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Hütten, Schuppen, Gleise

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Hütten, Schuppen, Gleise

Die wechselvolle Geschichte der Region Les Landes – eingefangen und erzählt entlang der Gleise. Ein Museum, das nicht nur durch seine Exponate, sondern auch durch Materialwahl, Formensprache und Erscheinungsbild Historie reflektiert und interpretiert. Ein narrativer Versuch, Geschichte zu verorten. Und ein Gebäude, dessen eigenwillige Erscheinung eine sehr eigene Atmosphäre ausstrahlt; Bilder evoziert. Der »Geist des Ortes« als Geist einer vergangenen Zeit. Ein spannungsreiches Projekt, das Fragen aufwirft.

  • Architekt: Bruno Mader Tragwerksplanung: 3B BET BATUT
  • Kritik: Hubertus Adam Fotos: Gaston Bergeret, Bruno Mader, Serge Demailly
Von Bordeaux aus führt die Fahrt Richtung Süden, vom Département Gironde ins Département Landes. Das Land ist leicht gewellt, meist flach; die Straßen sind schnurgerade, ein Knick nach Kilometern wirkt wie eine Attraktion. Kiefern säumen die Straßen: Kiefern soweit das Auge sieht. Kiefern, nichts als Kiefern, von Farnen und Heidekraut in der Bodenzone einmal abgesehen.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sah die Gegend, die ich gerade durchquere, noch völlig anders aus. Ziehen wir Quellen zu Rate: Aimery Picaud beispielsweise, der im 13. Jahrhundert einen Pilgerführer für jene Reisenden schrieb, die auf dem Weg nach Santiago di Compostela die Landes auf der Route Bordeaux–Dax durchquerten. Es sei ein Landstrich, dem es an allem mangele; es gebe kein Brot, keinen Wein, kein Fleisch, keinen Fisch, kein Wasser und keine Quelle. Der einzige Rat, den Picaud seinen Lesern geben konnte, bestand darin, das Gesicht vor den Sandstürmen und den lästigen Insekten zu schützen. Zu nennen wäre auch Théophile Gautier, der sechshundert Jahre später von der »französischen Sahara« sprach.
Wie die Landschaft entstand und weshalb sie sich wandelte, erzählt seit Mitte dieses Jahres der »Pavillon des Landes de Gascogne«, Teil des Ecomusée Landes bei Sabres, knapp hundert Kilometer südlich von Bordeaux.
Im Französischen steht der Begriff Ecomusée für Freilichtmuseum. Dieses Museumskonzept, das zur Zeit der Nationalromantik um 1900 zunächst in Skandinavien entstand, erreichte Frankreich erst relativ spät, und das Ecomusée Landes gilt mit seiner Einweihung im Jahr 1970 als erste Institution dieser Art. Das Entstehungsdatum war wohl kein Zufall: Die Idee der permanenten Progression war seit 1968 erschüttert, ›
› eine Besinnung auf die Tradition setzte ein. Drei Kilometer von Sabres entfernt standen im Wald noch einige Häuser, die von der ursprünglichen Besiedlung der Landes zeugten. Diese wurden restauriert und um sie herum fanden einige alte Häuser aus der Region eine neue Bleibe. Das Museumsdorf Marquèze war entstanden.
kumulierte Geschichte
Es ist kurz vor zwölf, als ich in Sabres eintreffe. An der Straßenkreuzung inmitten des Dorfs fahre ich nach rechts und erreiche den alten Bahnhof. Auf den Gleisen vor dem Lokschuppen stehen einige Güter- und Personenwagen. Doch die Zeiten, da Sabres mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen war, sind lange vorbei. Um 1900 hatte man den Ort mit einer zwanzig Kilometer langen Stichtrasse an die von der Compagnie du Midi betriebene Hauptlinie Bordeaux – Bayonne angebunden; von Labouheyre aus führte die Strecke weiter nach Mimizan an der Atlantikküste. Im Zeitalter der forcierten Individualmobilität aber war Schluss mit der Personenbeförderung, der Güterverkehr wurde zwanzig Jahre später eingestellt, im Jahr 1970.
