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Käfer statt Vögel

Holz »pragmatisch«
Käfer statt Vögel

Aus Kosten- und aus statischen Gründen habe sich die Holzkonstruktion des Gebäudes so ergeben, lautete die simple Antwort der Architekten auf die Frage nach der Wahl des Baumaterials. Auch war Holz aus bauphysikalischen Gründen einfach besser – schließlich können die schlanken Wände Dämmwerte erreichen, die mit gewöhnlichem Stahlbeton oder Mauerwerk nicht in der Dicke zu erfüllen gewesen wären. Doch das Haus überzeugt nicht nur wegen seiner Materialität und ausgefeilten, dennoch einfach wirkenden Konstruktion, sondern vor allem aufgrund seines einzigartigen Raumerlebnisses.

  • Architekten: Kraus Schönberg Architekten Tragwerksplaner: Werner Sobek Ingenieure
  • Kritik: Claas Gefroi Fotos: Ioana Marinescu, Kraus Schönberg Architekten
Die Hamburger Walddörfer sind nicht gerade die Gegend, in der man unorthodoxen, innovativen Wohnungsbau, noch dazu in Holz, vermuten würde. Hier, im idyllisch-grünen, einst ländlichen Nordosten der Stadt ist man konservativ (Bürgerschaftswahl 2008: CDU 53,1 %), sicher (niedrigste Kriminalitätsrate Hamburgs), unter sich (niedrigster Ausländeranteil Hamburgs) und gut situiert (niedrigster Anteil von Hartz IV-Empfängern Hamburgs). Auch die das Bild prägenden Einfamilienhäuser sind eher bodenständige Vertreter aus Rotklinker mit Satteldach. Geradezu wie ein Affront wirkt da diese kleine Kiste aus Holz und Glas, die die jungen Architekten Tobias Kraus und Timm Schönberg für eine Familie in den Boden gegraben haben. Die Fremdartigkeit ist nicht nur den ortsuntypischen Materialien geschuldet, sondern auch deren eigenartiger Verteilung: Das OG, verschalt mit weiß gestrichenem Douglasienholz, thront auf einem gläsernen Sockel und wirkt, als schwebe oder balanciere es in einem prekären Gleichgewicht. Diese Wirkung ist kein vordergründiger Effekt, sondern den Zwängen des Ortes geschuldet: Erlaubt war auf dem Grundstück nur eine eingeschossige Bebauung auf kleiner Fläche, die nicht genügend Wohnraum geboten hätte. Die Architekten entwickelten daraufhin einen Zweigeschosser, der baurechtlich keiner ist, weil das EG – 1,5 m tief in die Erde gesteckt – nicht als Vollgeschoss gilt. Damit auf Grasnarbenebene keine Souterrain-Beklemmungen aufkommen, wurde der oberirdische Anteil der Etage komplett verglast. Es ist hell und heimelig in diesem Betontrog, dessen Oberfläche die ursprünglichen Schalungsbretter strukturierten. Auf freier Fläche wird gewohnt, gekocht und gegessen, bei schönem Wetter auch draußen auf einer in das Gelände eingegrabenen Terrasse. Lediglich der Ausblick ist ungewohnt: Statt Vögel in den Bäumen beobachtet man hier eher Käfer im Gras.
Geschärfte Wahrnehmung
Ungewöhnlich ist auch die variierende Deckenhöhe im EG. Sie ist den unterschiedlichen Höhen der darüber liegenden Räume im OG geschuldet. Die Architekten sind nicht zu Unrecht der Auffassung, dass unterschied- liche Nutzungen eine Differenzierung der Räume nicht nur in der Fläche, sondern auch in der Höhe notwendig machen und haben sie entsprechend in der dritten Dimension gestaffelt. So ist beispielsweise einer der Räume darauf ausgerichtet, das Hochbett der Kinder aufzunehmen. Da das Flachdach tatsächlich flach bleiben sollte, ragen die Räume des OG nun also wie in einer Skulptur von Rachel Whiteread unterschiedlich tief hinab in die untere Ebene. Es ist eine beeindruckende Erfahrung: Räume bleiben nicht länger von Wänden, Böden und Decken umschlossene Volumen, sondern werden als Körper spürbar.
Durch den Trick der Differenzierung und Staffelung des OG nach unten wird die außen so eindeutige Einteilung in zwei Ebenen im Hausinneren aufgehoben. Statt eine gemeinsame horizontale Ebene zu definieren, ›
› winden sich die Räume um einen in der Mitte angeordneten, nach oben abgeschlossenen Luftraum hinauf. Immer wieder muss man auf dem Rundweg durch die obere Etage kleine Treppenstücke mit zwei oder drei Stufen hinauf oder hinab laufen; eine interessante Erfahrung, die die Wahrnehmung des Raumes schärft. Es entwickelt sich, nicht zuletzt durch die vielen Fenster und Wandeinschnitte im Innern, auf nur 125 m2 Nutzfläche ein außerordentlich komplexes, spannungsvolles Raumgefüge. Der Luftraum, in den ein eindrucksvolles 6 m hohes Bücherregal eingebaut wurde, fungiert dabei als Zentrum und Schnittstelle. Hier kreuzen sich erstaunliche Sichtbeziehungen: vom elterlichen Schlafraum in das eine Kinderzimmer, vom anderen Kinderzimmer hinunter zur Küche, ja sogar vom bodentief verglasten Bad in den Wohnraum. Man bleibt also auf dem Laufenden über das Geschehen. Aber auch der Blick durch drei Fensterebenen über das Atrium hinweg bis zum Wald ist atemberaubend. Es ist dieses Spiel zwischen Gemeinsamkeit und Individualität, zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die dieses Haus so einzigartig macht.
