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Zur Architektur der Lebensräume

Anforderungen an das Planen für ältere Menschen und demenziell erkrankte
Zur Architektur der Lebensräume

Der Alltag von Architekten ist zumeist von Bauaufgaben für gesunde und belastbare Menschen geprägt. Der steigende Bedarf an Spezialeinrichtungen für ältere und demenziell erkrankte Menschen erfordert jedoch eine dringende Sensibilisierung auch für diese Bauaufgaben, damit bisher noch häufig gemachte Planungsfehler in der Zukunft vermieden werden.

Text: Sibylle Heeg Fotos: Olaf Becker, Karl Amann

Im Jahr 2000 waren ca. 25 % unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt und im Jahr 2040 werden es nahezu 50 % sein. Ältere Menschen werden dann die Hauptnutzergruppe unserer gebauten Umwelt sein. Die Bauaufgaben in diesem Bereich nehmen schon jetzt zu, die Architektenschaft hat die Notwendigkeit erkannt, sich fortzubilden, man besucht Vorträge, bewirbt sich um Preise und versucht, trotz der vielen Einschränkungen durch Vorschriften und Notwendigkeiten gute Architektur zu machen.
Wenn man realisierte und sogar preisgekrönte Projekte aber kritisch betrachtet und sich fragt, ob auf diese neue Herausforderung wirklich angemessen reagiert wird, kommen gelegentlich Zweifel auf. Oft entscheiden sich bei ambitionierten Projekten Architekten und Bauherren im – vermeintlichen – Konflikt zwischen anspruchsvoller Architektursprache und Tauglichkeit für die spezifische Nutzergruppe für den eigenen Geschmack oder das gerade aktuelle ästhetische Repertoire; nicht wissend oder nicht wissen wollend, welche Nachteile damit für die Lebensqualität älterer Menschen verbunden sein können. Offenbar hat sich das bauliche Lösungsrepertoire noch nicht ausreichend auf die besondere Verwundbarkeit dieser Gruppe eingestellt, insbesondere wenn sie körperlich hinfällig sind oder ihr Geist verwirrt ist. Es scheint von den Planungsverantwortlichen oft noch nicht deutlich genug wahrgenommen zu werden, welche Dimension der Wandel zu einer von Älteren dominierten Gesellschaft hat. Die Wichtigkeit von Barrierefreiheit ist dank der intensiven Lobbyarbeit der Behindertenverbände ins Bewusstsein gedrungen und in Vorschriften verankert, darüber hinaus hat aber nur eine kleine Gruppe von Architekten eine gewisse Handlungssicherheit entwickelt.
Eigentlich wissen wir es ja: Im Alter nimmt die Reichweite der Aktivitäten ab, das verfügbare Territorium schrumpft und ist im schlimmsten Fall auf ein Bett im Pflegeheim reduziert. Wenn in dieser sehr klein gewordenen Welt keine Rücksicht auf altersbedingte Veränderungen wie z. B. schlechteres Sehen, Blendempfindlichkeit, schlechteres Hören und die damit verbundenen Schwierigkeiten, sich bei lauten Hintergrundgeräuschen in halligen Räumen zu verständigen, genommen wird, wenn die eingeschränkte Mobilität, die verlangsamte Reaktionsfähigkeit, das erhöhte Sicherheitsbedürfnis oder sogar der Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit durch Demenz einfach ignoriert wird, dann muss man sich ernsthaft fragen, ob wir als Architekten unserer sozialen Verantwortung noch gerecht werden.
Es ist durchaus möglich, eine Architektursprache zu entwickeln, die auf unauffällige, nicht stigmatisierende Weise die altersbedingt reduzierte Leistungsfähigkeit kompensiert und Sicherheit vermittelt und gleichzeitig eine Fülle von Anregungen ohne Überforderung bietet. Es wird dann z. B. wichtig, ein Gebäude so auszubilden, dass die Orientierung leicht fällt. Dies führt nicht zwangsläufig zu sturen, undifferenzierten Grundrissen, sondern kann durch unterschwellig wirkende räumliche Führung, besonders gestaltete Orte, die als »Landmarken« wirken, und durch Blickbezüge zu Referenzpunkten nach außen erreicht werden. Schilder sind, wenn überhaupt, nur dann hilfreich, wenn auf den so elegant wirkenden »Silber auf Glas«-Look verzichtet wird und stattdessen große, kontrastreiche, gut lesbare Schilder in Augenhöhe angebracht werden.
Es wird auch immer wichtiger, bei der Licht- und Farbgestaltung die altersbedingten Einschränkungen des Sehens zu berücksichtigen und nicht nur den Geschmack des Architekten oder Bauherrn. Dann würden die beliebten Allzwecklösungen ›
