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Atmosphäre: Pop-up-Restaurant in London, Carmody Groarke

Haute Cuisine statt Haute Couture
Pop-up-Restaurant in London (GB)

In Stratford im Nordosten Londons, gegenüber dem Gelände für die Olympischen Spiele 2012, soll nächstes Jahr das Einkaufszentrum Westfield Stratford City eröffnen. Auf dem Dach des Rohbaus thronte im Frühsommer das Restaurant »Studio East«. Seine Konstruktion bestand aus temporären Helfern der Baustelle – Gerüststangen, Bohlen und Baustellenplanen –, die für drei Wochen zu ätherischer Grandezza aufstiegen und, trotz aller Kritik an Details, eine ungewohnte, einzigartige und berauschende Atmosphäre schufen.

    • Architekten: Carmody Groarke
      Tragwerk /Gerüstbau: Benchmark Scaffolding

  • Kritik: Alex Haw
    Fotos: Christian Richters, Paul Riddle
Das riesige, derzeit im Bau befindliche Einkaufszentrum »Westfield Stratford City« deutet auf eine soziale Umstrukturierung und den schnellen Wandel eines Bezirks hin: Während sich Westfield, ein Immobilienunternehmen mit dem weltweit größten Bestand an Einzelhandelsflächen, als Marke mit »neuen Einzelhandelskonzepten« und »neuem Luxus« darstellt, ist der Stadtbezirk Newham, in dem dieses größte innerstädtische Einkaufszentrum Europas entstehen soll, einer der zehn unterprivilegiertesten im ganzen Königreich. Doch die Bauarbeiten für die olympischen Spiele haben die Grundstücke in Newham für Investoren interessant gemacht. Da Westfield das Potenzial der benachbarten Olympia-Baustelle als unterhaltsames Spektakel erkannte, entschied es sich, auf dem Dach des neungeschossigen Rohbaus einen temporären Aussichtspunkt anzubieten. Zwar lässt sich bereits von der öffentlichen Aussichtsplattform »ViewTube« das rasche Fortschreiten der Olympia-Baustelle beobachten, doch haben die Besucher von hier ein noch besseres Panorama über das gesamte Gelände, mit der Skyline der Londoner City im Hintergrund.
Um Aufmerksamkeit zu erzielen, suchte sich Westfield einen lokalen Partner mit einem toughen und doch eleganten Image. Sie fanden ihn in »Bistrotheque« – einer Kombination aus Restaurant und Kabarett, deren Gründer Pablo Flack und David Waddington für hochwertige und »trendige« Konzepte stehen und in deren Visionen Design mit Grunge und Haute Cuisine mit Camp (einer Art »trashiger« Kunst) verbunden sind. Das Team beansprucht die Erfindung des »Pop-up-Restaurants« für sich, gemeinsam mit ihrem Chefkoch bekamen sie bereits überschwängliche Kritiken. Mit ihrem rustikal-kitschigen Weihnachts-Pop-up-Event »The Reindeer« eroberten sie 2006 London im Sturm. Bei dieser Veranstaltung luden sie innerhalb von 23 Tagen 13 000 Personen in Gruppen von 250 zum Dinner. Dieser meteoritenhafte Aufstieg half ihnen beim Erklimmen des Einkaufszentrums von Westfield Stratford, sie bekamen den Auftrag für die Leitung des Pop-up-Restaurants »Studio East«.
Magersüchtiges Tragwerk mit magischer Wirkung
