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Biomasse aus der Fassade

Biomasse aus Grünalgen: Zwischenbilanz der Leistungsfähigkeit der Bioreaktorfassade eines Gebäudes in Hamburg
Biomasse aus der Fassade

Seit März 2013 produziert das im Rahmen der IBA Hamburg errichtete BIQ-Haus mit seiner Bioreaktorfassade SolarLeaf per Photosynthese Mikroalgen-Biomasse. Bis Anfang 2015 wird beobachtet, wie es um die Nutzerakzeptanz, die Technik und die Effizienz des Demonstrationsbaus bestellt ist. Ein Zwischenbericht.

Text: Martin Pauli und Jan Wurm, Fotos: Arup Deutschland; Colt International; SSC

Mit der Demonstrationsanlage BIQ konnte weltweit zum ersten und bisher einzigen Mal eine 200 m² große Bioreaktorfassade an einem Wohngebäude erfolgreich implementiert werden. Das Fassadensystem SolarLeaf besteht aus vertikalen, geschosshohen und etwa 80 mm tiefen Photobioreaktoren (PBR) aus Glas. In die Fassade integrierte Zu- und Ableitungen versorgen die Hohlräume mit einem wässrigen und CO2-versetzten Nährmedium.
So produzieren die südwestlich bzw. südöstlich orientierten Fassadenelemente durch photosynthetische Umwandlung des einfallenden Sonnenlichts hochwertige Mikroalgen-Biomasse. Zugleich erwärmt der solarthermische Effekt das wässrige Medium in den Reaktoren. Über ein Kreislaufsystem werden sowohl Biomasse als auch solarthermische Wärme in die Technikzentrale des Gebäudes geleitet und dort über einen Wärmetauscher bzw. einen Algenabscheider entnommen. Aufgrund der kurzen Zellteilungszyklen der einzelligen Mikroalgen kann sich die Biomasse im Laufe eines Tages verdoppeln.
Da steigender Algengehalt die Lichttransmission des Fassadenelements reduziert, ermöglicht die gezielte Steuerung des Erntevorgangs außerdem die Nutzung der externen Elemente als dynamischen Sonnenschutz.
Das Monitoring
Die laufenden Untersuchungen adressieren das mittel- und langfristige Ziel, die bioreaktive Fassade in technischer, soziologischer und ökologischer Hinsicht zu optimieren – um das Produkt auch in größerem Kontext erfolgreich am Markt etablieren zu können. Die Komplexität der Technologie bedingt die kontinuierliche Messung diverser Parameter wie die chemische Zusammensetzung des Kulturmediums, der interne Wasserdruck, die Konzentration des Rauchgases sowie Daten zur Produktion und zum Verbrauch von Strom. Diese Parameter werden gemeinsam mit relevanten Klimadaten erfasst und mit visuellen sowie akustischen Parametern, die den Nutzerkomfort beeinflussen, abgeglichen. So soll das Monitoring über entscheidende Fragen Aufschluss geben: Kann das technische System ganzjährig störungsfrei betrieben werden? Kann der Betrieb dahingehend optimiert werden, dass der Nettoenergiegewinn gesteigert wird? Nehmen die Bewohner das technische System positiv wahr? Aufgrund der engen Verknüpfung dieser Fragestellungen finden über einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren Prozessvariationen statt, in welchen jeweils einzelne Parameter variiert und in den Kontext der Gesamtbilanz gesetzt werden.
Prozessvariationen
Das optimale Wachstum der im Medium enthaltenen Grünalgen (scenedesmus obliquus) erfordert eine Betriebstemperatur zwischen 8° C und 38° C. Während der Heizperiode muss also Wärmeenergie in das System eingebracht werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass ein ganzjähriger Betrieb möglich ist, wenn die Erdwärme zum Temperieren des Nährmediums verwendet wird. Im Hamburger Winter 2013/14 wurde im Rahmen einer Prozessvariation geprüft, ob der ordinäre Algenstamm durch einen vorrangig in der Arktis vorkommenden ersetzt werden kann, um die Betriebstemperatur und den Wärmebedarf zu reduzieren. Aufgrund schwankender Temperaturen war eine dauerhafte Kultivierung der Arktisalgen jedoch nicht möglich. Es konnten zudem erhebliche Korrelationen zwischen der energetischen Effizienz der Anlage und der Akzeptanz der Nutzer identifiziert werden. Prozesstechnisch ist es notwendig, das Kulturmedium in den PBR turbulent zu durchmischen, um dem sogenannten Biofouling vorzubeugen. Dies erfolgt durch das Einblasen von Druckluft in die PBR, auch Airlift genannt, wobei die Größe der erzeugten Blasen und die Periodizität des Einblasens die Turbulenz steuert.
In der ursprünglichen Auslegung der BIQ-Anlage wurde für die Erzeugung der Druckluft ein Drehschieberverdichter eingebaut, der einen konstanten Volumenstrom erzeugte. Es zeigte sich allerdings deutlich, dass nicht immer gleichmäßig viel Druckluft benötigt wird. Daher ersetzte man diesen Verdichter durch einen frequenzgeregelten Verdichter. Mit diesem wurde es möglich, die Druckluftmenge an den Bedarf anzupassen und so etwa 70 % des elektrischen Stroms zu sparen. Zudem konnten die akustischen Emissionen deutlich reduziert und die Zufriedenheit der Nutzer nachhaltig gesteigert werden.
