1 Monat GRATIS testen, danach für nur 6,90€/Monat!
Startseite » Architektur » Verkehrsbauten »

Kleinigkeiten mit grosser Wirkung

Infrastrukturelemente am Pragsattel Stuttgart
Kleinigkeiten mit grosser Wirkung

Der Stuttgarter Pragsattel ist eine Kreuzung stark befahrener Bundesstraßen. Sie hat verhindert, dass die an sie angrenzenden Stadtteile zusammenwachsen können. Mit einem neuen Tunnel und dessen oberirdischen Gestaltungselementen hat sich daran nun etwas geändert. Der Knotenpunkt negiert nicht mehr jeglichen Bezug zu seinem Umfeld. Elemente der Straßeninfrastruktur wurden gestalterisch überhöht und können so zwischen Straße und Umfeld vermitteln.

    • Architekten: Scala Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Vössing / Leonhardt, Andrä und Partner

  • Text: Christian Holl Fotos: Peter C. Horn, Dirk Wilhelmy, Scala Architekten
Stuttgarts Pragsattel ist die am dichtesten frequentierte Kreuzung Stuttgarts und chronisch überlastet. Hier treffen drei Bundesstraßen aufeinander, 110 000 Fahrzeuge passieren nach Angaben der Stadt täglich den nördlichen Stadteingang, das Nadelöhr zwischen dem Zentrum und den Stadtteilen Feuerbach und Zuffenhausen. Ob man von Norden, etwa von der Autobahn kommt und in die Innenstadt oder nach Bad Canstatt will, oder man weiter nach Südwesten beispielsweise in Richtung Esslingen muss – der Pragsattel lässt sich kaum umgehen. Um die regelmäßig auftretenden Staus zu reduzieren, wurde der Pragsattel durchstochen: Dank eines neuen Tunnels von 720 Metern Länge kann nun der Verkehr der B 10, das entspricht 45 000 Fahrzeugen am Tag, unter der Kreuzung hindurchgeführt werden. Dennoch können weitere, stadtplanerische Vorschläge zur Verbesserung der Situation an dieser Stelle schwer überzeugen: Die Logik und Wucht des Verkehrs unterminieren alle Versuche, die Kreuzung so in ihr Umfeld zu integrieren, dass ein zusammenhängendes Stück Stadt entstünde. Das aber wäre nötig, denn Wohngebiete werden über dieses Nadelöhr untereinander und mit dem Zentrum verbunden. An der Straßenbahnhaltestelle Pragsattel halten vier Linien, in direkter Nähe liegt das Theaterhaus, dessen Konzerte und Aufführungen Besucher aus der ganzen Region anlocken. Durch die topografische Lage des Sattels bieten sich weite Blicke ins Land, der bis in die Innenstadt reichende Park grenzt im Süden an, im Norden liegt ein Hang mit Weinbergen.
In solchen Problemsituationen wird oft nach einem Weg gesucht, so viel wie möglich von dem unsichtbar zu machen, was man als (zer)störend empfindet: Je weniger Straße man sieht, umso besser, der Idealfall heißt: Straße weg, alles gut. Verkehrstechnisch ist das am Pragsattel aber nicht möglich, dafür sind die Dimensionen des Verkehrs zu gewaltig.
Das Stuttgarter Büro Scala hat einen anderen Weg gewählt. Es war über ein VOF-Verfahren beauftragt worden, den Tunnel mit all seinen notwendigen Elementen wie etwa Fluchttreppenhäusern im Rahmen eines bescheidenen Budgets zu gestalten. Die technischen Rahmenbedingungen, etwa Lage und Anzahl der aus sicherheits- und lüftungstechnischen Gründen notwendigen Bauteile, waren durch die Verkehrsplanung festgelegt. Scala sollte in den Fragen ihrer Gestaltung beratend tätig sein, um dem spröden Ingenieurbauwerk ästhetische Präsenz zu verleihen. Die anfängliche Beratertätigkeit wurde dann allerdings für einzelne Aufgaben als Architektenleistung erweitert. So konnte aus den einzelnen Verkehrsbauwerken ein in sich stimmiges Konzept, eine einheitliche »Verkehrsarchitektur« entstehen – ›
› was laut Architekten vor allem einem verständigen Bauherren zu verdanken war. Die Planer negieren nicht die Straße, den Verkehr, seine Infrastruktur, die Zeichen der Schilder, sondern überhöhen diese Elemente, vergrößern sie, verändern den Kontext, in den sie eingefügt sind, machen sie sichtbar. Machen sogar auch das sichtbar, was nicht mehr zu sehen ist.
Überhöht, vergrössert, verfremdet
Am nördlichen Tunnelportal trennt eine etwa zehn Meter hohe und 25 Meter lange Betonscheibe die beiden Tunnelröhren. »Prag« steht in Orange auf Rot auf der einen, »Sattel« auf der anderen Seite geschrieben. Ein Edelstahlgewebe wurde auf beiden Seiten der Betonscheibe vorgehängt, so dass sich je nach Lichtsituation und Blickwinkel unterschiedliche Eindrücke erge-ben – interessant für den im Auto Vorbeifahrenden, aber auch für den, der auf andere Weise regelmäßig diesen Ort kreuzt. Nebeneinander sind ein roter Lichtkasten und ein grüner Lichtkasten als Balustrade über das Portal gespannt, unter dem Grünen liegt die Ein-, unter dem roten die Ausfahrt. Sichtbar ist dies nicht nur für den Autofahrer, sondern auch für den Fußgänger und Radfahrer, etwa wenn er die Brücke benutzt, die etwas weiter nördlich in elegantem Schwung und mit plastisch geformtem Tragwerk (Entwurf und Planung: Schlaich Bergermann + Partner, siehe db 2/06) die Stadtteile zu beiden Seiten der Stadtautobahn verbindet. Wer es auf sich nimmt – oder nehmen muss –, die Kreuzung überirdisch über Fußgängerampeln zu überqueren, dem zeigen rote Balken auf grüner Wiese ein Stück weit, wo der Tunnel unter ihm verläuft. Wie Eisenfeilspäne der unsichtbaren Kraft des Magneten folgen, scheinen diese roten Quader von der Kraft des unterirdisch verlaufenden Tunnels ausgerichtet zu werden. Sie sind Skulptur, Sitzbank und Lichtelement in einem.
