1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Architektur » Kultur | Sakral »

luftig und grün

die neue Messe Stuttgart
luftig und grün

Im Oktober wird in Stuttgart die neue Landesmesse eingeweiht. Im Juni wurde sie bereits teileröffnet, den Anfang machte die MiNaT, eine Fachmesse für Mikro- und Nanotechnologie. Ein bislang eher in Industriebauten eingesetztes Schichtlüftungssystem soll in den Messehallen sowohl ein angenehmes Raumklima als auch – durch weniger Energieverbrauch als bisher für Messen üblich – günstige Betriebskosten gewährleisten.

{ Text: Michael Bauer, Christine Fritzenwallner

Entstehen neue Bauwerke, wird deren Größe zur Veranschaulichung gerne mit anderem verglichen. Im vorliegenden Fall heißt es in den Mitteilungen der Projektgesellschaft Neue Messe Stuttgart, dass – allein von Bauherrnseite – so viele Pläne erstellt wurden, dass diese ausgebreitet eine Fläche von rund vier Fußballfeldern füllen würden. Das reicht, um sich die gigantische Anzahl weiterer Pläne auf Unmengen weiterer Fußballfelder auszumalen … Gleichzeitig wurden 65 000 Tonnen Stahl verbaut – hier musste der Eiffelturm herhalten: Mit dieser Menge hätte man ihn gleich 8,5-mal bauen können. Der Betonbedarf entsprach der Größenordnung von 3000 Einfamilienhäusern, die verlegten Elektrokabel der Strecke von Norwegen nach Afrika – und so weiter, und so weiter.
Die Nachhaltigkeit, das Klimakonzept oder technische Konstruktionen lassen sich hingegen noch nicht oder nur schwer vergleichen. Wobei gerade hier die Unterscheidungsmerkmale zu bisherigen Messebauten liegen. Der Bauherr wirbt damit, eine »grüne Messe« zu errichten, 50 % des Gesamtgeländes sind begrünt. Über ein eigenes Leitungssystem soll Oberflächenwasser in Retentionsbecken geleitet und dort gereinigt werden, bevor es wieder in den natürlichen Wasserkreislauf fließt. 2500 m² Dachfläche des Internationalen Congresscenters (ICS) sind mit Photovoltaikmodulen ausgestattet. Sie sollen eine Strommenge von rund 275 MWh pro Jahr liefern. PV-Module sind auch in der gläsernen Überdachung des Messeplatzes sowie auf den Messehallen geplant, deren Umsetzung ist derzeit allerdings finanziell noch nicht gesichert.
Infrastrukturvorteil
Wer in den vergangenen drei Jahren auf der A 8 bei Stuttgart unterwegs war, dem wird bereits die mächtige Überbauung der Autobahn aufgefallen sein. Ein 400 m langes Parkhaus wurde im Traktschiebeverfahren mittels hydraulisch gesteuerten Stahlseilzuganlagen zentimeterweise über die achtspurige Fahrbahn geschoben. Auf diese Weise konnte wertvolle Fläche erhalten werden – unter anderem wegen dieser gewagten Überbauung als »Landschaftsbrücke« und »grüne Welle« punktete der Entwurf der Stuttgarter Architekten Wulf & Partner beim 1999 ausgelobten, dreistufigen Wettbewerb – auch wenn die Realisierung inzwischen anders als ursprünglich geplant aussieht. Immerhin: Das Parkhaus ermöglicht Fußgängern und Radfahrern die Überquerung der A 8 und Autofahrern eine schnelle Zufahrt zur Messe. Ein weiterer Vorteil ist die Lage direkt am Flughafen. Dieser hat sich, neben Stadt und Land mit je 243,6 Mio Euro, mit 137 Mio Euro finanziell an der Neuen Messe beteiligt und nutzt nun die neu geschaffenen und seine bestehenden Parkplätze gemeinsam mit der Messe. Parkplatzprobleme wie auf dem alten Gelände am Killesberg dürften somit zukünftig nicht mehr bestehen. Da das Gerangel um »Stuttgart 21« inzwischen abgeschlossen und dessen Finanzierung gesichert zu sein scheint, sollen Messe und Flughafen sogar in mehreren Jahren über einen eigenen ICE-Bahnhof verfügen. Günstig ist zusätzlich die Anlieferung an die einzelnen Messehallen: Das ganze Gelände ist unterirdisch erschlossen, Lkws können jede Halle direkt anfahren. Dem Entwurf zugute kam hierbei das vorliegende Geländegefälle, das die Architekten sinnvoll ausnutzen. Sie staffelten die einzelnen Bauwerke, die kammartig und über kurze Wege entlang der Ost-West-Achse erschlossen werden, in drei leichten Höhenstufen.
