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Das Kulturzentrum Reuchlinhaus in Pforzheim von Manfred Lehmbruck

… in die Jahre gekommen
Kulturzentrum Reuchlinhaus in Pforzheim, Manfred Lehmbruck, 1957-61

Kulturzentrum Reuchlinhaus in Pforzheim, Manfred Lehmbruck, 1957-61
Das Reuchlinhaus wurde Anfang der sechziger Jahre als Kulturzentrum entworfen und vereinigte Kunstgalerie, Bibliothek, Museum und Ballsaal in einem Ensemble aus vier kubischen Baukörpern. Nachdem für einige der ursprünglichen Nutzungen Neubauten an anderer Stelle entstanden waren, verlor das Haus an Bedeutung – die räumliche wie gestalterische Aufwertung der verbliebenen Schmuckpräsentation soll dies ausgleichen.
The Reuchlinhaus was designed in the early 1960s as a cultural centre and combined art gallery, library, museum and ballroom in an ensemble of four cubic building forms. Following erection of new buildings for some of the original usages in other places the house lost its significance, which was to be compensated by the spatial as well as conceptual enhancement of the jewellery presentation.

Text: Rüdiger Krisch
Fotos: Bernhard Friese

Die spezifischen Gebäudetypen für einzelne Sparten der Künste und der Kultur sind uns geläufig: Schauspiel- und Opernhäuser, Bibliotheken, Archive, Ausstellungshallen, … und vor allem zahllose Museen. Nach multifunktionalen Kulturbauten muss man hingegen länger suchen. Ein Beispiel aus der frühen Nachkriegszeit findet sich in der südwestdeutschen Provinz, an der Grenze zwischen Baden und Württemberg.
Im Februar 1945 fiel das Zentrum der Industriestadt Pforzheim fast vollständig einem Bombenangriff zum Opfer. Dabei ging nicht nur die Bausubstanz, sondern auch ein Großteil der Bestände städtischer Kultur verloren. Vor diesem Hintergrund entstand bald nach Kriegsende die zukunftsweisende Idee, mehrere kulturelle Einrichtungen in einem neuen Gebäude zusammenzufassen. Der Gewinner des schon 1953 ausgelobten Wettbewerbs, der Stuttgarter Architekt Manfred Lehmbruck (1913– 92) formulierte das Konzept so: »Malerei, Plastik, Kunstgewerbe, das geschriebene und gesprochene Wort sowie Kammermusik sollen hier ihre Heimstatt finden.« Ab 1957 wurde das Gebäude auf einem Grundstück am Stadtgarten realisiert, zu seiner Fertigstellung 1961 erhielt es den Namen des berühmtesten Sohnes der Stadt, des Gelehrten Johannes Reuchlin (1455–1522). Das Reuchlinhaus ist das erste von drei Projekten¹, in denen Lehmbruck seine langjährige wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bauaufgabe Museum in gebaute Form umsetzen konnte.
Seine schriftlich formulierten Theorien² zu Wegeführung und Spannungsaufbau in Museen hatten zweifellos einen Einfluss auf das Entwurfskonzept, das jeder Nutzung einen eigenen Baukörper zuwies: Der kleinste, ein rundum geschlossener, mit grob geschnittenen Platten aus lokalem Sandstein verkleideter Kubus, enthielt ursprünglich das städtische Heimatmuseum. Westlich davon befand sich die Stadtbücherei in einem lang gestreckten, zweigeschossigen Quader, dessen Erscheinung von großflächig verglasten Fassaden und grob geschaltem Sichtbeton geprägt wird. Südlich schließt sich ein weiterer, größerer und höherer Kubus an, der als stützenfreies Stahlskelett konstruiert und nach außen vollständig verglast ist. Darin befinden sich die Ausstellungshalle des Kunst- und Kunstgewerbevereins und darunter der Vortrags- und Kammermusiksaal. Ein dritter Kubus in der Südostecke des Gebäudekomplexes bildet den Kern des Schmuckmuseums. Durch seine gerasterte Fassade aus profilierten Gläsern und skulptural gegossenen Aluminiumtafeln hat dieser Baukörper zweifellos die extravaganteste Außenwirkung. Der angehobenen Eingangsterrasse entlang der Bücherei steht ein in den Park eingelassener, geschützter Tiefhof zwischen Ausstellungshalle und Schmuckmuseum gegenüber, der den Veranstaltungssaal und eine weitere kleine Galerie mit natürlichem Licht versorgt.
Die einerseits im Material sehr unterschiedlichen, andererseits sorgfältig in ihrem Verhältnis zueinander komponierten und aufeinander abgestimmten Quader werden von der zentralen Halle zusammengehalten, in deren Mitte eine frei stehende, durch die radiale Schalung der Sichtbetondecke zusätzlich inszenierte Stahl-Wendeltreppe die beiden Hauptgeschosse spannungsvoll miteinander verbindet. Von dort ist zwischen den Baukörpern in alle Himmelsrichtungen ein Blickbezug in den Park geboten, was den Besuchern die Orientierung im Gebäude sehr erleichtert.
Sämtliche Bauteile waren anfangs mit einem Einrichtungssystem aus Büromöbeln, Bücherregalen und verschiedensten Vitrinentypen ausgestattet, das Lehmbruck speziell für das Reuchlinhaus entworfen hatte und später in Zusammenarbeit mit der Herstellerfirma in Kleinserie vermarktete. Besonders bemerkenswert war das modulare Präsentationssystem des Heimatmuseums aus Stellwänden und schräg montierten Ausstellungstafeln, das leider nicht erhalten ist. Darüber hinaus begeisterten die heute noch vorhandenen filigranen, von innen beleuchteten Vitrinen im Schmuckmuseum, die teilweise frei stehend am Boden, teilweise effektvoll hängend von der Decke montiert sind. In die raumhaltige Fassade sind weitere Vitrinen integriert, die ursprünglich tagsüber durch das von außen einfallende Tageslicht erhellt wurden, nachts dagegen die künstlich beleuchtete Präsentation nach außen erkennbar machten. Die im Dunkel des umgebenden Raumes scheinbar schwebenden leuchtenden Quader wecken bei manchen Betrachtern die Assoziation des damals gerade beginnenden Raumfahrt-Zeitalters.³
