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Zwischen Lethargie und Hyperaktivität

David Moed, seit 2004 in riga, lettland
Zwischen Lethargie und Hyperaktivität

Lettland ist so groß wie Irland, hat insgesamt so viele Einwohner wie Rom und befindet sich derzeit in einer Phase von geradezu explosionsartigem wirtschaft- lichen Aufschwung. Mit zehn Prozent verzeichnete das Land an der Ostsee 2005 die höchste Wachstumsrate aller EU-Staaten. In dieser Aufbruchsstimmung fehlt es an Architekten und Ingenieuren sowie an verbindlichen Regelwerken und Vorgaben. Ausländischen Planern mit Erfahrung bieten sich hier Freiheiten, Herausforderungen und (noch) ein wenig Abenteuer.

Text: Roland Pawlitschko Fotos: David Moed, Roland Pawlitschko

Besser als jede wissenschaftliche Studie erklärt dies der Taxifahrer auf der zwanzigminütigen Fahrt vom Flughafen Riga in die Innenstadt. Vor vier Jahren, erzählt er, habe er für umgerechnet 8 000 Dollar ein 17 Hektar großes Grundstück mit Ferienhaus im Osten Lettlands gekauft und es – vollkommen unangetastet – vor Kurzem für 32 000 Dollar weiterverkauft.
Solche spekulativen Geschäfte hatte der niederländische Architekt David Moed nicht im Sinn, als er vor drei Jahren in die lettische Hauptstadt Riga übersiedelte. Für ihn waren ganz private Gründe ausschlaggebend, lebte er doch schon seit einiger Zeit mit einer Lettin zusammen. Die gemeinsame Entscheidung für einen Wohnsitz in Lettland war jedoch auch von beruflichen Überlegungen geprägt. Nach einem Bauingenieurstudium an der HTS Leeuwarden und einem Aufbaustudim Architektur der Academie van Bouwkunst in Amsterdam hatte der 1965 geborene Moed erst in Haarlem und später in Drachten in Architekturbüros gearbeitet und dort als Projektmanager in erster Linie administrative Aufgaben wahrnehmen müssen. Da dies mit seiner persönlichen Vorstellung von Architektur als Disziplin mit gestalterischem und soziokulturellem Anspruch so gut wie nichts mehr zu tun hatte, erhoffte er sich von dem Wechsel in die Stadt an der Ostseemündung auch beruflich neue Perspektiven.
lettland – das leben so wie es sein soll!?
Inzwischen lässt Moed keinen Zweifel daran, dass er für immer in Lettland bleiben will und möchte hierzu nun endlich auch Lettisch lernen – wenngleich er mit Englisch bislang sehr gut zurecht kam. »Hier ist das Leben so, wie es sein soll«, schwärmt er im Hinblick auf die wunderbaren Naturlandschaften Lettlands, aber auch im Hinblick auf die Unwägbarkeiten: »Wenn man bei uns zuhause ein Projekt beginnt, weiß man genau, was passieren wird, hier nicht.« Das Leben in Lettland ist aus seiner Sicht ein überaus anregender Gegensatz zwischen Lethargie und Hyperaktivität, zwischen Entschleunigung und Wild-West.
Lettland, so Moed, wird heute nicht nur von überhitzter Aufbruchstimmung bestimmt, sondern vor allem von einer tief verwurzelten stoischen Gelassenheit und der felsenfesten Zuversicht, dass sich alles schon irgendwie regeln lasse. Die Menschen dort sind es gewohnt, ›
› in Ruhe abzuwarten. Seit der Gründung Rigas als deutscher Hansestadt vor 800 Jahren war Lettland stets Spielball der europäischen Großmächte, insbesondere Deutschlands und Russlands. Seine erste politische Unabhängigkeit erlebte es in den Jahren 1918–1940, woraufhin 50 Jahre sowjetischer Okkupation folgten. Die Herausbildung einer eigenen Identität ist für die erst 1990 neu gegründete Republik Lettland daher längst nicht abgeschlossen, was insbesondere auch für die Bereiche Architektur und Städtebau zutrifft.
ausländische erfahrung willkommen
Bis heute gibt es an Lettlands Universitäten keine Ausbildungsangebote für Stadt- oder Raumplaner. Also verwundert es nicht, dass es an infrastrukturellen und städtebaulichen Planungsinstrumenten ebenso mangelt wie an einer gestalterischen, denkmalschützerischen oder gar ökologisch nachhaltigen Planungskultur. Deshalb sind Baubehörden dankbar, wenn ausländische Architekten ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen und umsetzen. Bei einem deutschen Wohnungsbauprojekt der HVB Bank Latvia beispielsweise wurde in Ermangelung geeigneter lettischer Gesetzesvorlagen einfach die Erfüllung gültiger deutscher Bauvorschriften gefordert. Tatsächlich ist mit nachvollziehbaren Argumenten vieles verhandelbar, was in Deutschland oder den Niederlanden an der vorbeugenden Regulierungswut der Bürokratie und der mangelnden situationsbezogenen Flexibilität der Beamten scheitert. Natürlich ist ein solches Entgegenkommen anfällig für Korruption und Missbrauch. Und deshalb können so fragwürdige Spekulationsobjekte wie das »Panorama Plaza« entstehen, ein Ensemble aus vier 30-geschossigen Wohntürmen nebst Shopping Mall mitten im Niemandsland rund um den Flughafen. Gleichzeitig ist es diese Aufgeschlossenheit, die engagierten Architekten gute Chancen auf Verwirklichung ihrer Architekturkonzepte eröffnet.