Auffallendes Tragwerk
Gegenüber der bestehenden Messe wurde mit dem Neubau die Ausstellungsfläche verdoppelt. Neben dem ICS (2700 m²) und einer Multifunktionshalle (25 000 m²) gibt es sieben Standardhallen mit jeweils 10 000 m² Ausstellungsfläche. Bereits in der Wettbewerbsphase arbeiteten Architekten und Ingenieure gemeinsam am Entwurf des Tragwerks. Realisiert wurde nun eine schlanke Hängedachkonstruktion: Parabelförmige Zugbänder (Stahlgüte S460) überspannen im Abstand von 6,75 m eine Grundfläche von 70 x 155 m. Außen liegende Randfachwerkträger aus verschweißten Rundrohren sammeln die aus Horizontallasten resultierenden Zugkräfte, die schließlich über jeweils fünf Stützenblöcke pro Hallenseite abgetragen werden. Ebenfalls aus Stahl-Rundrohrprofilen miteinander verschweißt, sind diese zusätzlich mit Beton ausgegossen und gewährleisten so als ›
› Verbundquerschnitt die Feuerbeständigkeit. Pro Stützenblock nehmen über 40 vorgespannte Erdanker mit einer Kapazität von 60 t die hohen Zugkräfte aus der Dachkonstruktion auf. Während der Bauphase ersetzten mit Schotter gefüllte Ballastsäcke, an die Tragkonstruktion gehängt, die Auflasten des Daches. Der Schotter diente im Anschluss als Unterbau der Bodenplatte. Entwässert werden die teilweise begrünten Trapezblech-Dachflächen jeweils über die Längsseite einer Halle. ~cf
Raumklimakonzept
Wesentliche Aufgabe eines Energiekonzepts bei Messehallen ist, neben der Flexibilität und Versorgungssicherheit, ein für Messeaussteller und -besucher zufriedenstellendes Raumklima zu schaffen. Üblicherweise werden hierzu die Messehallen von der Decke aus über so genannte Drallluftdurchlässe als Mischluftsystem beheizt, gekühlt und belüftet. Aufgrund der Hallenhöhe ist der Aufwand allerdings sehr hoch, die konditionierte Luft von der Decke zugluftarm in den Aufenthaltsbereich zu führen. Bei der Landesmesse Stuttgart wollte man daher andere Wege gehen und hat mögliche Luftführungskonzepte detaillierter betrachtet.
Luftführungskonzepte für Messen
Mit der Luftführung im Raum werden zum einen der Luftaustausch kontrolliert und zum anderen die Strömungsrichtung in der Halle, also die Raumluftströmung, vorgegeben. Die Raumluftströmung lässt sich so ausbilden, dass mit der zugeführten Luft die höchste Effektivität beim Abbau der Raumlasten – im allgemeinen Wärme- und Stofflasten – erreicht werden kann. Zum Abbau der Wärme- und Stofflasten werden zwei Grundströmungsformen unterschieden:
  • Mischströmung (Luftzufuhr vom Hallendach): Wird die Zuluft so in die Halle eingebracht, dass sie sich mit den Wärme- und Stoffquellen vollständig vermischt, spricht man von Mischströmung. Die Temperaturen und Stoffkonzentrationen sind in der gesamten Halle nahezu gleich. Die intensive Vermischung im Raum wird durch Zuluft-strahlen mit hohem Impuls erreicht. In Abbildung 4 ist das Prinzip der Luftführung mit Mischströmung mit verschiedenen Zuluftdurchlässen dargestellt. Bei beiden Zuluftführungskonzepten wird aufgrund der hoch induktiven Wirkung ein ähnlich hoher Zuluftstrom benötigt.
