1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » db-Archiv »

Nostalgische Wohlfühlarchitektur ist doch keine Baukunst!

db-Archiv
Nostalgische Wohlfühlarchitektur ist doch keine Baukunst!

Die Mehrheit der Architekten hält den neuen Traditionalismus für eine vorübergehende Modetorheit, die Wissenschaft und die Fachpresse findet die Beschäftigung damit degoutant. Dessen Protagonisten jedoch bauen fleißig und unbeirrt und erfreuen sich des Beifalls der Lokalpresse und des breiten Publikums. Eine theoretische Auseinandersetzung fand bedauerlicherweise bisher nicht statt.

~ Falk Jaeger

»Aus nackter Zweckform wird abstrakte Schönheit«, dieser Ausruf Erich Mendelsohns 1924 in Chicago angesichts gigantischer Getreidesilos mit ihren »Kindheitsformen, unbeholfen, voll urwüchsiger Kraft, dem reinen Bedürfnis ergeben«, beleuchtet schlaglichtartig ein Dilemma, das die damals aufkommende Moderne von Anbeginn und bis heute mit sich trägt. Abstrakte Schönheit ist ein hehres Ziel, das sich jedoch mit niedrigeren Grundbedürfnissen des Menschen nicht zu vertragen scheint. In der dünnen Höhenluft ästhetischer Sphären hält es der Normalbürger nicht lange aus. Ihn verlangt es alsbald nach Gefühlswerten, Behaglichkeit, gar Gemütlichkeit (die der Fachmann lieber »Anmutung« nennt). Mendelsohn nennt es »Charme«, wenn er 1950 über die ihn maßlos enttäuschenden Bauten Mies van der Rohes in Chicago berichtet: »Preußische Strenge ohne den Charme Schinkels, ein klarer Himmel ohne Sonne und tot wie Julius Cäsar …« und den Kollegen in einem Engpass sieht, von dem aus es nicht mehr weiter gehe.
Immer wieder haben Architekten dieses Dilemma gespürt und darauf zu reagieren gesucht. Adolf Loos, der das Ornament für vergeudete Arbeitskraft hielt, gestand seinen Klienten wenigstens feurigen Marmor und lebhaft gemaserte Holzoberflächen als Augenfutter zu, Bruno Taut griff beherzt zum Farbtopf und Le Corbusier wurde in seinem Spätwerk immer barocker.
Und heute?
Noch immer gibt es Architekten, die am liebsten eine Welt für sich hätten, die sie unbehelligt vom Banausentum Lieschen Müllers mit gebauten Manifesten und unbeseelten architekturtheoretischen Etüden ausstatten könnten. Viele sind Schüler von Oswald Mathias Ungers, dem Exponenten der »Architektur als Wissenschaft«, dem so manches Haus zum unbewohnbaren Kunstwerk geraten ist, zum perfekten, Weltraumkälte ausstrahlenden Artefakt.
Wie schwierig es heute ist, mit zeitgenössischen Mitteln Atmosphäre zu schaffen, zeigt der Fall Hans Kollhoff, der, früher respektabler Moderner, inzwischen keine Hemmungen mehr hat, Blümchentapeten und Ohrensesseln zu neuem Leben zu verhelfen, weil er sich nicht in der Lage sieht, dem Defizit auf andere Weise beizukommen. Die meisten Architekten überlassen die Inszenierung von Anmutung und Atmosphäre jedoch den nachträglich beauftragten Lichtplanern und Innenarchitekten.
Farbe, neben Licht das zweite bedeutsame Element bei der Gestaltung von gestimmten Räumen, wird von den meisten als unseriös und Verfälschung der reinen Architektur brüsk abgelehnt. Sie schwärmen dann von den naturgegebenen Farben der Materialien und erfreuen sich an einem »schönen Grau« von Aluminium natur. Die als Seriosität getarnte Enthaltsamkeit ist nichts als Scheu vor Emotionalität. »Die Architektur weckt Stimmungen. Es ist die Aufgabe des Architekten, diese Stimmungen zu präzisieren«, hatte Adolf Loos 1925 postuliert und die Architekten täten gut daran, diesen Ratschlag wieder mehr zu beherzigen.
Einen Ausweg sehen manche in der Wiederbelebung historischer Bauformen. Nun hat aber der Traditionalismus, in Deutschland mehr als in anderen Ländern, mit einem Stigma zu kämpfen, das ihm das Dritte Reich aufgedrückt hat, als der Neoklassizismus zum Staatsstil für die Repräsentationsbauten des Regimes erklärt wurde. Seitdem ist der Faschismusvorwurf als finales Totschlagargument gegen die Retroarchitektur nicht auszumerzen, so oberflächlich und bar jeder Fachkenntnis er auch sein mag.
Doch dass der Traditionalismus seit einem Jahrhundert ohnehin nicht die Kraft hat, sich entscheidend durchzusetzen, zeigen die anderen europäischen Länder, die in den 30er Jahren eine politisch nicht kontaminierte Neoklassizismusphase durchlebt haben. Für die Beschäftigung mit dem historischen Vokabular, für ein Wiederaufleben des Vitruvianismus fehlt die Rückbindung in ein gesellschaftliches Werte- und Normensystem.
Genauere Kenntnisse in Baugeschichte? Fehlanzeige
Um ein neoklassizistisches Bauwerk zu entwerfen, bedarf es grundlegender bauhistorischer Kenntnisse. Das Erlernen dieser architekturtheoretischen und baugeschichtlichen Grundlagen in der Architektenausbildung nach alter Väter Art ist heutzutage jedoch weder möglich noch vorstellbar, und so muss es zwangsläufig beim Dilettantismus bleiben, beim »das sieht irgendwie alt aus«. Nur in wenigen Ausnahmefällen halten Retrobauten einer bauhistorischen Analyse stand. Die verantwortungslose Selbstbedienung aus der Asservatenkammer der Baugeschichte geht oft mit einer Ignoranz und Interesselosigkeit der bauhistorischen Kultur gegenüber einher, die eine theoretische Beschäftigung mit ihr ausschließt. Der neue Historismus hat an den Hochschulen und in den Architekturzirkeln keine architekturtheoretische Grundlage, er wird als Baukunst nicht anerkannt und höchstens als kurioses gesellschaftliches Randphänomen diskutiert, quasi von außen beäugt, als sei er eine vorübergehende Modetorheit. Retroarchitekten gelten als Außenseiter (Matthias Ocker: »Ich bin ein Exot«), ein Dialog mit dem Gros der modern orientierten Architekten findet (ausgehend von beiden Seiten) nicht statt oder erschöpft sich in gegenseitigen Vorhaltungen.
Solange Architekten ihr Augenmerk ausschließlich auf die Beachtung von funktionalen und ökonomischen Randbedingungen richten oder blutleere architekturtheoretische Etüden oder, andererseits, möglichst spektakuläre architektonische Sensationen errichten, ohne sich wirklich um die Wünsche und Bedürfnisse der Nutzer nach Gemüts- und Gefühlswerten zu kümmern, wird die Akzeptanz der modernen Gegenwartsarchitektur in der breiten Bevölkerung nicht wachsen und werden jene, die kaiserzeitlichen Traditionalismus als nostalgische Wohlfühlkulisse anbieten, ein leichtes Spiel haben. •
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de