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Stuttgarter Schule?!

Die Schule der Ingenieure: Geschichte und Ausblick
Stuttgarter Schule?!

Der Stuttgarter Kessel wird gelegentlich ob seiner Architektendichte und -qualität als »Tal der Architekten« bezeichnet. Kürzlich wurde ich gefragt, ob die Bezeichnung »Tal der Ingenieure« nicht berechtigter sei, ob der unübersehbaren Taten und Untaten der Ingenieure, ihrer Brücken, Türme, Straßen, Unterführungen?

Text: Roland Ostertag

Für die Niederungen, die Masse des Gebauten, für Wohnen und Gewerbe, benötigte man über Jahrhunderte keine Baumeister. Diese Welt wurde von Handwerkern, Zimmerleuten, Steinmetzen, aber auch von Laien geplant und gebaut. Für die hohen Aufgaben des Bauens war der Baumeister zuständig; für alle Dimensionen, die ästhetische, die technische und – soweit die soziale überhaupt gesehen wurde –, auch für diese. Bis ins 19. Jahrhundert versuchte der Baumeister diesem Anspruch zu entsprechen.
In der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts dehnte sich das Wissen enorm aus: Industrialisierung, neue Bauaufgaben, Materialien und Konstruktionen sowie Tätigkeitsfelder stellten den »klassischen Alleskönner-Baumeister« infrage. Der Eigendynamik der gesellschaftlichen Kräfte, der Dynamik wirtschaftlichen und technischen Wachstums, der Mobilisierung der großstädtischen Lebensverhältnisse, dem sozialen Elend der Massen hatte er wenig mehr entgegenzusetzen als die Flucht in den »Triumpf von Geist und Bildung«, die Flucht in die Baugeschichte, um deren Formen als Steinbruch für seine Werke zu nutzen. Die Architekten der offiziellen Architektur glaubten, der bürgerlichen Gesellschaft der sogenannten Gründerzeit mit Formen vergangener Epochen Ausdruck geben zu können. Unbelastet von der Baugeschichte, dem Korsett der Jahrhunderte, widmeten sich dagegen die Ingenieure den neuen Aufgaben. In vorurteilsloser Annäherung ergriffen sie die Chancen der neuen technischen Gestaltungsmöglichkeiten.
Der Gärtner Joseph Paxton entwickelte den Kristallpalast für die Weltausstellung in London 1851, der Bauunternehmer Gustave Eiffel den nach ihm benannten Turm für die Weltausstellung 1889, der Maschineningenieur Contamin die Maschinenhalle für dieselbe Weltausstellung; Markthallen, Bahnhöfe – meist ebenfalls von Maschineningenieuren konstruiert.
Gleichzeitig entwickelten Mathematiker die theoretischen Grundlagen des neuen Bauens, vor allem Franzosen: Joseph Monier (1823–1906), Lambot und Coignet, François Hennebique (1842–1921). Aus diesen Ansätzen entwickelte sich der neue Beruf des Bauingenieurs.
Ausbildung
Napoleon benötigte für seine Unternehmungen Brücken, Straßen, Tunnels – und Ingenieure. Deshalb gründete er 1794 die École centrale des travaux publics, 1795 umbenannt in École Polytechnique. In der Folge wurden an vielen Orten ähnliche Einrichtungen ins Leben gerufen: 1821 in Berlin, 1825 in Karlsruhe und in Stuttgart 1829 die Vereinigte Real- und Gewerbeschule in der Königstraße. Die Lehrpläne sahen sowohl eine handwerkliche als auch theoretische Ausbildung vor. Die Stuttgarter Lehranstalt wurde 1840 zur polytechnischen Schule erweitert. Die Reform 1862 führte zu vier »Fachschulen«: Architektur, Ingenieurwesen, Maschinenbau und Chemie. 1876 erfolgte die Umbenennung in Polytechnische Schule. Diese gewann rasch weit über das Königreich Württemberg hinaus hohe gesellschaftliche und berufliche Wertschätzung. Um die Jahrhundertwende wurden offiziell neue Fächer, und damit auch das Bauingenieurwesen, eingeführt. Anlass war unter anderem die Gründung der Materialprüfungsanstalt und des Ingenieurlaboratoriums 1899 durch den Maschineningenieur Carl Julius Bach (1847–1931).