  • Begrenzte Zuluftströmung zur Nutzung der Thermik (Schichtlüftung): Bei dieser Grundströmungsform wird die Zuluft so begrenzt zugeführt, dass die Thermik im Aufenthaltsbereich ungestört bleibt und dazu genutzt wird, die dort erwärmte und verbrauchte Luft aus dem Aufenthaltsbereich in ungenutzte Hallenbereiche zu transportieren. Am besten erreicht man die begrenzte Wirkung der Zuluftströmung, wenn die Zuluft direkt im Aufenthaltsbereich zugeführt wird. Damit stellen sich im Aufenthaltsbereich wesentlich niedrigere Konzentrationen und Lufttemperaturen ein als im ungenutzten Hallenbereich (Abb. 5).
Auslegung der Luftströme
Ausgehend von der Nutzung und der dabei freiwerdenden Wärme- und Stofflasten bestimmen die Anforderungen an die Raumtemperaturen und die Luftreinhaltung im Aufenthaltsbereich sowie die gewählte Luftführung im Raum die benötigten Luftmengen. Für die Auslegung der Zuluftströme ist das Zuluftführungskonzept entscheidend (vgl. Tabelle).
Mit einem bedarfsgerechten Luftführungskonzept kann der erforderliche Zuluftstrom deutlich gesenkt werden. Angaben zur Auslegung und Berechnung der bedarfsgerechten Zuluftströme für Hallen sind in VDI 3802 zusammengestellt. Die Variante mit begrenzter Zuluftströmung zur Nutzung der Thermik wird trotz des geringsten Auslegungsvolumenstroms jedoch derzeit noch sehr selten in Messehallen eingesetzt, da die Zuluftkanäle einschließlich Zuluftdurchlässe bis in die Nutzzone verlegt werden müssen, was die Nutzfläche beziehungsweise deren Flexibilität reduziert (Abb. 5).
Luftführungskonzept bei der messe stuttgart
An den Längsseiten der Hallen sitzen in Bodennähe hinter einer Lochblechabdeckung Luftauslässe, aus denen Frischluft, sofern notwendig auch vorgekühlt, mit einer Geschwindigkeit von 0,2–0,4 m/s »eingeschichtet« wird. Darüber, etwa in einer Höhe von 5 m, sind jeweils vier Weitstrahldüsen (Bild 7) so angeordnet, dass sie im Bedarfsfall die frische Luft erwärmen. In einer Höhe von rund 6 m wiederum saugen Pumpen die verbrauchte Luft auf und leiten die darin enthaltene Wärme über Wärmerückgewinnung wiederum an die Frischluft weiter. Auf diese Weise wird nur die untere Luftschicht ständig »umgewälzt« und somit weniger Energie verbraucht.
Das für Messehallen in dieser Größenordnung erstmals eingesetzte Lüftungsprinzip wurde mit Simulationsrechnungen entwickelt und in Modellversuchen im Maßstab 1:1 optimiert: Hierzu wurde mit CFD-Simulationen das thermische/strömungstechnische Verhalten bei verschiedenen Messeaufbauten und verschiedenen Klima- und Nutzungsdaten berechnet und analysiert und die Anordnung und Wirkungsweise der Schichtluftdurchlässe optimiert. Im 1:1-Modellversuch in einer zu diesem Zweck umgebauten Halle der bisherigen, »alten« Messe konnte dann wiederum mit Rauchversuchen das Strömungsverhalten bei realen Messeaufbauten analysiert sowie die auftretenden Luftgeschwindigkeiten und Temperaturgradienten gemessen werden. Erst danach erfolgte die Freigabe der Lüftungskonzeption.
