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Mythen, Militär und Mobilität

Dauerausstellung »Sasso San Gottardo« am Gotthardpass (CH)
Mythen, Militär und Mobilität

In den eindrücklichen Stollen und Felskavernen einer ehemaligen Festungsanlage werden die Herausforderungen im Umgang mit Ressourcen atmosphärisch thematisiert. Es geht dabei um Wasser, Klima, Mobilität, Energie und Sicherheit. Zum Einsatz kommen Licht- und Farbeffekte, Beschallungstechnik und multimediale Installationen, die das Gotthard-Bergmassiv als einen Ort der Ambivalenzen erlebbar machen, wo Natur und Technik, Ökologie und Ökonomie, Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen.

    • Architekten: Holzer Kobler Architekturen Ausstellungsbau: Nüssli Gruppe

  • Kritik: Jenny Keller Fotos: Jan Bitter
Die Schweizer Berge sind neben der Schokolade, den Uhren und dem Bankgeheimnis weltweit bekannt – bis auf Letzteres jeweils ein unantastbarer Mythos. Was man außerhalb der Schweiz weniger weiß, ist, dass diese Berge ein einmaliges und unvorstellbares Innenleben besitzen, das nur Teilen der (wehrpflichtigen) Männer des Landes bekannt war, die wiederum einer strengen Geheimhaltungspflicht unterlagen: Während des Zweiten Weltkriegs höhlte das Schweizer Militär beinahe den gesamten Alpenraum aus, um Artilleriefestungen, Lazarette, ja sogar geheime Flugplätze – so die Legende – vor dem Feind zu verstecken. Réduit national nennt man dieses System aus militärischen Verteidigungsanlagen in den Schweizer Alpen, und das Réduit wurde ›
› zum Inbegriff des Widerstands der Schweiz gegen das Deutsche Reich und Mussolinis Italien. Der Stratege hinter der Réduit-Idee war General Guisan – auch er ein Schweizer Mythos; bis weit in die Nachkriegszeit galt der Waadtländer als Personifizierung der wehrhaften Schweiz.
Die Gefahr ist gebannt
Im größten Artilleriewerk der Gotthardregion, der 1941 eingerichteten Festung »Sasso da Pigna«, absolvierten bis noch vor rund zehn Jahren unzählige schweigsame Soldaten ihren Militärdienst, danach wurde sie aus der Geheimhaltung entlassen. Im Sommer 2012 öffnete die Themenwelt »Sasso San Gottardo« ihre Tore; der ehemals getarnte Eingang in den Stollen bildet nun den Auftakt in eine kurzweilige Dauerausstellung im »gefühlsmäßigen Mittelpunkt« des Landes – wie der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi den Gotthard zur Ausstellungseröffnung nannte. Nur fünf Gehminuten vom Hospiz entfernt (Miller Maranta, siehe db 11/2010, S. 59) und rund einen Kilometer oberhalb der Tunnelröhren taucht man nun ein in eine andere Welt. Bereits nach wenigen Metern wird es kühl, dunkel und feucht.
Martin Immenhauser kennt den ausgehöhlten Berg, die langen finsteren Gänge und Kavernen wie kein anderer; er war der letzte Kommandant des Artilleriewerks und wollte nicht, dass der knapp 1,8 km lange Stollen fortan ein dunkles Dasein fristet oder bloß zu einem weiteren Festungsmuseum degradiert wird. Mit dem letzten Kommandanten der Gotthard-Brigade, Alfred Markwalder, und dem Luzerner Künstler Jean Odermatt bildete er 1999 ein Team mit dem Ziel, die Festung für eine Neuentdeckung der Region zu nutzen. Das Projekt Sasso San Gottardo wurde mit finanzieller Unterstützung von Wirtschaftspartnern und der öffentlichen Hand im Auftrag einer eigens gegründeten Stiftung realisiert; insgesamt sind so 12,5 Mio. CHF (rund 10,3 Mio. Euro) zusammengekommen.