Allerdings erweisen sich gerade die damals innovativen Vitrinen in der täglichen Nutzung als sehr empfindlich und kaum zu sichern – für eine wertvolle Schmucksammlung ein schweres Manko. Daher wurde die zweischalige Fassade im Zuge einer Sanierung geschlossen, der attraktive Lichteffekt zwischen Innen und Außen dadurch zerstört. Insgesamt verträgt sich der hohe Anspruch des Architekten an Gestalt und Detail oft nicht mit den Anforderungen der Nutzung und des Gebäudeunterhalts. So führt das Fehlen eines außen liegenden Sonnenschutzes in sämtlichen Gebäudeteilen zu sehr unsteten und schwierigen klimatischen Bedingungen, denen bestimmte Ausstellungsgüter aus konservatorischen Gründen nicht ausgesetzt werden dürfen. Die gigantischen Scheibenformate (bis zu 25 m²) lassen sich selbst mit enormem Aufwand an Kosten und Logistik kaum auswechseln, und jeder Kompromiss bei den bisher erfolgten Sanierungen – z. B. die Einführung von Fensterrahmen beim Austausch der ursprünglich rahmenlosen Verglasung zwischen Foyer und Tiefhof – beeinträchtigt die Erscheinung des Hauses erheblich.
Schwerer als derartige reversible Details wiegt ein grundlegendes konzeptionelles Problem: Die Aufteilung der Funktionen in einzelne Baukörper war weniger städtebaulich als typologisch motiviert. Dass jedes der Glieder sowohl in der funktionalen Belegung als auch in der gestalterischen Durcharbeitung mit seiner jeweiligen Funktion identifiziert ist, macht zweifellos die gestalterische Kraft des Reuchlinhauses aus. Allerdings ist dieses Guthaben später zu einer Hypothek geworden.
So begann der Exodus der Institutionen bereits in den achtziger Jahren, als das Heimatmuseum eigene Räumlichkeiten bezog, und setzte sich Ende der neunziger Jahre mit dem Auszug der Stadtbücherei in einen geräumigen Neubau fort. Nur das Schmuckmuseum und die Ausstellungshalle blieben im Reuchlinhaus zurück, letztere bis heute baulich praktisch unverändert. Der ursprünglich als Heimatmuseum genutzte Kubus beherbergt seitdem die Wechselausstellungen des Schmuckmuseums, der größte Einzelbaukörper der bisherigen Stadtbücherei wird derzeit nach Entwürfen des Stuttgarter Architekten HG Merz angemessen und detailgetreu generalsaniert und sensibel neu gestaltet. Dieser Bauteil wird mit seinem maßgeschneiderten, teilweise von Lehmbrucks Prinzipien abgeleiteten Innenausbau ab März 2006 ebenfalls der Schmucksammlung zur Verfügung stehen. An seiner Stirnseite, publikumswirksam der Straße zugewandt, entsteht im Erdgeschoss als Ergänzung des Nutzungsspektrums ein Restaurant mit Bar, das unabhängig von den Öffnungszeiten des Museums betrieben werden kann.
In diesen Nutzungsverläufen bestätigt sich einerseits die Alltagstauglichkeit der vom Architekten angestrebten Wandlungsfähigkeit, andererseits stellt der inzwischen weitgehend monofunktionale Charakter das Gebäudekonzept der gruppierten Kuben doch grundsätzlich in Frage. Die interne Verteilung der Nutzungen in den verschiedenen Baukörpern des Schmuckmuseums scheint zwar derzeit geregelt. Allerdings ist eine wechselseitige Flexibilität zwischen den Präsentationseinheiten durch die gemeinsame, aber auch trennende Eingangshalle nur eingeschränkt möglich.
Das Reuchlinhaus steht heute nicht nur unter Denkmalschutz, sein baulicher Zustand ist auch durchaus erfreulich. Es ist bei den politischen Entscheidungsträgern der Stadt Pforzheim, den Fachbehörden der Stadtverwaltung und bei den mit dem aktuellen Umbau befassten Architekten offenbar in guten Händen. Schön, dass es angemessene Wertschätzung erfährt in einer Stadt, die sich immer mehr auf ihre kulturelle Substanz aus der Nachkriegszeit besinnt. Schade allerdings, dass es kein wirklich multifunktionales Kulturgebäude mehr ist. R. K.
¹ Die beiden anderen wurden bereits in dieser Rubrik besprochen: Federsee-Museum, Bad Buchau (1959–68), siehe db 1/1990; Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg (1956–64), siehe db 1/2001
² Verwiesen sei hier auf Lehmbrucks Dissertation zum Thema »Grundsätzliche Probleme des zeitgemäßen Museumsbaues« aus dem Jahr 1942 und seine späteren Texte »Museum Architecture« (publiziert auf 140 Seiten im Heft 3./4.1974 der Zeitschrift museum) und »Freiraum Museumsbau« (in voller Länge abgedruckt in: Andreas Vetter/Rüdiger Krisch (Hrsg.): Manfred Lehmbruck – Architektur um 1960, Baunach, 2005).
³ Siehe dazu den Artikel des städtischen Denkmalpflegers Christoph Timm im Museumsführer des Schmuckmuseums (Stuttgart 2001)
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