Natürliche Be- und Entlüftung sowie Nachlüftung
Aufgrund des Höhenunterschieds zwischen der niedrigen und hohen Hallenseite können die Standardhallen bei günstigen Außenbedingungen natürlich be- und entlüftet werden. Dies wird zudem durch die günstige West-Ost-Ausrichtung der Hallen unterstützt. Abbildung 7 stellt die Luftströme dar, wie sie sich bei günstigen Außenbedingungen einstellen können. Die an den Längsseiten der Hallen angebrachten Lüftungsklappen werden gesteuert, um eine bestmögliche Durchströmung der Halle zu gewährleisten. Ziel ist es, die Auf- und Abbauphasen ohne zusätzliche mechanische Lüftung zu betreiben und bei Messebetrieb den Einsatz der mechanischen Lüftungsanlagen zu minimieren. Des Weiteren kann durch eine effektive Nachtlüftung der Kühlaufwand in den heißen Sommermonaten reduziert werden.
Sparsam
Der Einsatz lohnt sich. Allein durch das Lüftungskonzept können im Vergleich zu ähnlichen, modernen Messen Lüftungsanlagen in einer Größenordnung von 1 Mio m³/h eingespart werden und trotzdem noch ein höherer Komfort im Aufenthaltsbereich erreicht werden. Die Heizungs- und Kältetechnik konnte dadurch im Vergleich zu anderen Messen ebenfalls um rund 40 % reduziert werden. Die Optimierung ermöglichte zudem den wirtschaftlichen Einsatz von Wärmerückgewinnungsanlagen mit Rückwärmezahlen von über 80 % aufgrund der hohen Ablufttemperaturen. Wärmerückgewinnungsanlagen sind üblicherweise in Messen aufgrund der geringen Betriebszeiten und der hohen Anschlussleistung eher unwirtschaftlich.
Insgesamt konnten so etwa 15,6 Mio Euro Investitionskosten gespart werden. Zusätzlich kommen voraussichtlich jedes Jahr rund 0,45 Mio Euro Betriebskosteneinsparung hinzu. Neben der Ökonomie profitiert natürlich auch die Ökologie von einer derartigen Konzeption: Pro Jahr werden vermutlich 1 130 t CO2 eingespart, was ungefähr dem jährlichen Schadstoffausstoß von 220 Einfamilienhäusern entspricht.


  • Bauherr: Projektgesellschaft Neue Messe GmbH & Co. KG, Stuttgart
    Architekten: wulf & partner – Tobias Wulf – Kai Bierich – Alexander Vohl, Freie Architekten BDA, Stuttgart; Projektleitung: Steffen Vogt Ingenieure: Mayr + Ludescher Beratende Ingenieure GmbH, Stuttgart (u. a. Standardhallen); Leonhardt, Andrä und Partner Beratende Ingenieure VBI GmbH, Stuttgart (u. a. Parkhaus); Boll und Partner GmbH & Co. KG, Stuttgart (u. a. Kongresszentrum)
    Systemplanung (Lüftungskonzept), Technisch-wirtschaftliches Controlling: DS-Plan GmbH, Stuttgart
    Projektsteuerung: Drees & Sommer GmbH, Stuttgart
    Technische Ausstattung: Brandi IGH Ingenieure GmbH, Köln
    (Planung); Scholze Ingenieurgesellschaft mbH, Leinfelden-Echterdingen (Objektüberwachung)
    Gesamtkosten: 805,6 Mio Euro Bauzeit: 33 Monate (2004–2007)
Aktuelles Heft
Titelbild db deutsche bauzeitung 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de