1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Architektur » Industrie | Gewerbe »

Zeichen und Funktion

Logistikkomplex des IKRK in Satigny (Genf)
Zeichen und Funktion

Eines der Aushängeschilder der Schweiz und ein Sinnbild der Neutralität ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Dessen neuer Logistikkomplex fasst Archiv-, Büro- und Lagerfunktionen unter einem Dach zusammen. Seine vielfach gefaltete Außenhülle besteht aus einer Membran, die Lkw-Planen ähnelt, und spielt damit auf den Transport von Hilfsgütern an, der von hier aus organisiert wird. Die expressive Form ist nicht allein aus der symbolischen Ebene abgeleitet, sondern erfüllt auch ganz praktische Funktionen.

~Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig

  • Architekten: group8 Tragwerksplanung: EDMS ingénieurs
  • Kritik: Christophe Catsaros Fotos: Régis Golay (federal studio)
Am Beispiel des Neubaus im Industriegebiet von Meyrin-Satigny hat das Genfer Architekturbüro group8 die Aufteilung zwischen Funktionalität und Erscheinungsbild gekonnt neu ausgehandelt. Obwohl es sich um ein sehr technisches Gebäude handelt, hat das Logistikzentrum die Industrielandschaft am Flughafen aufgewühlt und völlig verändert. Es verfügt über starke architektonische Ausdruckskraft, die sich jedoch keineswegs zulasten der Funktionalität entfaltet.
Als erstes fällt an dem Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) das geometrische Erscheinungsbild ins Auge. Die drei Hauptelemente des Raumprogramms – Lager, Verwaltung, Archiv – sind zwar rechtwinklig ausgeführt, darüber spannt sich jedoch eine Außenhaut, deren Faltung einer ganz anderen Logik folgt. Mit ihrem Prismenspiel zergliedert sie die regelmäßige Formgebung der Lagerhalle. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, wie überraschend gut Funktion und Form bei der Ausarbeitung des Entwurfs aufeinander abgestimmt wurden. Die den Logistikfunktionen geschuldeten Bauelemente müssen sich nicht verstecken, sondern dürfen am kontrastreichen Spiel, das dem äußeren Gesamtbild seine Struktur verleiht, mitwirken. Tonangebend sind dabei zunächst die LKW-Laderampen an der Fassade; sie fügen sich in den schwarzen unteren Teil des Bauwerks ein, der mit der weißen Hülle kontrastiert. Diese freimütige Darstellung der Zweckorientiertheit rückt die Funktion des Logistikzentrums in den Vordergrund, nämlich den Versand von Medikamenten, orthopädischen Hilfsmitteln und Geräten in Krisen- und Katastrophengebiete.
Das zweite Element – die Büro- und Konferenzräume für die Mitarbeiter, die den Versand organisieren – ist auf der Ebene der Fassadengestaltung ebenfalls wahrnehmbar. Es scheint durch die in drei Reihen verglaste Fläche hindurch. Die Verwendung unterschiedlich stark reflektierender Gläser defragmentiert hier die Einförmigkeit, die Glasfassaden so häufig anhaftet. ›
› Auch das dritte Element, das Archiv des IKRK, hat in der Konzeption des Gebäudes einen bedeutenden Stellenwert, von außen ist es jedoch nicht zu erkennen. Es liegt neben der Tiefgarage eingegraben im UG.
Der unauffällige Gebäudeeingang ist über einen leicht abschüssigen Vorplatz zu erreichen. Auf dem Weg dorthin wird die Funktion der Außenhaut erkennbar. Die über das gesamte Gebäude gespannte Zeltwand, deren weiße Farbe für die Neutralität des IKRK steht, erfüllt einen doppelten Zweck, indem sie zum einen die Luft vor der Fassade zirkulieren lässt und vor direkter Sonneneinwirkung schützt und zum anderen mit ihrem flexiblen Material die geraden Wände der Lagerhalle formal bricht und Dachvorsprünge ausbildet. Das Prismenspiel ist nicht reine Willkür, sondern schafft geschützte Flächen für die Gebäudeöffnungen: Fenster, Laderampen und Eingang. Schwarze Linien, akzentuieren die Kanten der Prismenflächen; es handelt sich dabei um Regenwasserablaufrinnen. Die Außenhaut als maßgebliches Element der hier verwendeten Architektursprache erweist sich damit als ausgezeichnetes technisches Instrument. Sie stellt Wendigkeit, Modulierbarkeit, Anpassungsfähigkeit als Merkmale des Selbstverständnisses des IKRK heraus, ohne deshalb in reine Symbolhaftigkeit abzugleiten.
Im Innern wird in der Raumaufteilung des Verwaltungstrakts ein weiteres Mal eine geschickte Verknüpfung von Zeichen und Funktion erkennbar. Im OG gelangt man zunächst in eine Art Atrium, das auf zwei Ebenen von Büroräumen eingefasst ist. Durch das Glasdach über der gesamten Fläche fällt Tageslicht in diesen Innenhof. Von hier aus sind zwei Räume unter freiem Himmel zu erreichen: ein kleiner, quadratischer, abgeschlossener Garten mit dem Firmament als einzigem Horizont und ein lang gestreckter, als Sitzungssaal im Freien dienender Hof.
