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»Vorhangfassade«

Zweifamilienhaus in Kronstorf (A)
»Vorhangfassade«

Man könnte das Haus für neu halten: ein Quader wie üblich, ein wenig Sichtbeton, eine Aufmerksamkeit heischende Fassade. Es handelt sich aber um einen Umbau und damit eben nicht um Formalismus, sondern um eine kluge Strategie des Renovierens. Darin liegt die Qualität dieser Architektur, die mit dem Vorhang als Filterschicht die räumliche Beziehung zwischen Innen und Außen neu thematisiert.

    • Architekten: HERTL.ARCHITEKTEN

  • Kritik: Tobias Hagleitner Fotos: Kurt Hörbst
Wer sich auf die Suche nach dem Aichinger Haus macht, der braucht eine gute Portion Glück mit auf den Weg oder ein Navigationsgerät. Die Vogelperspektive auf dem Display zeigt das Städtchen Enns, darunter sanft nach Süden mäandrierend den gleichnamigen Fluss, der Ober- und Niederösterreich voneinander trennt. Parallel daneben verläuft die Straße, liegen Felder und vermeintlich Dörfer. Diese entpuppen sich im realen Raum als uferloser Siedlungsbrei aus Bungalows und Landhausvillen. Die Wege sind nach Sträuchern oder Beeren benannt, es reiht sich Haus an Haus. Die Orientierung ist schon bald verloren. Da bleibt nur, über Zaun und Thujen-Hecke nachzufragen – das »Vorhanghaus« kennt man hier.
Vom Wirtshaus zum Wohnhaus
Das Grundstück ist weitläufiger als die rasterartig parzellierten Baugebiete der Umgebung. Denn im Unterschied zu den benachbarten Einfamilienhäusern, die aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit stammen, hat die Lage unterhalb einer bewaldeten Geländekante Tradition: Schon 1734 gab es hier eine Gaststätte, wohl zur Rast am Weg von Enns nach Steyr. Im Jahr 1978 war von den Eltern des Bauherrn an diesem Standort ebenfalls ein Wirtshaus neu errichtet worden, ein einfaches Bauwerk aus zwei Riegeln mit einem flachen Verbindungstrakt dazwischen. Bis in die frühen 90er Jahre war es bewirtschaftet. Die Auftraggeber wollten ihre Hälfte des geerbten Bestands thermisch sanieren und das EG barrierefrei gestalten. Schlicht und einfach sollte das ›
› Gebäude den neuen Verhältnissen angepasst werden und einer vierköpfigen Familie bei überschaubaren Kosten angenehmen Wohnraum bieten.
»Eins hat das andere ergeben«, meint Architekt Gernot Hertl, »kostentechnische, städtebauliche, gestalterische und sinnliche Ziele müssen einander nicht widersprechen. In diesem Fall konnten sie sogar recht einfach kombiniert werden.« Gemeinsam mit der Bauherrschaft wurde das Vorhaben durchgedacht und etwas ausgeweitet. So war der Zwischenbau nach Besitzteilung überflüssig geworden und konnte abgerissen werden. Der damit aus dem früheren Zusammenhang gelöste Baukörper sollte zusätzlich vom Satteldach befreit werden und stattdessen ein gedämmtes Flachdach erhalten. Im oberen Stockwerk sollten eine Mietwohnung und ein Gästebereich Platz finden, sodass ein eigenständiger Zugang über eine Sichtbeton-Außentreppe mit eingeplant wurde.
Innen wurde nicht mehr als das Nötigste gemacht: Der wirtshaustypische Mittelgang wurde leicht verbreitert, der Wohn- und Essbereich an dessen Ende durch wenige Wandabbrüche vergrößert. Die Fensteröffnungen wurden beibehalten, lediglich im Wohnzimmer bodentief erweitert. Vom Innenputz musste Abschied genommen werden, das jahrzehntelange Rauchen in den Gaststuben hatte auch der baulichen Substanz geschadet. Vom Boden der Gewerbeküche wurden die Fliesen abgeschlagen, die Isolierung der ehemaligen Kühlkammer entfernt. »Das Ablösen und Entsorgen des Polystyrol-Materials war ein besonderer Aufwand«, erzählt der Bauherr – eine wichtige Botschaft an die zeitgenössischen Vollwärmeschützer.
Hat das eine Funktion oder ist das nur Dekor?
Der Solitär war somit innen von unnötigem Ballast befreit, außen abstrahiert zum Quader. Bei der Dämmung der Außenwände entschied man sich aufgrund der Abbruch-Erfahrungen gegen Polystyrol. Allerdings wurde mit dem Rückgriff auf Steinwolle nicht gerade die ökologische Zukunftsvariante gewählt, um die Wärme aus dem Erdkollektor in den vier Wänden zu halten (das Haus entspricht dem österr. Niedrigenergie-Standard). Die Dämmung wird durch eine Unterspannbahn auf Polyacrylbasis geschützt. Die äußerste Schicht der Fassadenlösung lässt jedoch keine Zweifel an der Innovationsbereitschaft von Architekt und Bewohnerschaft zu: Durch bewussten Umgang mit der vorgefundenen Situation und Freude an architektonischer Gestaltungsmöglichkeit ließ sich die ungewöhnliche Idee einer textilen Hülle umsetzen. ›
› Mit dem Fassadenbauer wurde ein Tragsystem aus Gerüstrohren und Guss-Konsolen entwickelt, mittels angenähter Schlaufen wurde das Textil von oben nach unten eingespannt. So kurz, so einfach. »Der Vorhang ist eigentlich nicht spektakulär«, sagt Hertl, dem Schlichtheit wichtig ist, »es ist nur eine ungewohnte Oberfläche, eine simple funktionale Außenhülle«.
Nicht nur der Schutz vor Schlagregen und UV-Strahlung ist »funktional«, die »Vorhangfassade« verbessert an heißen Sommertagen auch das Wohnklima durch die Teilverschattung der Fenster. Als Abwandlung des guten alten Fensterladens, der von Hand geschlossen wird, sollte die Stoffbahn ebenfalls nützlich sein. Das wird aber kaum gemacht, wie die Aichingers gestehen, weil sie es nicht notwendig finden (im Süden und Südosten gibt es innen zusätzlich Jalousien) – vielleicht aber auch, weil die Handhabung des doch sehr straff gespannten Stoffs nicht ganz so zweckmäßig ausgefallen ist. Das muss sie auch gar nicht, denn Architektur beginnt bekanntlich erst so richtig mit den sinnlichen Funktionen.
Vorhang als vielschichtige Identität
Erstens »weicht« der Vorhang die harte Form des neu entstandenen Baukörpers auf. Transluzent verhüllt weckt die im modernen Bauen schon ziemlich abgenutzte Geometrie des Quaders beim Aichinger Haus neues Interesse und beflügelt die räumliche Fantasie. Darüber hinaus erhält das eher derbe Erscheinungsbild der schwarzen Fassadenmembran durch die silbergraue Verpackungskunst eine Veredelung, die in diesem ästhetischen Kontrast noch reizvoller wirkt. Kleine Fassadensprünge und Unregelmäßigkeiten ließen sich zudem komplett verstecken.
Ein zweiter sinnlicher Zweck ist die Schichtung des Bildes: Die vorgespannte Struktur gibt den Blicken aus dem Haus und auf das Haus neue, ungewohnte Ebenen. Außen gibt’s was »zum Schauen«, ohne dass das tiefere Innen preisgegeben wird. Eine außerordentliche Dreidimensionalität entsteht im Fassadenbild. Das fasziniert v. a. abends, wenn das Licht an ist. Es wirkt fast, als würde das Haus selbst den Vorhang zur Seite schieben, um frech hervorzulugen. Die Bewohner können das in jedem Fall: Im Wohnraum bewirkt die äußere Filterschicht zusammen mit den Gardinen innen, die vor die gesamte Außenwand gehängt sind, ein intimes Gefühl der Geborgenheit. Wohltuend unaufdringlich variiert der Bildausschnitt, dezent umrandet vom schwarzen Rechteck der Holz/Alu-Fensterprofile.