Als David Moed nach Riga kam, geriet er zufällig an Zaiga Gaile – eine der bekanntesten lettischen Architektinnen. Ihr Büro ist meist für Bauherren tätig, die neben dem notwendigen Kapital auch einen gewissen kulturellen Anspruch haben. »Wir bauen nicht für die normalen Letten«, räumt Moed ein, und tatsächlich hätten diese mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von nicht ganz 400 Euro auch nicht das notwendige Geld. Er selbst verdient etwas über 1000 Euro. Das ist zwar selbst für lettische Verhältnisse nicht gerade opulent – andere Architekten verdienen durchaus mehr –, dafür verfügt er bei der Planung seiner Projekte aber über weitreichende Freiheiten und kann seine architektonischen Vorstellungen mit solventen, aufgeschlossenen Bauherren verwirklichen. Eine Aufgabe, auf die sich »Zaigas Gailes Birojs« spezialisiert hat, ist die Sanierung der unzähligen klassizistischen Holzhäuser, die das Stadtbild von Riga mitprägen. Finden die historischen Hanse- und Jugendstilbauten ›
› längst allgemeine Anerkennung – die fast vollständig sanierte mittelalterliche Altstadt Rigas steht seit 1997 auf der UNESCO Weltkulturerbeliste –, beginnt man erst jetzt, den einst aus dem Abfallholz der Flössereibetriebe gebauten Holzhäusern Aufmerksamkeit zu schenken. Meist eingeklemmt zwischen mächtigen Steinbauten wurden viele der meist zweigeschossigen Gebäude noch bis vor wenigen Jahren illegal niedergebrannt, um Platz für lukrative Wohn- und Geschäftshäuser zu schaffen. Inzwischen werden die Holzhäuser für finanzkräftige Bauherren bisweilen sogar mit unglaublichem Aufwand transloziert – etwa aus der Rigaer Innenstadt nach Kipsala, einer durchgrünten Daugava-Insel gegenüber der Altstadt.
Neben der dringend erforderlichen Revitalisierung der alten Stadtkerne und dem Bedarf an hochwertigen Büroflächen besteht eine der wichtigsten Bauaufgaben Lettlands heute in der Sanierung historischer Industriebauten des 19. Jahrhunderts, der Zeit der ersten wirtschaftlichen Blüte des Landes. Das wohl prominenteste Bauvorhaben dieser Art ist die Planung von Rem Koolhaas für das Museum zeitgenössischer Kunst in einer der unzähligen stillgelegten Industriehallen im Hafengebiet Rigas. Etwas kleiner und kleinteiliger ist ein Projekt, das David Moed mit Zaiga Gaile in Liepaja plant, einer Stadt 200 Kilometer westlich von Riga. Dabei handelt es sich um ein Ensemble aus einer erst zur Schuhfabrik umgebauten, dann von den russischen Besatzern militärisch genutzten Likörfabrik sowie einem klassizistischen Holzhaus, das um einen nach ökologischen Prinzipien geplanten viergeschossigen Büroneubau in Holzbauweise ergänzt werden soll.
Obwohl sich die Bausubstanz in desolatem Zustand befindet und es keine Denkmalschutzauflagen gab, konnte der Bauherr, ein privater Investor, überzeugt werden, die Stadtbild prägenden Gebäude zu sanieren, teilweise öffentliche Nutzungen wie Restaurants und Läden vorzusehen und den ursprünglichen Bauzustand wiederherzustellen. Angesichts dieser sensiblen Vorgehensweise genehmigten die Baubehörden weit höhere Grundstücksausnutzung als zunächst vorgesehen. Zur Umsetzung dieses nicht nur für Lettland ungewöhnlichen Holzbaus wird es nicht leicht sein, Planer mit Erfahrung im konstruktiven Holzbau zu finden, weshalb das Büro derzeit nach Projekt- architekten etwa aus Deutschland Ausschau hält. Ebenso schwierig wird es werden, Handwerksbetriebe und Fachfirmen ausfindig zu machen. Nachdem ein Großteil der lettischen Architekten und Handwerker wegen besserer Verdienstmöglichkeiten ins Ausland abgewandert ist, sind hochqualifizierte Fachkräfte rar. So musste Moed beim Bau seines eigenen Wohnhauses in Holz qualifizierte Bauarbeiter aus anderen Landesteilen nach Riga holen, in seiner Wohnung einquartieren und verpflegen.
Zum Schluss erzählt er schmunzelnd von einem beteiligten Bauingenieur, der noch nie etwas von Kältebrücken gehört hat und deutet an, dass die Gebäudesanierung wohl auch in Zukunft eine der Hauptbauaufgaben Lettlands bleiben wird. •
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