Ein drei Kilometer langes Teilstück aber blieb erhalten: ein Museumszug mit Waggons aus dem Jahr 1903 bringt die Besucher alle vierzig Minuten im Pendelverkehr von Sabres nach Marquèze. Am Schalter im Bahnhofsgebäude kaufe ich eine Eintrittskarte für das Museum, doch über Mittag ruht der Zugbetrieb.
Der »Pavillon des Landes de Gascogne« des in Paris tätigen Architekten Bruno Mader, der den Wettbewerb unter vier Büros mit vorgeschalteter Präqualifikation gewonnen hatte, steht direkt jenseits der Gleise. Es ist eine lang gestreckte, mit Holz verkleidete Struktur. tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche, Ateliers, Auditorium, Magazine und Verwaltungsräume – das ist für einen Pavillon ein durchaus erkleckliches Raumprogramm. 6,6 Millionen Euro wurden für seine Errichtung investiert, eine konzertierte Aktion des französischen Staats, der Region Aquitanien, den Départements Landes und Gironde sowie der Europäischen Union.
Auch hier, so bedeutet mir die freundliche Aufseherin, wird um zwölf Uhr für zwei Stunden geschlossen. Das gilt auch für die Boulangerie an der Straßenkreuzung in Sabres, und so döse ich ein wenig unter Kiefern an diesem warmen Spätsommertag.
Kurz vor zwei Uhr stehe ich wieder am Bahnhof, um mit dem ersten Zug des Nachmittags nach Marquèze zu fahren. Eine Diesellokomotive zieht die rumpelnden Waggons durch den von Lichtungen unterbrochenen Kiefernwald, und nach zehn Minuten ist die Endstation erreicht. Weiter vorne verliert sich das alte Gleis irgendwo im Sand. Eine Führerin begrüßt uns, er- läutert die Verhaltensregeln im Museumsdorf und bietet eine geführte Tour an. Ich entscheide mich für den individuellen Rundgang durch das 19. Jahrhundert und gehe zunächst zu dem an ein kleines Flüsschen angrenzenden Teil der Streusiedlung, wo neben der Wassermühle das Haus des Müllers steht. Die Häuser in Marquèze, die einen Zustand um 1836 repräsentieren, sind zumeist klein; aus Fachwerk errichtet, zum Teil verputzt, werden sie von weit ausladenden Ziegeldächern überfangen. Das Haus des Müllers zählt zu den größten; der Müller, der die gesamte Umgebung mit Brot versorgte, war ein vergleichsweise reicher Mann. ›
› Die meisten übrigen Bauten sind kleiner, Ställe, Schober und Scheunen bilden ein weitverstreutes Gefüge. Man erfährt vieles über die ärmliche Lebensform der Bevölkerung, in Tracht verkleidete Museumsangestellte demonstrieren alte Handwerkstechniken und lassen jene Zeit anschaulich werden, die nur aus der Distanz heraus romantisch wirkt. Der Zug bringt mich wieder nach Sabres.