Und Sinnlichkeit zum Dritten: »Ein Ort sollte nicht nur aus Opernhäusern bestehen,« sagt Gernot Hertl in sachlichem Humor. Dass ein Haus keine unverwechselbare Identität haben darf, meint er damit aber wohl nicht. Denn die stiftet der Vorhang auf beeindruckende Weise. Spielerisch schreibt er die Chronik eines besonderen Ortes und Hauses fort, ohne dabei die Umgebung zu übertönen. Das Aichinger Haus ist tatsächlich keine Oper, sondern einfach eine gelungene Inszenierung, eine architektonische Erzählung aus Schlichtheit, Nützlichkeit und Eleganz.


    • Standort: Unterhauser Straße 1, A-4484 Kronstorf

      Bauherr: Astrid Mitter-Aichinger, Andreas Aichinger
      Architekten: HERTL.ARCHITEKTEN, Steyr
      Projektleitung: Margit Haider
      Tragwerksplanung, Bauunternehmer: Krückl Baugesellschaft, Perg
      Haustechnikplanung: Energietechnik Bogner, Steyr
      BGF: 394 m² BRI: 1 905 m³
      Baukosten: keine Angaben
      Bauzeit: Juli 2009 bis Februar 2010
    • Beteiligte Firmen: Fassadenbau: Europlan Wassermair, Pram, www.wassermair.com
      Vorhang: Plaspack Netze, Schwanenstadt, www.wassermair.com
      Fenster: ACTUAL Fenster Türen Sonnenschutz, Haid, www.wassermair.com
      Winddichtfolie: ISOCELL, Neumarkt am Wallersee, www.wassermair.com
      Fensterlaibungen: Fundermax, St. Veit/Glan, www.wassermair.com
      Leuchten: Siteco, Traunreut, www.wassermair.com

Kronstorf (A) (S. 20)


HERTL.ARCHITEKTEN


Gernot Hertl
1971 in Steyr (A) geboren. 1992-97 Architekturstudium an der TU Graz. 1997-2000 Mitarbeit im Büro Schimek, Linz. 2000-02 Arbeitsgemeinschaft mit Josef Steinberger. Seit 2003 HERTL.ARCHITEKTEN in Steyr.
Tobias Hagleitner
1981 in Bregenz (A) geboren. 2001-08 Architekturstudium an der Kunstuniversität Linz. Studien u. a. in Bangladesch, Südafrika und Mexiko sowie an der Filmakademie FAMU in Prag. Seit 2008 selbstständige Tätigkeit an der Schnittstelle von Kunst und Architektur. Seit 2011 PhD-Stipendium in Urbanistik und Medientheorie an der Kunstuniversität Linz.
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