Ende des 19. Jhts. wurden die (Bau-)Ingenieure, Schöpfer gewaltiger Bauwerke, müde. Die Architekten lösten die Ingenieure selbst bei den Weltausstellungen ab. Sie übernahmen deren Aufgaben, meist mit wenig befriedigendem Ergebnis. Die Architekten benötigten für ihre rückwärtsgewandten Träume keine selbstständigen Ingenieure, sondern eher Erfüllungsgehilfen, Statiker. Oder sie gingen gleich zu den großen Baufirmen.
Auf der Suche nach dem Stil aller Stile um die Abfolge der Stile zu beenden, entdeckten die Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Maschine und die maschinenhafte Form; Ingenieure waren daran kaum beteiligt.
Davon unabhängig gelangen den Ingenieuren Robert Maillart (siehe Bild 2), Pier Luigi Nervi und Felix Candela, in Deutschland Walter Bauersfeld und Franz Dischinger großartige Werke der Ingenieurkunst.
Ab 1933 legte sich in Deutschland der Ungeist des Dritten Reiches wie Mehltau auf die Entwicklung, zerstörte die intellektuelle und akademische Freiheit der Schulen. Manche Architekten überwinterten bei der Industriearchitektur, bei den Ingenieuren.
Den zentralen Lehrstuhl für »Konstruktiven Ingenieurbau A, Massivbau« hatte von 1914 bis 1939 der als »Pionier des Eisenbetonbaus« geschätzte Emil Mörsch, eine weit über Stuttgart hinaus wirkende Persönlichkeit, inne. Sein späterer Berliner Kollege Franz Dischinger bevorzugte die deduktive Betrachtungsweise, Mörsch im Gegensatz hierzu die induktive.
Nach 1945 Aufbruchstimmung, jedoch nicht zu neuen Ufern, sondern um dort anzuknüpfen, wo man 1933 gezwungen war aufzuhören, das Verschüttete, wie zum Beispiel die Freiheit der Lehre wieder freizulegen. Das isolierte Berufs- und Ausbildungsziel wurde weiter angeboten und gelehrt. Auf Emil Mörsch folgte in der Lehre bis 1956 Karl Deiniger, 1957 wurde Fritz Leonhardt – Planer vieler Brücken im In- und Ausland, vieler Fernsehtürme und des Stuttgarter Fernsehturms, Wahrzeichen der Stadt – auf den »Lehrstuhl für Massivbau« an die TH Stuttgart berufen; Emeritierung 1974. Durch seine vielfältigen Beziehungen zur Architektur und Architekten leitete er eine Entwicklung zur »Innovativen Ingenieurbaukunst« ein. Seine Berufung muss als Geburtsstunde der »Stuttgarter (Bauingenieur-)Schule« gesehen werden.
In dieser Zeit wurde mit Wilhelm Tiedje ein Architekt auf den Lehrstuhl für Hochbaukunde bei den Bauingenieuren berufen, stellte so die Brücke zu den Architekten her. Daraus wurde Tradition, bis 1992 folgten die Architekten Hans Kammerer, Kurt Ackermann, Eberhard Schunck. Leider wurde danach dieses auch für andere Hochschulen beispielhafte Modell nicht weiter-geführt.
In den fünfziger und sechziger Jahren etablierte sich die später »Zweite Stuttgarter (Architekten-)Schule« benannte Architekturabteilung mit Rolf Gutbrod, Horst Linde, Günter Wilhelm. Curt Siegel als Tragwerksplaner stellte die Brücke zu den Bauingenieuren her.