Der Berg als Inspirationsquelle
Für die Umsetzung der Ausstellung wurde das Büro Holzer Kobler Architekturen herangezogen. Die Züricher Architekten mit einem großen Portfolio an Ausstellungen im In- und Ausland haben zusammen mit der Kuratorin Lisa Humbert-Droz (Humbert Partner AG, Bern) das Konzept für die Ausstellung entwickelt. Das Team sieht im Gotthard einen Mythos mit vielen Bedeutungen für die Schweiz: Er sei ein Ort, der Norden und Süden verbindet und Grenzen überwindet, ein Symbol für den Aufbruch in die Moderne, für technischen Fortschritt und Ingenieurskunst. Hier zeigten sich aber auch des Fortschritts Grenzen – in kilometerlangen Staus und in der Veränderung des Alpenraums durch den Menschen. Daran knüpft Holzer Koblers Konzept für die Themenwelt in einem Teil des Stollensystems an. In fünf Räumen werden die Themen Wasser, Klima, Mobilität und Lebensraum, Energie sowie Sicherheit atmosphärisch in Szene gesetzt und die Herausforderungen im Umgang mit unseren Ressourcen dargestellt. Holzer Kobler bauen dabei zunächst auf die Wirkung des Orts selbst, auf seine Atmosphäre und auf den Ausdruck der Hinterlassenschaften. Mit ihren Installationen verstärken sie das Potenzial der Gegebenheiten und steigern es zu einem Erlebnis für das breite Publikum. So darf man z. B. in einem separaten Raum über das Funkeln riesiger Bergkristalle aus dem Kanton Uri staunen. Die Ausstellung versucht aber auch, ernsthafte, zukunftsbezogene Fragen aufzuwerfen. ›
Heiraten und Radfahren
Neben der Ausstellungsarchitektur mussten, wie so oft bei einem Umbau, v. a. auch sicherheits- und feuertechnische Einbauten sowie Stromleitungen und weitere unsichtbare, aber kostenintensive Maßnahmen getroffen werden, um das Innere des Bergs für die Öffentlichkeit begehbar zu machen. Auch die Sprengungen des soliden Ortbetons stellten eine Herausforderung dar, wie Tristan Kobler erklärt. Die Druckwellen hätten sich nicht nur auf die zu sprengenden Teile, sondern auch auf andere Bereiche schädlich auswirken können.
Wo einst ein zweistöckiges Lazarett in eine Kaverne einbetoniert worden war, befindet sich nach den Sprengungen beispielsweise eine riesige Halle. Schallschluckende Elemente unter dem Gitterrost am Boden sorgen dafür, dass die Höhle auch als Bankettraum vermietet werden kann. Vielleicht möchte hier einst ein Bergsteiger- oder Höhlenforscherpaar seine Hochzeit feiern. Auf alle anderen könnten das kühle Klima und die Tatsache, dass man sich mitten in einem Berg befindet, ungemütlich wirken. Als Station innerhalb der Themenwelt behandelt man hier die Mobilität, was durch einen Zusammenschnitt aus unzähligen rollenden Filmsequenzen, die auf den Fels projiziert werden, vermittelt wird.
In den anderen Kavernen blubbert und blinkt, klingt und donnert es. Der Lern- ist vielleicht geringer als der Showeffekt, trotzdem oder gerade deswegen lohnt sich ein Besuch mit der ganzen Familie oder ausländischen Gästen, in warmer Kleidung sowie festen Schuhen. Die Räumlichkeiten sind einmalig: Wann sonst begibt man sich zu Fuß in das Innere eines Bergmassivs, in diese Enge und Dunkelheit? Die Ausstellung ist unterhaltsam und animiert die Besucher auch zum Mitmachen. In der Kaverne, wo die Energie Thema ist, kann der Besucher auf einem sogenannten Fixie, einem Fahrrad mit nur einem Gang und reduzierter Ästhetik als Inbegriff des urbanen Vorwärtskommens, testen, wie viel Strom er mit seiner