französische sahara und heideland
Im Ausstellungspavillon informiere ich mich: Topografisch sind die Landes (das französische Wort »lande« steht für Heide) Teil des aquitanischen Beckens, das »Triangle des Landes« mit seiner Fläche von einer Million Hektar Fläche spannt sich zwischen Saitoc im Norden, Capbreton im Süden und Nérac im Osten auf. Eigentlich handelt es sich um ein riesiges Schwemmlanddelta, das von der im Massif central entspringenden Garonne und dem in den Pyrenäen sich bildenden Fluss Adour gebildet wurde. Vor Millionen von Jahren wich der Ozean zurück, doch der Wind trieb den feinen weißen Sand stets wieder ostwärts. ›
› Aufgabe des neuen Pavillons ist es, die Brücke zu schlagen vom beginnenden 19. Jahrhundert zur Gegenwart. Denn die bäuerlichen Lebensformen, die in Marquèze inszeniert werden, endeten um 1850. Vorschläge, die Sumpf- und Heidelandschaft des »Triangle des Landes« in irgendeiner Weise zu nutzen, hatte es schon seit Jahrzehnten gegeben. Mal stand ein mitten durch das Territorium gezogener Kanal zur Entwässerung zur Debatte, dann wiederum wollte man die Sandwüste mit einer zehn Zentimeter dicken Humusschicht überdecken. Wenig Widerhall fand die Idee, Arme und Obdachlose aus den nach den napoleonischen Kriegen in die Krise geratenen städtischen Agglomerationen des Landes zur Kolonisation zwangszuverpflichten. Selbst den Dromedaren, die man 1830 aus Tunesien importiert hatte, schien die Gegend nicht zu gefallen – sie endeten im Zirkus.
Die Wende brachte das 1857 unter Napoleon III. erlassene Gesetz »de l’assainissement et la mis en culture des landes de Gascogne«. Findige Ingenieure und Agrotechniker hatten zuvor erprobt, wie man der französischen Sahara beikommen könnte: durch ein – wo nötig – aus Bächen kleinteilig organisiertes Drainagesystem und durch Aufforstung mit Kiefern. Kiefern wachsen schnell, sie konnten als Grubenholz für die nordfranzösische Bergwergsregion verwendet werden – und sie lieferten Harz, einen in der Zeit der Industrialisierung eminent wichtigen Rohstoff.
Die neue Ökonomie der Waldwirtschaft beendete die rurale Tradition, und die Landflächen gelangten zu 95 Prozent in Privatbesitz, was erklärt, wieso die auf bescheidenem Ackerbau und Viehzucht basierenden Dörfer sich anfangs gegen das neue Konzept wehrten. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts waren 25 000 Arbeiter mit der Harzgewinnung beschäftigt. Verheerende Waldbrände in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Kehrseite der Verwandlung der Landes in eine Monokultur. Rodungszonen wurden angelegt, um weitere Katastrophen zu verhindern, und da Naturharz dank synthetischer Ersatzstoffe kaum noch Absatz fand, begann man mit einer neuen monokulturellen Strategie: dem Maisanbau.
Heute gelten die Landes mit 900 000 Hektar und einem Holzschlag von sechs Millionen Kubikmeter als das größte forstwirtschaftlich genutzte Waldgebiet der Welt. In der Eigenart, dass sich Natur und Künstlichkeit, Ökonomie und Ökologie auf eine spezielle Weise vereinen, sind sie als regionaler Naturpark eingestuft, der zunehmend auch auf touristisches Interesse stößt.