Dazwischen Frei Otto, keiner der beiden Abteilungen zugehörig, frei schwebend, von Leonhardt aus Berlin nach Stuttgart geholt. Ausgebildeter Steinmetz, Ingenieur-Architekt, Konstrukteur, Naturwissenschaftler, Künstler, keiner Disziplin, keiner Schule zuordenbar. Auf den Schultern des »Fliegende Bauten«-Bauers Peter Strohmeyer, der Ingenieure Konrad Wachsmann, Buckminster Fuller, Felix Candela stehend. Stets auf der Suche nach den Gesetzen der lebenden und nichtlebenden Natur, dabei die Minimierung und Optimierung von Strukturen, von Konstruktionen im Mittelpunkt seines Denkens. Weder auf die deduktive noch die induktive Vorgehensweise festgelegt. Ideengeber, Inspirator weltweit und auch auf die Stuttgarter Szene, von Ingenieuren und Architekten je nach Zeitgeist vereinnahmt oder distanziert betrachtet. Frei Otto gründete keine Schule, er ist Schule. ›
› Bei den Bauingenieuren wurde Jörg Schlaich ab den siebziger Jahren die beherrschende Person, und dies nicht nur an der Stuttgarter Universität. Studium bei Franz Dischinger und Emil Mörsch, Assistent bei Fritz Leonhardt und Mitarbeiter in seinem Büro. Beeinflusst von Frei Otto wurde er 1975 Nachfolger von Leonhardt am »Institut für Massivbau«, das von ihm in »Institut für Konstruktion und Entwurf« umbenannt wurde. Seine Philosophie: »Baukunst, Baukultur ist unteilbar. Architekten und Ingenieure sind gemeinsam verantwortlich für das So-sein unserer Umwelt. Für das Eingreifen in die Natur, in die Schöpfung müssen wir als Äquivalent Kultur, Baukultur schaffen. Architekten- und Ingenieurbauten sind gleichermaßen Bestandteil einer unteilbaren Baukunst, die Rollenverteilung ergibt sich aus der Aufgabenstellung, den Kompetenzen«, auch die Unterschiede im Berufsbild. Wenn es in Deutschland eine »Schule der (Bau-)Ingenieure« gibt, dann in Stuttgart, geprägt von Jörg Schlaich, stark beeinflusst von Frei Otto. Auf Schlaich folgte 2000 Werner Sobek, der den Lehrstuhl umbenannte in »Institut für Leichtbau, Entwurf und Konstruktion«.
Die Bildung lang andauernder »Schulen« wird immer schwieriger. Schule im vorgestellten Sinn verstanden, ist mehr und anderes als eine Ansammlung von bekannten Namen, besteht nicht aus definierten Abteilungen, Fakultäten, Fachbereichen. Wenn überhaupt, sind solche Schulen von einzelnen Persönlichkeiten und deren Philosophie abhängig und meist auf Zeit angelegt.
Ausblick
Wir sind immer noch Kinder des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Analyse, der Kategorisierung, der Katalogisierung, der Einteilung, der (Ein-)Ordnung, Differenzierung in allen gesellschaftlichen Bereichen, der Pflanzen, der Tiere, der Elemente, der Berufe, der Universitäten, der Zeiten, der Epochen. Dieses Ordnungsdenken hatte Vorteile, brachte Fortschritte, aber auch Nachteile, Probleme. Das Modell des 19. Jahrhunderts, der getrennten, isolierten Berufe, deren getrennte Ausbildung steht zur Diskussion und Disposition. Die Annahme, die immer größer werdende Flut von Wissen durch Bildung neuer Fakultäten, durch Ergänzung/Reparatur von bestehenden zu bewältigen, ist obsolet, überholt. Die polytechnischen Schulen napoleonischer Provenienz mit festgefügten Berufs- und Ausbildungsbildern gehören der Vergangenheit an.
Das Gebiet des Bauens wird weiter enorm anwachsen, wird komplexer, unübersichtlicher. Fragen der Umwelt, des Klimas, der Energie, der Landschaftspflege, gesellschaftliche und soziale Fragen werden ebenso wichtig wie technische und ästhetische. Mit klassischen Begriffen, mit den überkommenen Strukturen lässt sich diese Komplexität nicht mehr erfassen, geschweige denn lösen. Darüber muss an den Schulen, den Ausbildungsstätten, dort, wo die ganze Problematik ins Rollen kommt, nach- und vorgedacht werden.
Experten, die sich nur als Spezialisten für genau definierte Bereiche zuständig fühlen, Fachingenieure für Tragwerke oder für Ästhetik müssen abgelöst werden durch Experten, die zu ganzheitlichem, synthetischem Denken, bei dem sich Wissen, Erfahrung und Intuition untrennbar verbinden, fähig sind. Die in der Lage sind, andere als nur unmittelbar fachliche Aspekte einzubeziehen. Die willens sind, gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, für ihr Eingreifen in die Natur Baukultur zu schaffen und die »Ingenieurbau«, die Werke der Ingenieure, der Infrastruktur ebenso wie Werke der Architekten als Teil der unteilbaren Baukunst begreifen.
Um die erhöhte Freiheit und Verantwortung übernehmen zu können, müssen neue Modelle in der Praxis, vor allem aber in der Ausbildung entwickelt werden, eine »Schule des Bauens«, die nicht nur die Sprachlosigkeit zwischen den Disziplinen überwindet, sondern zu neuen Ufern aufbricht, um mit ingeniösem Denken und Handeln eine »technische Landschaft von souveräner Schönheit« zu schaffen. In dieser müssen sich Ingenieure und Architekten nicht nur an der Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit ihres Tuns messen lassen, sondern sich verstärkt ihrer politischen und moralischen Verantwortung bewusst sein. •
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