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Wallfahrtskirche in Velbert-Neviges von Gottfried Böhm

… In die Jahre gekommen
Wallfahrtskirche in Velbert-Neviges

Das größte Kirchenbauwerk nördlich der Alpen nach dem Kölner Dom ist ein Monolith der vielen Bilder: Zelt, Fels, Kristall, Grotte, Burg, Bunker – doch keines der Bilder trifft den Kern dieser einzigartigen Kirche und ihres Ensembles, das die Menschen unvermindert anzieht. In der Orientierung auf das individuelle »Erlebnis« war es seiner Zeit weit voraus.

    • Architekt: Gottfried Böhm

  • Kritik: Christoph Gunßer
    Fotos: Arved von der Ropp, Roel Backaert, Xavier de Jauréguiberry
Das Preisgericht sah in Gottfried Böhms Entwurf für Neviges seinerzeit eine »Übersteigerung ins Manieristische« und warnte davor, »dass Bewohner und Betrachter in eine künstliche Welt gezwungen werden«. Nur der Intervention des Erzbischofs war es zu verdanken, dass auch Böhm neben den Preisträgern Kurt Faber, Joachim und Margot Schürmann sowie Alexander von Branca mit ihren konventionelleren und gewiss »sachlicheren« Entwürfen zur Überarbeitung aufgefordert wurde. Sein Konzept eines skulpturalen Zentralraums auf freiem polygonalem Grundriss, beschirmt von einem mächtigen Faltdach, übt tatsächlich eine fast magische Wirkung aus.
Böhm hatte sich mit seinem Betonbau über wesentliche Festlegungen des Wettbewerbs hinweggesetzt und die Kirche an der höchsten Stelle des Geländes platziert. So führt heute der Pilgerweg durch die engen Gassen der Stadt im weiten Bogen um das Ziel herum, wobei sich der maßstabslose, abstrakte Baukörper im Wechsel zeigt und verbirgt. Schließlich biegt der Weg in die von Wohnzellen gefasste Via Sacra ein, die, stetig ansteigend, von Platanen gesäumt, auf dem Platz zu Füßen des rätselhaften Gebildes mündet. Enge und Weite, Klein und Groß, Verspieltes und Erhabenes hat der Bildhauer-Architekt meisterlich kontrastiert und bereits als Entwurf in kräftigen Kohlestrichen suggestiv zu Papier gebracht.
Bollwerk des Katholizismus
Solche Dramatik entsprach ganz den Vorstellungen von Josef Kardinal Frings, dem kunstsinnigen Kölner Erzbischof, der sich hier in der bergischen Diaspora ein mächtiges Zeichen wünschte, ein Bollwerk des Katholizismus und der Marienverehrung. Waren die anderen Architekten zu dieser Zeit noch gespalten zwischen Mies´scher Nüchternheit und einer neuen Freiheit à la Ronchamp, so konnte Gottfried Böhm auf langjährige Erfahrungen bauen: Als Sohn des Kirchenbauers Dominikus Böhm hatte er zu dieser Zeit bereits an die 60 Kirchen im Kölner Raum realisiert, und hatte früh den Wandel bemerkt der sich in der katholischen Kirche im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils vollzog. An die Stelle starrer Konventionen sollten im Kirchenbau neue Formen, Originalität, bewusste Andersartigkeit treten.
34 m hohes Faltwerk: 7500 t Beton und 510 t Bewehrung
Nach geringfügigen Änderungen an seinem Entwurf bekam Böhm 1964 den Bauauftrag. Mag heute die Kalkulation derartiger Faltwerke dank entsprechender Rechenprogramme kein Problem mehr sein, so stellte der Bau der eigenwilligen Konstruktion damals eine große Leistung dar. Der Architekt hatte zuvor schon mehrere kleinere Betonfaltdächer auf polygonalem Grundriss realisiert, deren Tragwerksplaner Felix Varvick aus Köln, er auch hier zu Rate zog. Ein aufklappbares Arbeitsmodell im Maßstab 1:50, an dem mit Plastilin Ergänzungen vorgenommen wurden, diente der Präzisisierung der Innenraumwirkung. Die Werkplanung selbst fand mehr oder weniger auf der Baustelle statt. So entschied Böhm erst während der Bauphase, aus Kostengründen das Dach wie die Wände einschalig auszuführen – schließlich handelte es sich um eine »Sommerkirche« für Pilger. Die geplante Dämmschicht aus Foamglas entfiel, die Betonüberdeckung der Bewehrung wurde lediglich etwas stärker dimensioniert. Zwar wurden die 25 cm dicken Decken in wasserdichtem Beton gegossen, aber man hatte, wie sich bald zeigen sollte, dessen bauphysikalische Fähigkeiten überschätzt.