hölzerne schuppenlandschaft entlang der gleise
So fungiert der »Pavillon des Landes de Gascogne« als Besucherzentrum für eine ganz eigene Kulturlandschaft. Dieser steht am richtigen Ort: im Wald – und am Bahnhof, von dem aus einst die Kesselwagen mit Harz und die Güterzüge mit Baumstämmen abfuhren. Dem Wunsch nach Nachhaltigkeit entsprechend, hat Bruno Mader über einer Betonplatte parallel zu den Gleisen eine lang gestreckte Baustruktur weitgehend aus Holz errichtet. Um eine zentrale Erschließung gruppieren sich einzelne Raumkompartimente: im Osten auf zwei Geschossen Depots, Atelier, Verwaltung und Nebenräume (aus klimatischen Gründen als Massivbau ausgebildet), im Westen Auditorium und Ausstellungssäle, welche die gesamte Höhe der Gebäudes nutzen und weitgehend flexibel bespielt werden können. Die Differenzierung der in Grundriss und Schnitt zum Teil polygonal verformten Teilbereiche lässt das mit einem gemeinsamen Satteldach überdeckte Gebäude je nach Standort und Blickwinkel mal als Ensemble von Häusern, mal als kompakte Baumasse erscheinen. In seiner Maßstäblichkeit vermittelt es somit assoziativ zwischen den Güterschuppen der Bahnanlagen und den kleinteiligen historischen Gebäuden, wie man sie paradigmatisch in Marquèze sieht. Die verdeckten Referenzen gehen noch weiter: Das Tragwerk besteht aus einer Holzständerkonstruktion und wurde somit in einer Bauweise errichtet, die sich als eine Modernisierung der historischen Fachwerkkonstruktion ›
› verstehen lässt, wie man sie an den Bauernhäusern des Freilichtmuseums Marquèze sehen kann. Als Material verwendete Mader die heimische Kiefer – auch für die äußere Verkleidung, welche mit ihrem dichten Rhythmus schmaler Stäbe sich über die Unterkonstruktion und die festen Bauteile, aber auch über die Fensterflächen und das Dach zieht. Repetitiv und doch skulptural, geduckt und gestreckt zugleich steht das Gebäude neben den Gleisen, es wirkt industriell und doch mit seinem warmen Holzton auch irgendwie wohnlich. Mit seiner All-over-Struktur zeigt es sich rätselhaft: Was für eine Funktion es hat, bleibt zunächst unklar.
Im Inneren bleibt die Konstruktion mit ihren im Abstand von 120 Zentimetern angeordneten Brettschichtträgern, welche das Dach tragen, sichtbar, die Wände aus Sperrholzplatten sind weiß gestrichen. Die Dauerausstellung zur Geschichte der Landes ist im südwestlich angeordneten Raumbereich angeordnet; der Saal mit seiner offenen, holzsichtigen Deckenuntersicht wird auf der Erdgeschossebene durch szenografische Einbauten unterteilt. Die mittige Galerie, welche von einer Shedkonstruktion belichtet wird, ist derzeit mit Teilen des Auditoriumsbereichs zu einer Sonderausstellungszone zusammengefasst. Hier wie auch in der Dauerausstellung haben die vom Museum engagierten Szenografen leider den Bezug zum Außenraum verstellt. Eigentlich öffnet sich das Museum durch große Scheiben an verschiedenen Stellen zur Landschaft. Diese Verzahnung wird in der derzeitigen Bespielung nicht erfahrbar. Dabei ist die Öffnung zur Landschaft, wie Bruno Mader erklärt, gerade das Ziel des Gebäudes. Werden die Fenster von außen hin kaschiert, so sind sie im Inneren eigentlich wirkungsbestimmend. Die Perspektive weitet sich zur Landschaft, welche den Ort und das Objekt überhaupt erst konstituiert und sinnvoll macht.
Um 18 Uhr drängt mich die freundliche Aufseherin erneut zum Ausgang. Ich überquere die Gleise, und auch das kleine Holztor neben dem Bahnhof wird hinter mir geschlossen. Unter Kiefern parkt mein Wagen, ich steige ein. In der Ortsmitte von Sabres geht es nunmehr nach links, dann eigentlich immer nur geradeaus. Kiefern, nichts als Kiefern. •
Bauherr: Parc Naturel régional des Landes de Gascogne, Belin-Beliet (F) Architekt: Bruno Mader Architecte DPLG, Paris (F) Mitarbeiter: Michael Guzy Projektarchitekten: (Bauleitung) Guy Escoubet – Rémy Tarricq, Mont de Marsan (F) Tragwerksplanung Holz: 3B BET BATUT, Montauban (F) Tragwerksplanung: Beton: Otce Aquitaine, Saint Pierre de Mont (F) Landschaftsarchitekten: Acanthe – Mutabilis, Paris (F) Haustechnik: Louis Choulet, Clermont Ferrand (F) Wettbewerb: 2004 Bauzeit: Juli 2006 bis März 2008 Baukosten: 6,6 Mio. Euro
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