eigenen Muskelleistung zu produzieren im Stande ist. Dieser Bereich befindet sich in der Kammer der ehemaligen Versorgungszentrale. Die technischen Einbauten blieben nahezu vollständig erhalten und erzählen ganz ohne Unterstützung ihre eigene Geschichte. Trotz der neuen Interventionen bleibt die Vergangenheit spürbar. Holzer Kobler haben den Bestand am Leben erhalten und das Vorhandene mit aktuellen Informationen angereichert. So sind die Beschriftungen zu den einzelnen Kavernen in signal-pinken Lettern auf die Felswand gesprüht, wo gleichzeitig ein altes Telefon mit Wählscheibe an eine Welt erinnert, die noch nicht lange zurückliegt, aber ewig lange vergangen scheint. ›
Wie lange dauert eine Dauerausstellung?
Alle sieben Jahre wird wohl eine Überarbeitung der Themenwelt stattfinden, meint Tristan Kobler. Gewisse Bereiche seien jedoch bewusst atmosphärisch und somit zeitlos angelegt worden. So geht man z. B. in der »Wasser«-Höhle auf einem Rost, der mit einer feinen Wasserschicht bedeckt ist, was für andere Besucher die Illusion ergibt, als würde man tatsächlich über das Wasser gehen. In einem Zyklus werden auch hier Projektionen an die Felswand geworfen, die bei den Besuchern jedoch mangels Tiefgründigkeit wie Wassertropfen auf einer beschichteten Jacke abperlen dürften. Viel eindrücklicher sind die akustisch verstärkten Geräusche, die von leisen Wasserplätschern bis hin zum Donnergrollen reichen und an die Sensationen von Erlebnisparks erinnern. In derselben Halle befindet sich die Themenwelt Wetter und Klima, wo einmal mehr ins Bewusstsein rückt, dass der Klimawandel durchaus zu stoppen wäre, wenn nur genügend Akteure in Politik und Wirtschaft ein aufrichtiges Interesse daran hätten.
In der zentralen Halle der Themenwelt haben Holzer Kobler auf zehn Tafeln aus Cortenstahl ihre eigene Definition des mittlerweile etwas abgenutzten Begriffs der Nachhaltigkeit formuliert, natürlich in den drei Landessprachen, plus Englisch. Davor ist ein chromglänzendes Modell des Stollensystems zu sehen, das die 7 550 m² im Berg besser begreifbar macht. Weil alte Festungen nutzlos geworden sind, wurde das Thema Sicherheit in die virtuelle Welt übertragen. Laserstrahlen am Boden transformieren diesen Themenbereich in einen vermeintlichen Hochsicherheitstrakt, einen Tresorraum, wie man ihn aus Filmen kennt; dazu werden Informationen zur Sicherheit im Internet dargereicht.
Ihren Rundgang können die Besucher nun in der ehemaligen Festung fortsetzen, wo die Zeit eingefroren scheint. Die Räume sind so hergerichtet, als ob sich die Soldaten, die vor noch nicht langer Zeit hier ihren Militärdienst verbracht haben, nur gerade in einer Pause befänden. Da liegt eine Zeitung von 1995 neben einer Dose Bier und den Artillerieberechnungen. In den Schlaftrakten sind die militärgrünen Schlafsäcke ordentlich gefaltet, und die Zahnbürsten stehen in Reih und Glied im Waschraum. Wer hingegen jetzt schon friert oder weniger Zeit einberechnet hat, kann sich auf dem langen Korridor wieder in Richtung Tageslicht bewegen und bei der Kaffeebar noch eine schöne Glasflasche mit Bügelverschluss erstehen, die mit Quellwasser aus dem Gotthard aufgefüllt wird. Das Schweizer Trinkwasser kann tatsächlich überall gewonnen und getrunken werden, das ist kein Mythos, sondern eine erfrischende Tatsache, die, wenn wir unseren Ressourcen Sorge tragen, hoffentlich noch lange Bestand haben wird.