Als Ausgleich für die repetitiven Reihungen der Einzelbüros sind die gemeinsam genutzten Bereiche großzügig gestaltet. An der Sorgfalt, die die Architekten von group8 auf Gemeinschaftsbereiche verwenden, lässt sich ihre Überzeugung ablesen, dass Architektur das Potenzial hat, als sozialer Kondensator zu wirken. Der Gedanke, Gemeinschaftsräume in Wohn- und Bürogebäuden im Hinblick auf mehr Gemeinsamkeit zu gestalten, reicht zurück auf die Konstruktivisten der 20er Jahre und die Brutalisten der 60er Jahre. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhob eine neue Generation von Architekten unter dem Namen Team 10 die Vorstellung zum Prinzip, dass Gemeinschaftsräume als lebendige Orte zu verstehen sind, in denen Menschen einander begegnen und gemeinsam etwas tun. Die Gruppe Team 10, die immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, den CIAM aufgelöst zu haben, bemühte sich bereits in den 50er Jahren darum, dem Hygienismus und der Sterilität des vorherrschenden Funktionalismus etwas entgegenzusetzen. Man stand zwar zu den Maßstäben und Grundannahmen der Moderne, versuchte aber Elemente einzuführen, die ein gewisses Maß an Geselligkeit möglich machten.
Die planerische Entscheidung, ins Zentrum der Lagerhalle des IKRK einen gemeinsam genutzten Raum zu stellen, kann durchaus als Erbe dieser Denkschule gelten. Adrien Besson von group8 verweist im Übrigen ohne Zögern auf Alison und Peter Smithson als mögliche Referenz für die Konzeption.
Zahlreiche Entwürfe von group8 sind von derartigen Überlegungen geleitet. Für denselben Auftraggeber wurde in anderem Zusammenhang ein zur ›
› Stadt hin ausgerichteter Platz vor dem Genfer Sitz des IKRK gestaltet. Die Anordnung konzentrischer Kreise unterstreicht dort die Funktion als öffentlicher Raum. Das quasi-szenografische Anliegen, gemeinschaftlich nutzbare Flächen in den Vordergrund zu stellen, liegt zahlreichen Bauten von group8 zugrunde.
Von der umlaufenden Galerie im Rot-Kreuz-Logistikkomplex fällt der Blick hinunter in den gemeinsamen Raum. An anderer Stelle – in den Räumen des Architekturbüros selbst – wurden 18 Container so gestellt, dass von dort aus der »open space« einzusehen ist, in dem die Mitarbeiter ihrer Arbeit nachgehen.
Signifikanter Minimalismus
Mag das Atrium auch in neutralen Tönen gehalten sein, sind dort doch einige dynamische Kontraste zu finden, beispielsweise das Knallrot der Eingangshalle oder des Treppenhauses. Das Glasdach besteht aus zueinander gegenläufig geneigten Elementen, die Streifen auf den Glasfüllungen brechen die Sonnenstrahlen. Im Laufe des Tages fällt wechselndes Licht ins Atrium und zeichnet strukturierte Kompositionen auf Boden und Wände. Der Innenhof reagiert auf das Wetter und wird so zu einer Art neuralgischem Zentrum, das einen in sich abgeschlossenen Raum mit der Außenwelt in Verbindung bringt. Die Lichtspiele und der reichlich bemessene Platz im Atrium bringen vor dem Hintergrund der Einfachheit und Neutralität des Gebäudes zum Ausdruck, was die Arbeit des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz so wirkungsvoll macht, nämlich die Lebendigkeit der tragenden Kräfte. Dies ist Minimalismus im ursprünglichen Sinn des Wortes. Im Gegensatz zu jenen Minimalismen, die ins Luxuriöse ausarten, geht es group8 darum, sich von allem Überflüssigen zu befreien und nur das Wesentliche zu bewahren. Zwischen notwendigem Verzicht auf gestalterische Mittel in den Lager- und Archivbereichen und der zum Prinzip erhobenen klösterlichen Einfachheit der Büroräume ist es den Architekten gelungen, in dem Gebäude doch recht unterschiedliche Welten unter einer gemeinsamen Sprache zu versammeln.
Die Wabenpaneele innen an den Galerien und Wänden des Atriums haben wie die weiße Außenhaut eine gebäudetechnische Funktion, nämlich, hinter einer einheitlichen Fläche Beleuchtung, Rohrleitungen und Kabelführungen zu verhüllen.
Seine einleuchtende Fortsetzung findet der Innenhof im Garten, der ebenfalls ganz auf sich selbst bezogen und zum Himmel offen ist. Dies ist die wohl einzige Schwäche in der Gesamtkonzeption: Es fehlt auf der Gartenebene ein »Fenster« nach außen. Dem Atrium verleiht die Abgeschlossenheit Ruhe und klösterliche Abgeschiedenheit, dem Gärtchen bekommt sie nicht. Hier vermittelt sie keine Sicherheit, sondern wirkt eher beklemmend. Der Wille zur Abkapselung des Gebäudes stößt hier an seine Grenze.
Bautechnisch hat der Logistikkomplex wesentlich mehr zu bieten als die neutrale Fassade zunächst vermuten lässt. Das Tragwerk der Lagerhalle mit den großen Spannweiten ist aus Metall, der Rest ist eine Betonkonstruktion. ›
› Insgesamt lastet das Gebäude auf rund 30 Pfählen, die zur geothermischen Energiegewinnung herangezogen werden. Die hohen Standards des IKRK gewährleisten die Verwendung von ausschließlich hochwertigem Material und Ausrüstungen beim Bau.
Nüchtern, zweckmäßig und ausdrucksstark ist das neue Logistikzentrum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, es legt die Latte hoch, man hätte es kaum besser machen können. In erster Linie ein Zweckbau und der Öffentlichkeit im Grunde nicht zugänglich ist das bauwerk von der Frage nach dem Stellenwert des gemeinsam genutzten Raums bestimmt. Mit diesem Merkmal bezieht es sich auf die beiden anderen Objekte, die group8 für das IKRK gebaut hat, den Platz und das Konferenzzentrum gegenüber dem Hauptquartier nahe dem Völkerbundpalast. group8 ist es gelungen, für alle drei Objekte eine gemeinsame Sprache zu finden, die von baulichen Besonderheiten getragen wird, sich aber auch planerisch niederschlägt als Ausdrucksweise, die diskret genug ist, um verständlich zu sein, und nüchtern genug, um vielerlei Formen der Aneignung zu ermöglichen.