Wundervoll einfach
Die Komplexität des Hauses spiegelt sich in seiner Konstruktion wieder, denn das einzigartige Raumerlebnis ist Ergebnis eines ungewöhnlichen Tragsystems, das die jungen Architekten zusammen mit dem Büro von Werner Sobek entwickelt haben: In die Ortbetonwanne des EG wurden schlanke Rundrohrstützen eingespannt, auf denen ein Holztragwerk aus kreuzweise verleimten Fichtenholzplatten ruht. Sie bilden, miteinander verschraubt, die Böden und Wände der Raumkuben des OG. Die Verwendung von Kreuzlagenholz ermöglicht eine für die Holzbauweise erstaunliche Spannweite und Steifigkeit, so dass die Hauptwandscheiben ohne weitere Unterstützung über die gesamte Gebäudetiefe bis zu knapp 12 m reichen – im EG verstellt keine Stütze den wunderbar offenen Raum.
Die Nutzung von Kreuzlagenholz (auch Brettsperrholz genannt) im Hausbau ist erst seit den 90er Jahren in Deutschland gängige Praxis. Zur Herstellung der massiven Holztafeln werden drei bis sieben über Kreuz gestapelte Brettlagen miteinander verleimt. Der Vorteil des Verfahrens: Die Schichtung von Quer- und Längslagen des Holzes übereinander verhindert die (bei Einzelbrettern) übliche Dimensions- und Lageänderungen durch wechselnde Luftfeuchtigkeit und ermöglicht damit erst die hohe Formstabilität und Steifigkeit.
Durch die großen Spannweiten herrschen an den Auflagerpunkten hohe Drucklasten. Um sie in die Stahlstützen einzuleiten, wurden in die Massivholzplatten Stahllamellen einlaminiert. Die innovative, wie ein überhoher Trägerrost funktionierende Konstruktion aus gleichermaßen tragenden Außen- und Innenwänden war kompliziert zu berechnen, besitzt aber einige Vorzüge: Da alle Wände gleichermaßen zur Lastabtragung genutzt werden, konnten Innen- wie Außenwände mit gerade einmal 11,7 cm Durchmesser (bei Außenwänden zzgl. Dämmung und Außenverschalung) außerordentlich schlank gehalten werden. Zudem ist es ein sehr kostengünstiges System, denn die hölzernen Wand- und Bodenscheiben wurden, mit allen Aussparungen für Türen und Fenster, in der Fabrik vorgefertigt und vor Ort in zwei Tagen zusammengeschraubt. Sie blieben zudem innen völlig unbekleidet und erhielten lediglich einen weißen Acrylfarbanstrich; auch dies spart Zeit und Geld, fördert zudem ein gesundes Raumklima und die Recyclingfähigkeit. Und: Der Naturstoff Holz bleibt in seiner Haptik, seiner Struktur und seinem Geruch immer präsent. Es musste nicht einmal in den Brandschutz investiert werden, denn Kreuzlagenholz-Platten erreichen ohne zusätzliche Maßnahmen wie Feuerschutzplatten die Feuerwiderstandsklasse F90.
Durch die Vorfertigung und den geringen Arbeitsaufwand vor Ort konnte das ganze Haus letztlich in nur vier Monaten Bauzeit errichtet werden und kostete unter 300 000 Euro. Als einziger Nachteil steht all dem gegenüber, dass die einmal gewählte Raumkonfiguration im OG später nicht oder nur schwer verändert werden kann, weil sich keine Wände versetzen oder herausnehmen lassen. Doch auch im konventionellen Wohnungsbau tritt dieser Fall höchst selten ein. ›
› Auch unter energetischen Aspekten kann sich die Wohnkiste sehen lassen: Die schlechte Wärmeleitfähigkeit der Holzwände sowie die außenliegende, hinter der Fassadenschalung angebrachte Dämmung machen das Gebäude zu einem Niedrigenergiehaus mit einem Jahresprimärenergiebedarf von knapp unter 60 kWh/m2. Der Transmissionswärmeverlust liegt unter 0,30 W/m2K – und dass, obwohl die Außenwände des EG einen hohen Glasanteil (Zweifach-Verglasung) besitzen. Geheizt wird mittels Geothermie, wobei der Strom für die Wärmepumpe nicht mehr als 50 Euro pro Monat kostet.
Man sieht: Dieses kleine, außergewöhnliche Wohnhaus ist nicht etwa einer gestalterischen Obsession seiner Architekten entsprungen. Es ist die perfekte Umsetzung einer neuartigen Vorstellung des familiären Zusammenlebens in einem Einfamilienhaus, das zusammen mit den Nutzern und den Tragwerksplanern entwickelt wurde. Dafür wurde ein höchst effizientes und zudem kostengünstiges Tragwerk ausgetüftelt, für das einzig der Werkstoff Holz in Betracht kam. Dass dieses Haus auch noch die Ressourcen schont, ein natürliches Wohnklima schafft und recyclingfähig ist, zeigt, dass eine gute Gestaltung und ökologisches, nachhaltiges Bauen überhaupt kein Widerspruch sein müssen. Es ist eine im backsteinernen Norden ungewöhnliche Kiste aus Holz und Glas, doch sie wird Schule machen – das ist gewiss. •
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