Energetische Bilanz
In Bezug auf die Wärmegewinnung wurde im Rahmen des Monitorings festgestellt, dass deutlich mehr Energie durch die SolarLeaf-Fassade gewonnen wird, als in der Planungsphase simuliert. Somit mussten die Wärmetauscher, die die Wärme aus der Fassade auskoppeln, größer dimensioniert und nachgerüstet werden. Da die Wärmetauscher jedoch erst nach den heißen Sommermonaten 2013 getauscht werden konnten, ließ sich nicht der gesamte Überschuss der Wärmeerträge im Erdreich speichern – damit verschlechterte sich die Gesamtbilanz.
Die Betrachtung der Gesamtenergiebilanz der Anlage ist aufgrund der Vielzahl von Einzelkomponenten und Wirkungszusammenhängen sehr komplex. Aufgrund variierender Umweltbedingungen unterliegen sowohl die Produktion von Algenbiomasse als auch die Produktion von Wärme Schwankungen.
Auf Basis des bisherigen Monitorings lässt sich aber sagen, dass die Konversionseffizienz von Sonnenlicht in Biomassenenergie bei ca. 10 % und in Wärmeenergie bei ca. 45 % liegt. Für den Betrieb der Anlage wurde im Zeitraum September 2013 bis Juli 2014 ein Gesamtstromverbrauch von 34 kWh/m² gemessen. Kurz- bis mittelfristig kann dieser Wert über eine angepasste Prozessführung, beispielsweise durch Reduktion des Pumpenstroms noch weiter reduziert werden. Darüber hinaus werden Teile des Energiebedarfs bereits jetzt über eine Photovoltaikanlage gedeckt. Der Gesamtwärmegewinn lag im Bilanzzeitraum bei etwa 70 kWh/m2 und liegt damit über dem Gesamtstromverbrauch. ›
Mehrwert Mikroalgen
Rein energetisch ist eine ganzjährige Kultivierung der Algen im norddeutschen Raum kritisch zu sehen. Die Analyse der Zusammensetzung der Algenbiomasse hat jedoch deutlich gemacht, dass es sich dabei um ein außerordentlich hochwertiges Produkt handelt, welches sich für eine Verwendung in der Nahrungsmittel- oder pharmazeutischen Industrie anbietet. Gerade in den Wintermonaten besteht ein Bedarf an frischen Kulturen; zusätzlich ermöglicht ein ganzjähriger Betrieb die teilweise Speicherung von CO2-Emissionen während der Heizperiode.
Zwischenbilanz
Das Monitoring hat bereits bis heute wichtige Erkenntnisse über die Funktionstüchtigkeit und die Optimierung der technischen Komponenten geliefert. Nach über 18 Monaten, in der die Anlage kontinuierlich betrieben und weiterentwickelt wurde, ist die technische Machbarkeit unter Beweis gestellt. Weitere Maßnahmen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit sind geplant. Zudem konnte die energetische Bilanz so weit optimiert werden, dass ein Nettoenergiegewinn realisierbar ist. Die Akzeptanz der Nutzer ist außerordentlich hoch.
Ausblick
Basierend auf den gewonnenen Erfahrungen bietet es sich nun an, die Betrachtung von einem solitären Gebäude auf einen größeren urbanen Kontext zu übertragen. Denn die Herausforderung der Zukunft wird sein, die urbanen Stoffströme stärker im Sinne von biologischen und technischen Kreisläufen zu verstehen. So ließen sich Ressourcen besser nutzen und nahtlos in Gebäude- und Stadtsysteme integrieren. Bezogen auf die Bioreaktorfassade geraten insbesondere Abwasserströme in den Blick, da diese über einen erheblichen Anteil an bisher ungenutzten Nährstoffen verfügen. Zudem kann anfallendes CO2 innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs absorbiert werden. Letztlich ließe sich der Funktionsumfang der bioreaktiven Fassade sogar noch erweitern, indem sie mit der dezentralen Abwasserentsorgung gekoppelt wird. Langfristiges Ziel sollte daher sein, die Technik zur Realisierung smarter, energieautarker Stadtcluster einzusetzen. •
Standort: Am Inselpark 17, Hamburg-Wilhelmsburg, www.biq-wilhelmsburg.de Bauherr: Otto Wolf Bauunternehmung, Hamburg und SSC Strategic Science Consult, Hamburg Architekten, Gebäude: Splitterwerk Architects, Graz SolarLeaf – Konzept, Design und Engineering: Arup Deutschland, Berlin; Colt International, Kleve; SSC Strategic Science Consult, Hamburg Monitoring: Arup; Colt; SSC; HafenCity Uni- versität Hamburg Projektförderung: Forschungsinitiative ZukunftBau, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Wohneinheiten: 15 mit 50-120 m²

Energie (S. 70)

Martin Pauli
Architekturstudium im In- und Ausland, Diplom an der TU Berlin. Während des Studiums Mitarbeit als Werkstudent bei Arup im Materials Consulting Team, heute dort als Architekt tätig.
Jan Wurm
Bis 2008 Mitarbeit bei Arup in London als Projektleiter, heute u. a. Leitung der Materialgruppe in Europa. Forschungsarbeiten zur konstruktiven Verwendung von Glas, Autor des Buchs »Glastragwerke« (Birkhäuser).
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