› von einer differenzierten Lichtgestaltung mit hohem Anteil an blendfreiem indirekten Licht, ergänzt um atmosphärische Leuchten an bestimmten Orten, abgelöst werden. Es wäre eine Modulation der Lichtfarbe und Intensität möglich, die sich auf die Stimmung und den Tag-Nacht-Rhythmus von Pflegeheimbewohnern positiv auswirkt. Ein solches Konzept wurde im Fürstlich Fürstenbergischen Pflegeheim in Hüfingen erfolgreich umgesetzt. Es würden kräftige Farben eingesetzt werden, die auch vom gealterten Auge noch gut wahrgenommen werden können, mit Farb- und Helligkeitskontrasten, wo etwas gut erkennbar sein soll. Der Architekt würde mit Tränen in den Augen, aber mit gutem Gewissen auf voll verglaste Türen verzichten, an die der verzweifelte Nutzer später neckische Scherenschnitte kleben muss, um Unfälle zu verhindern.
Es würde in Pflegeheimen auch keine Flure mit Verglasungen bis zum Boden mehr geben, die für viele Ältere eher Unsicherheit erzeugen, als Geborgenheit zu vermitteln und in denen bei Nacht von der Straße aus demenzkranke Menschen im Nachthemd besichtigt werden können. Ein Flur im Pflegeheim wäre aber auch nicht von einer kafkaesk anmutenden, monotonen Abfolge von Türen geprägt – die vom Personal in seiner Hilflosigkeit mit Ährenkränzen geschmückt werden, – sondern ein räumliches Erlebnis, weil z. B. die Wände das Ausschreiten dynamisch begleiten und mit Farbe sowie Licht strukturieren und immer wieder Ruhepunkte mit attraktiven Blickbezügen anbieten. Oder es würde durch clusterförmige Grundrisse der Aufenthaltsbereich auch für die Erschließung genutzt, so dass es überhaupt keinen typischen Flur mit institutioneller Anmutung gibt.
Treppen in Pflegeheimen hätten Setzstufen und sicher anmutende Geländer – nicht nur dünne Stahlseile –, sie würden an einer Wand entlang geführt werden und Sicherheit vermitteln – und nicht wie eine Flugzeugtreppe frei in den Raum ragen.
Bei der Innenraumgestaltung würde nicht nur die visuelle Wirkung gesetzt, sondern auch die anderen Sinne angesprochen werden und bei der Materialwahl würde auch der haptische Reiz oder – wie exotisch – der Geruch eine Rolle spielen. Es gäbe kein »durchgehendes« Gestaltungskonzept mit gleichartigen Möbeln, Farben und Materialien. Ergänzend zu den notwendigen »Objektmöbeln« wären auch »geschmacklose« Sofas und Ohrensessel geduldet, die an den vertrauten Alltag zu Hause erinnern.
Architekten und Bauherren würden großen Wert darauf legen, dass in größeren Räumen und Fluren schallschluckende Maßnahmen getroffen werden, weil sie vermeiden wollen, dass durch akustischen Stress bei Bewohnern und dem Personal noch größerer Stress erzeugt wird.
Bei Preisgerichten würden nicht nur Sach- und Fachpreisrichter, sondern auch Senioren als Interessenvertreter der künftigen Nutzer mitreden, für die es eine wesentliche Rolle spielen dürfte, ob die Architektur für das neue Pflegeheim irgendeine Assoziation zu einem Wohnhaus zulässt, in dem man den Rest seiner Tage verbringen möchte. Es wäre auch wichtig, dass die Innenraumgestaltung so offen ist, dass ein Stück persönliche Aneignung möglich ist oder sogar nahegelegt wird, und sei es durch ein Hirschgeweih am Lieblingsplatz des passionierten Jägers.
Die Architektur von Pflegeeinrichtungen und Wohnanlagen würde dann wahrscheinlich mehr Bezug nehmen zu den aktuellen fachlichen Konzepten in der Altenhilfe, die sich schon lange von den institutionell geprägten Konzepten wegentwickelt haben und kleinräumige Wohnformen wie z. B. Wohn- oder Hausgemeinschaften präferieren. Es würden in engem Zusammenwirken von Bauherren und Architekten Grundrisse entwickelt werden, die unterschiedliche Nutzungsszenarien ermöglichen, damit nicht schon nach wenigen Jahren aufgrund einer Veränderung der Pflegekonzeption aufwendig umgebaut werden muss. Es würde beispielsweise überlegt werden, wie in einem Gebäudeflügel ohne großen Aufwand eine »Pflegeoase« eingerichtet werden kann, in der Demenzkranke in der letzten Krankheitsphase in Gemeinschaft mit anderen und unter ständiger Präsenz von Pflegepersonal betreut werden können.
Der Freibereich einer Pflegeinrichtung würde mehr an einen Hausgarten erinnern als an eine nach dem letzten Schrei gestaltete abstrakte Komposition und hätte einen altmodischen Gartenzaun, der auf unauffällige Weise davor schützt, dass desorientierte Bewohner das Gelände verlassen. Es gäbe einen Grillplatz, einen Hasenstall, Beerensträucher, Obstbäume und Hochbeete, in denen die Bewohner auch einmal in der Erde wühlen dürfen.
Es würde sich eine Typologie entwickeln, die weniger spektakulär, weniger von architektonischen Leitkonzepten geprägt wäre und es würde das Bestreben sichtbar werden, Wohnorte für ältere Menschen zu einem ganz normalen, vertrauten Lebensraum zu machen. •
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