete, um den Wildwuchs der Nachwendezeit einzudämmen, und jetzt die IBA-See in Großräschen begleitet, ist überzeugt: Das Potenzial und das Umfeld für nachhaltige bauliche Entwicklungen sind vorhanden. Das zeigt sich auch beim intelligenten Umgang mit industriell erstelltem Massenwohnungsbau, einem Feld, auf dem eine weltweite Alleinstellung erreicht wurde. Die unter gestalterischen wie sozialen Aspekten behutsamen Konzepte für Plattenbauten, wo modernisiert wird, ohne den Charakter zu kaschieren, zurückgebaut oder demontiert, um mit dem gewonnenen Material weiter zu arbeiten, haben ein Experimentierfeld eröffnet, das noch bisher ungedachte Ergebnisse zeitigen wird.
Der Stadtplaner und Stadtforscher Bernd Hunger, Mitinitiator des Preises für kosten- und flächensparenden Wohnungsbau und der Aktion »Soziale Stadt«, benennt als verhängnisvolle Fehlentscheidungen, dass nach 1990 Sonderabschreibungen ohne städtebauliches Regulativ möglich wurden, was überdimensionierte Versorgungseinrichtungen, Gewerbegebiete u.v.a. begünstigte, und dass Rückgabe vor Entschädigung rangiert. So blieben aus Verunsicherung vorhandene Ressourcen vielfach ungenutzt, punktueller Stillstand war die Folge. Sehr positiv hätten sich dagegen die Förderprogramme von Bund und Ländern ausgewirkt, die die Kombination des »Städtebaulichen Denkmalschutz« mit der »Städtebaulichen Weiterentwicklung großer Neubaugebiete« sowie den Programmen »Soziale Stadt« und »Stadtumbau« zulassen.
Eine neue Phase im Städtebau zeichnet sich ab in Form von Zwischennutzung und Renaturierung, denn nur mit Qualitätsgewinn in neuen Freiräumen macht Stadtumbau Sinn. Das neue Baugesetzbuch lässt befristete Nutzungen zu, ohne dass das Ziel der baulichen Entwicklung beeinträchtigt wird. Beispiele insbesondere aus Leipzig dokumentieren, dass es sogar Spaß machen kann, sich gemeinsam nach der Decke zu strecken.

Aktuelles Heft
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de