  • Standort: Passo del San Gottardo, CH-6781 Airolo

    Bauherr: Fondazione Sasso San Gottardo, Airolo
    Konzept und Szenografie: Holzer Kobler Architekturen, Zürich Gesamtfläche: 7 550 m²
    Ausstellungsfläche Themenwelt: 3 440 m²
    Eingangshöhe: 2 096 m ü. NN
    Baukosten: ca. 1,3 Mio. Euro (Ausstellung), insgesamt: ca. 11,2 Mio. Euro
    Bauzeit (Einbau Ausstellung): Mai bis August 2012
  • Beteiligte Firmen: Totalunternehmer, Ausstellungsbau: Nüssli (Schweiz), Hüttwilen, www.nussli.com
    Mobilfunk und Internetzugang im Berg: Swisscom, www.nussli.com
    Feuerwehrfunk: Pilacom, Kriens, www.nussli.com
    Lüftung und Elektroanlagen: Alpiq InTec Ticino, Zürich, www.nussli.com
    Personensicherheit, Eintrittskontrolle: Securitas, www.nussli.com
    Verglasungen: Glas Trösch, Bützberg, www.nussli.com
    Bau-/Spezialabdichtungen: SIKA, Baar, http://bau.sika.com
    Brandschutzabschottung: Belfor, Gisikon, www.nussli.com
    Schrägseilbahn: BMF Bartholet Maschinenbau, Flums, www.nussli.com
    Felsverankerungen: Gasser Felstechnik, Lungern, www.nussli.com
    Bergkristalle: Franz von Arx, www.nussli.com
    Gletscherkühlungsanlagen: AST Eis- und Solartechnik, Reutte, www.nussli.com
  • 1 Shop
  • 2 »Energie«
  • 3 »Mobilität und Lebensraum«
  • 4 Modell
  • 5 VIP/Kristalle
  • 6 Auditorium
  • 7 »Sicherheit«
  • 8 »Wasser«
  • 9 »Wetter und Klima«
  • 10 Wechselausstellung
A Themenwelt Sasso San Gottardo
B Historische Festung Sasso da Pigna
C Altes Hospiz

St. Gotthard (CH) (S. 32)


Holzer Kobler Architekturen


Barbara Holzer
1966 in Zürich geboren. 1991 Diplom an der ETH Zürich. 1992-2002 Tätigkeit als freie Architektin in Berlin, u. a. im Studio Daniel Libeskind. Seit 2002 eigenes Architekturbüro in Zürich. Seit 2004 gemeinsames Büro mit Tristan Kobler, seit 2012 auch in Berlin. Vortragstätigkeiten, Juryteilnahmen, 2009-10 Gastprofessur an der ETH Zürich, zurzeit Professur an der Peter Behrens School of Architecture Düsseldorf (PBSA).
Tristan Kobler
1960 in Luzern geboren. 1987 Diplom an der ETH Zürich. Tätigkeit als Szenograf und Kurator am Museum für Gestaltung Zürich. Seit 1996 selbstständiger Architekt und Szenograf in Zürich und Berlin. Seit 2004 gemeinsames Büro mit Barbara Holzer. Lehrtätigkeit in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland. 2009-10 Gastprofessur an der ETH Zürich. 2009-11 Professur an der École cantonal d’art de Lausanne, seit 2011 an der Haute École d’Art et du Design, Genf.
Jenny Keller
1980 in Basel geboren. 2000-07 Architekturstudium an der ETH Zürich. 2007-09 redaktionelle Tätigkeit bei tec21. 2009-11 Mitarbeit als Architektin bei atelier zürich. 2008-11 Master in Art Education an der Zürcher Hochschule der Künste. 2011-12 redaktionelle Tätigkeit bei UMBAUEN+Renovieren, Zürich, seit 2013 Chefredaktion von Swiss-Architects.com.
 
 
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