    • Standort: Genf (GE), Adresse darf nicht genannt werden

      Bauherr: Internationales Komitee vom Roten Kreuz IKRK, Genf
      Architekten: group8, Genf
      Mitarbeiter: Adrien Besson, Christophe Pidoux, Grégoire Du Pasquier, Oscar Frisk, Blaise Fontaine, Christiane Reuther, Bérengère Tobler, Isabel Noronha, Delfina Degliantoni, Nikolaj Callisen Friis, Elias Boulé, Olivier Bolay, Hendrik van Boetzelaer Tragwerksplanung: EDMS ingénieurs, Petit-Lanc
      Projektmanagement: CBRE, Genf
      HLS-Planung: Zanetti Ingénieurs-Conseils, Petit-Lancy
      Fassadenplanung: BCS, Neuchâtel
      Bauphysik: Archiwatt, Genf
      Nutzfläche: 11 500 m² BRI: 74 300 m³
      Baukosten: keine Angabe
      Bauzeit: August 2009 bis September 2011
    • Beteiligte Firmen: Rohbau: Construction Perret, Satigny, www.cpsa.ch
      Erdarbeiten, Gründung: Implenia, Onex, www.cpsa.ch
      Metallkonstruktion, Fassade: Sottas, Bulle, www.cpsa.ch
      Schlosserarbeit: Alfer Constructions, Vernier, www.cpsa.ch
      Membranbau: HP Gasser Membranbau, Les Ponts-de-Martel, www.cpsa.ch
      Planen: Ferrari textiles, La Tour du Pin, www.cpsa.ch
      Doppelfenster: E.V.M. nv, Menin, www.cpsa.ch
      Brüstungspaneele (makustik): Akustik & Raum, Olten, www.cpsa.ch Zugangskontrolle: Tyco, Meyrin, www.cpsa.ch Beleuchtung: Zumtobel, Le Lignon, www.cpsa.ch Aufzüge: Kone, Sion, www.cpsa.ch Lagertechnik: Jungheinrich, Hamburg, www.cpsa.ch

Genf, Logistikkomplex des IKRK (S. 18)


group8


2000 Gründung des Architekturbüros durch neun Partner. Zusammenarbeit mit in Genf ansässigen internationalen Auftraggebern wie WTO und Rotem Kreuz. 2007 Gründung von group8asia in Hanoi (Vietnam).
Christophe Catsaros
1973 geboren. Chefredakteur der Zeitschrift Tracés für Architekten und Ingenieure, Lausanne. Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Cambrai (F).
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel
2 Saint Gobain Glass
Eclaz
3 Moeding Keramikfassaden GmbH
Alphaton

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de