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Sehnsuchtsfaktor Heimat

Zur Renaissance eines Konzepts
Sehnsuchtsfaktor Heimat

»Der Künstler ist in der Welt zu Hause« heißt es oft, wenn es um die Einordnung eines künstlerischen Werks geht. Und das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Doch in einer Zeit, in der Heimatlosigkeit als Auszeichnung gilt, erleben wir gleichzeitig, dass der Begriff eine Renaissance erfährt: nicht gefühlsduselig aufgeladen, sondern als gelebtes Konzept.

Text: Jürgen Tietz

Die Auseinandersetzung mit dem Ort, mit der Region wird bei nahezu jedem Bauvorhaben in schönster Architektenprosa beschworen – doch nur allzu selten wird sie wirklich eingelöst. Dabei gehört die Beschäftigung mit dem Ort, mit seinen Potenzialen und seinen Defiziten tatsächlich zu den zentralen Herausforderungen der Architektur. Wie aktuell das Thema Regionalismus ist, haben die preisgekrönten Bauten aus Vorarlberg oder Graubünden längst bewiesen und jüngst auch der Architekturpreis »Neues Bauen im Schwarzwald«, den die Architektenkammer Baden-Württemberg und das Regierungspräsidium Freiburg vergeben haben. Sie zeigen auf, dass der Rückbezug auf handwerkliche Traditionen, auf örtliche Bauformen und Materialien sowie auf die regional verankerten Bedürfnisse und Vorstellungen der Menschen keineswegs in einem repetierenden Historismus enden müssen. In den Gebäuden von Marte und Marte, Miller und Maranta, Dietrich und Untertrifaller, der Werkgruppe Lahr oder Bürk Kaiser Architekten bilden Tradition und Moderne keine Gegensätze; vielmehr nehmen sie das Potenzial einer Landschaft ernst und konstituieren so Heimat. Doch Heimat ist ein schillernder Begriff. Er kann nach Hansi Hinterseer klingen und nach wallender Heide aus den Heimatfilmen der 50er Jahre. In Deutschland, der Heimat des Heimatbegriffs, tut man sich besonders schwer mit ihr. Zu Recht, denn Heimat ist auch ein missbrauchtes Konzept, das in der Blut-und-Boden-Ideologie des Dritten Reichs seine Unschuld verloren hat und bei den jungen Pionieren der DDR instrumentalisiert wurde. Das machte es nicht leichter, sich ihr wieder anzunähern. Andererseits hat Heimat in Deutschland längst wieder Konjunktur, in der regionalen Küche ebenso wie im bestsellerverdächtigen Lokalkolorit zahlreicher Krimis. Während etwa in der Schweiz der Heimatschutz bis heute eine zentrale Rolle bei der Bewahrung und Gestaltung der gebauten Umwelt spielt, fand in Deutschland erst in den frühen 70er Jahren wieder eine kritische Diskussion über Begriff und Bedeutung von Heimat statt. Durch diese wurde sie aus dem Klammergriff sentimentaler Filme oder einer blutleeren Vertriebenenfolklore befreit. Doch es dauerte lange, bis Region und Heimat über den Umweg der Postmoderne auch in den Entwurf der Architekten zurückkehrten. In der aktuellen Beschäftigung mit regionalen Aspekten fällt ein Nord-Süd-Gefälle in Deutschland auf: Während man im Süden durchaus Beispiele findet, die sich auf regionale Qualitäten und Wurzeln beziehen, um sie mit einer zeitgenössischen Formensprache weiterzuentwickeln, ist dies in Norddeutschland kaum zu beobachten. Das ist erstaunlich, denn gerade in Schleswig-Holstein gab es mit der Heimatschutzarchitektur bis in die 20er Jahre hinein etliche Beispiele für eine gelungene Verbindung historischer und zeitgenössischer Bauformen. Zudem scheint es in ländlichen Regionen einfacher (oder naheliegender?) zu sein, eine regional verankerte Architektur zu verwirklichen, als in Städten. Allzu schnell gleitet dort die Auseinandersetzung mit Ort und Geschichte in einen zwar marktgängigen, aber letztlich banalen Neohistorismus postmoderner Prägung ab. Gerade in den Städten zeigt sich aber auch eine weitere Spielart der Aneignung von Heimat. Dort wird von der Generation der heute 40-Jährigen die Nachkriegsmoderne auf ihr Heimatpotenzial hin untersucht. »Die moderne Stadt der Nachkriegszeit ist Selbstverständlichkeit, sie ist unsere Heimat«, hieß es 2009 in der Ausstellung »In der Zukunft leben« des BDA. Solch ein Blickwinkel erweist sich nur scheinbar als Widerspruch zu den architektonischen Heimatstrategien zwischen Schwarzwald und Oberpfalz. Und er steht auch keineswegs für ein Ausfasern des Begriffs in Beliebigkeit. Vielmehr unterstreicht er die Vielfalt eines regional verankerten Heimatbegriffs. Der hat sich nämlich in den letzten Jahren deutlich gewandelt: »Gegen Ende des 20. Jahrhunderts lässt sich eine Zäsur im Denken von Heimat beobachten. Heimat kehrt als ein veränderter Begriff wieder. Zeit und Ort der Kindheit verlieren ihre Bedeutung. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben die Identifikation von Kindheit und Heimat, seit der Romantik und später bei Bloch im kulturellen Diskurs betont, entkoppelt. Das Bedürfnis nach Heimat ist geblieben. Für die gegenwärtige Diskussion ist die Frage zu stellen, welche Bedeutung dem Wort Heimat im Diskurs unter fundamental veränderten Lebensbedingungen zugeschrieben wird und was die Wiederkehr des Begriffs im Zeitalter der Globalisierung leisten kann«, schreibt der Germanist Bernd Hüppauf. Und für den Volkskundler Hermann Bausinger gilt: »Heimat ist nicht mehr Gegenstand passiven Gefühls, sondern Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzung – sie wird aktiv angeeignet.« In einer durch permanente und sich stetig beschleunigende Veränderungen geprägten Umwelt, die durch Verlust und Fremde charakterisiert wird, besitzt Heimat das Potenzial, sich als eine zentrale Strategie regionaler Verortung und Aneignung zu etablieren. »Hier ist keine Heimat – jeder treibt sich an dem anderen rasch und fremd vorüber«, schreibt Friedrich Schiller im Tell und es klingt wie ein Vorgriff auf die Globalisierung. Der Dualismus aus Heimat und Fremde, wie ihn Helmut Schelsky beschrieben hat, gehört dabei genauso zusammen wie die Sehnsucht nach Heimat und ihr drohender Verlust. Doch es würde bedeuten, Heimat allzu eindimensional zu definieren, sähe man in ihr lediglich ein passives, gefühlsduselig rückwärtsgewandtes Konzept. Der Heimatbegriff ist in Bewegung – und mit ihm die Heimat. •

Zum Thema (S. 32)
Jürgen Tietz
Studium der Kunstgeschichte, Promotion. Arbeitet in Berlin als freiberuflicher Autor und Kurator zu den
Themen Architektur und Denkmalpflege. Regelmäßige Veröffentlichungen, u. a. in der Neuen Zürcher Zeitung, sowie in zahlreichen Fachzeitschriften.
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