Der südliche Ausgang des Tunnels endet vor dem denkmalgeschützten Löwentor, dem Eingang zum bis 1838 vom württembergischen König angelegten Rosensteinpark. Diesem Tor gegenüber war Zurückhaltung geboten, daher ist dieses Tunnelportal deutlich dezenter gestaltet. Drei orangerote und rote Scheiben überdeckeln jeweils horizontal Ein- und Ausfahrt. In das auch diese Schieben überziehende Edelstahlgewebe ist in einem speziellen Polyspektralverfahren der Verlauf der B 10 eingezeichnet und mit den Namen einiger an ihr liegenden Städte beschriftet. Zu sehen ist dies allerdings nur für die Benutzer der hier noch oberirdisch verlaufenden Straßenbahn. Für den Autofahrer wiederum sind die die Ein- und Ausfahrten begleitenden Lärmschutzpaneele mit Pfeilen überzogen. Diese geben zwar die Fahrtrichtung an – aber sowohl ihre große Anzahl als auch die Tatsache, dass eine Richtungsänderung hier ohnehin nicht möglich ist, machen aus dem Zeichen ein grafisch dekoratives Element; seine Form verselbstständigt sich, ohne den Bezug zu dem, was es bedeutet, zu verlieren. ›
› Oberirdisch treten vor allem die drei Fluchttreppenhäuser und ein Lüftungsbauwerk in den Vordergrund. Auf den Fluchttreppenhäusern ist auf Industrieverglasung übergroß das den Fluchtweg anzeigende Piktogramm seriell aufgedruckt, der Schriftzug »Bautechnik« auf dem Lüftungsbauwerk verweist auf dessen Nutzung.
Ein wichtiges Element in der gesamten Planung ist das Lichtkonzept. Alle beschriebenen Elemente sind auch bei Nacht präsent: die farbigen Portal-geländer am Nordportal, die die Portale begleitenden Scheiben ebenso wie die Häuschen, die durch die hinterleuchteten Verglasungen wie Vitrinen oder übergroße Lampenschirme wirken.
Den Transitraum verortet
Die Raffinesse dieser Interventionen liegt nicht allein in ihrer Präsenz, sondern in ihrer Kraft, das eigentlich Trennende als einen zentralen und sichtbaren Bezugspunkt für das Umfeld zu aktivieren. Straße und Tunnel werden in den Kontext einbezogen, transformieren selbst die Impulse des Umfelds. Das landschaftliche Element des angrenzenden Parks, die grafische Wirkung und die farbliche Prägnanz des Weinbergs sind ebenso verarbeitet wie die sich in platten Werbebotschaften an den Autofahrer richtenden Reklamen und die Ästhetik der Industrie- und Gewerbebauten. Erst indem die Architekten die Straße als einen an einen Ort gebundenen Raum und nicht als einen Transitraum betrachtet haben, konnten sie ihn in seiner Komplexität gestalten. Und sie haben dabei alle Bewegungsarten mit einbezogen und miteinander spielerisch kombiniert. Nur dem Fußgänger oder Radfahrer gelingt es, die beiden Begriffe »Prag« und »Sattel« unmittelbar miteinander zu verbinden, obwohl gerade sie sich in ihrer Größe an den Autofahrer zu richten scheinen.
Durch all dies wird zwar weder Lärm noch Abgasbelastung gemindert, die Unfallgefahr nicht beseitigt und das Überqueren der Kreuzung bleibt mühselig. Aber der Pragsattel existiert nun als Ort. Und nicht nur als eine Kreuzung, die täglich 110 000 Autos passieren. •
  • Bauherr: Landeshauptstadt Stuttgart, vertreten durch das Tiefbauamt, Klaus Hofmann Architekten: Scala Esefeld & Prof. Nagler Freie Architekten BDA, dwb Stadtplaner SRL Mitarbeiter: Michael Bär, Sayman Bostanci, Dubravko Tomac Generalplanung: Ingenieurbüro Vössing, Stuttgart Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Vössing, Stuttgart / Leonhardt, Andrä und Partner, Stuttgart (Architekturelemente) Bruttorauminhalt (Tunnelröhren): 220 000 m³ Baukosten Architekturelemente: 1 Mio Euro (gesamt: 95 Mio Euro) Bauzeit: 2002– 2007
  • Beteiligte Firmen: Metallfassaden (»Scheibe«, Löwentor, Fluchttreppenhäuser, Technikbox): Diedtmann, Stuttgart, mit Haver Boecker, Oelde (Edelstahlgewebe) Industrieglas Fluchttreppenhäuser: Roleff, Altbach
Aktuelles Heft
MeistgelesenNeueste Artikel

Architektur Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Architektur-Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Medien GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum arcguide Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des arcguide Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de