Platz für individuelles Staunen
Im Mai 1968 weihte der Erzbischof »seine« Wallfahrtskirche mit 7 000 Pilgern in einem großen Fest. Das Medienecho war enorm, die Zahl der Pilger über die ersten Jahre hoch: Rund 200 000 Menschen kamen jährlich in Gruppen angereist.
Die für den Betrieb der Kirche verantwortlichen Franziskaner berichten, im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte habe sich die Besucherstruktur deutlich verändert. Weniger Pilgergruppen und mehr Individualreisende besuchten nun das Gebäude. Das stimmt mit dem allgemeinen Trend zu »individuellerer Religiosität« überein. Ihm wird der »Mariendom« bei aller Erhabenheit mit seinem niederschwelligen Angebot gerecht: vieldeutig in der Metaphorik, ohne ausgeprägt christliche Symbolik, wenngleich die Dekoration der ursprünglich sehr kargen Kirche zugenommen hat und im Jahr 2000 aufgrund horrender Unterhaltskosten (Heizöl für 500 DM pro Tag) eine separat beheizbare »Unterkirche« konventionellerer Prägung eingerichtet wurde. Auch die anfangs beweglichen Klappstühle, die jedem seinen Platz im Gebäude zugestanden, sind zu »ordentlichen« Sitzreihen verkettet und so die Ausrichtung auf den fast ebenerdigen Altar verstärkt.
Undichtes Dach als Dauerthema
Der alltags nur spärlich erleuchtete Kirchenraum trägt fast die naturreligiösen Züge einer »Grotte«. Zu diesem Eindruck mag auch das zeitweise Feuchteproblem im Gebäude beitragen. Durch Baumängel, v. a. aber Umwelteinflüsse (saurer Regen) kommt es im Beton zu Karbonatisierung und Auswaschung. immer wieder dringt Nässe in das Dach ein und gefährdet auch die Bewehrung. Ein Problem, dass bei Sichtbeton aus dieser Zeit immer wieder auftritt. Auch die 1969-73 in Neviges entstandenen, sommers als Jugendgästehaus dienenden Wohnzellen an der Via Sacra mit ihren rund vorspringenden Erkern waren davon bereits betroffen und wirken inzwischen etwas »geflickt«.
Auf das Dach der Kirche wurde bereits in den 70er Jahren ein hellgrauer Kunststoffanstrich aufgetragen, der die »felsige« Anmutung empfindlich stört und auch nicht dauerhaft wirksam ist. Derzeit werden wieder Tests an Teilen des Dachs durchgeführt. Naheliegende Option wäre eine Deckung mit Bleiblechen auf Lattung, ein »normales Dach«, wie es Gottfried Böhm nennt. Der Architekt, 92-jährig weiterhin in den Büros seiner Söhne aktiv, setzt dagegen Hoffnungen auf eine neuartige glasfaserverstärkte Kunststoffbeschichtung, die den monolithischen Charakter besser wahren würde.
Böhm fühlt sich mit der Wallfahrtskirche immer noch stark verbunden und besucht sie regelmäßig. Seit Ende des Kirchenbaubooms in den 70er Jahren realisierte er mit seinem Büro vorwiegend weltliche Gebäude, deren Ausstrahlung an die des Hauptwerks nicht heranreichen. Dass Gottfried Böhm 1986 als bislang einziger deutscher Architekt den Pritzker-Preis erhielt, wird vorrangig seinem sakralen Œuvre und darunter besonders der Kirche in Neviges zugeschrieben. Ihre geheimnisvolle Formensprache wirkt angesichts dessen, was die Hadids, Gehrys und Libeskinds dieser Tage rund um den Globus produzieren, zutiefst verwurzelt, kraftvoll und zeitgemäß. 
  • Standort: Maria, Königin des Friedens, Elberfelder Straße 12, 42553 Velbert

Der Nevigeser Wallfahrtsdom (Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens) »



Christoph Gunßer

1963 geboren. Architekturstudium in Hannover, Stuttgart und den USA. Büropraxis. 1989-92 Assistenz am Institut für Städtebau, Wohnungswesen und Landesplanung, Universität Hannover. 1992-97 in der Redaktion der db. Seit 1998 als freier Fachautor tätig.


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