Ihrerseits beauftragten Flack und Weddigton Carmody Groarke, Gewinner des britischen Preises »Young Architect of the Year« 2007, die sie bei einer gemeinsamen Arbeit kennengelernt hatten. Der Australier Kevin Carmody traf Andy Groarke aus Manchester im Büro von David Chipperfield. Ihr eigenes Büro gründeten die beiden 2006. Ihr minimalistischer Stil zeigt viel von Chipperfields Einfluss und entspricht der Haltung vieler Architekten ihrer Generation. Ihre fast schon konservative Zurückhaltung würde man auf den ersten Blick nicht als beste Ergänzung für die trashig-kitschigen und ironischen Anflüge ihres Bauherrn erachten. Doch konnte man die dünne äußere Haut des Studio East-Pavillons tatsächlich als Interpretation dessen verstehen, dass für die Modewelt die Oberfläche wichtiger ist als der Inhalt, die Haut wichtiger als die Knochen. Er ist bzw. war eines der ätherischsten Werke von Carmody Groarke. Die endlosen, im Raster angeordneten Stützen ihrer sonstigen Werke wurden hier durcheinander geworfen und verkleinert bis auf magersüchtige Gerüststangen, die als schimmerndes Geflecht leuchtende Gewänder trugen. Der Pavillon verwandelte genau jene Elemente in Architektur, die normalerweise mit dem Erscheinen des fertigen Gebäudes verschwinden – nie wahrgenommene, temporäre industrielle Hilfsmittel und Materialien, die sonst zum Bauprozess gehören, wurden zum Endprodukt.
Diskrepanz zwischen Schein und Sein
Teilnehmer an den Dinners bezahlten im Vorverkauf 75 Pfund und wurden auf einer »keimfreien« Route über die Baustelle geführt, hinein in glänzende Aufzüge auf‘s Dach, direkt vor einen Flügel des temporären Bauwerks. Dies bestand aus einer Reihe sich auffächernder rechteckiger Gänge entlang eines zentralen Rückgrats, die sich angeblich jeweils auf einen entfernten Blickpunkt, etwa ein Stadion, bezogen. Die Zeichnungen der Architekten suggerieren, dass die Geometrie des Baus aus dem Kontext entstand, dass die Räume jeweils eigene »Zimmer mit Aussicht« waren, die ihre Umgebung dramatisch mit einem riesigen Panorama-Fenster fassten. Doch vor Ort offenbarte sich eine Diskrepanz zwischen den behaupteten Blickachsen und der tatsächlichen Architektur, jeder einzelne Raum ignorierte lässig seinen Kontext, als ob jede exaktere Ausrichtung gar zu deutlich gewesen wäre. Auch führte beispielsweise der Weg durch den engen, mit einem PVC-Vorhang abgetrennten Eingang nur auf eine nackte Wand, alle Blicke waren zunächst versperrt. Hatte man einen Ausblick gefunden, schien er immer auf eine bessere Sicht nebenan zu verweisen, und so drehte man sich auf der Jagd nach der flüchtigen Hauptperspektive um sich selbst. Zusätzlich wirkte die interne Anordnung der Räume leicht ungelenk, die Volumina überschnitten sich an eigenartigen Stellen, so dass die Dinierenden, die näher zum zentralen Raum saßen, sich seltsam eingeklemmt und im Konflikt mit ihren Nachbarn gefühlt haben müssen; es entstand weder Intimität noch eine großzügigere räumliche Trennung. Die Stühle, die entlang der langen, geraden Tische aufgestellt waren, zwangen zum traditionellen Gegenübersitzen und unterbanden jeglichen Blick durch die Fenster. Die starre Form der Kammern ergab sich aus der Länge der Gerüstbohlen, die sowohl für den Bodenbelag, den unteren Bereich der Wände als auch, kräftig abgeschmirgelt, für die Tische verwendet wurden. Zusätzlich waren die Kreuzungspunkte in der 800 m² großen Grundfläche nicht besonders elegant gelöst. Vorder- und Rückseite sahen gleich aus, Toiletten- und Küchenbereiche waren ähnlich wie alle anderen gestaltet, nur ihre Stirnwände geschlossen.
Wie so häufig in britischer Architektur überlagerte hier das Detail den Gesamteindruck, die Farbe dominierte den Raum, Pragmatismus verdrängte die Sorgfalt im Konzept. Das Highlight des Pavillons waren seine Materialien – etwa die Verwendung der transluzenten weißen PVC-Bahnen als äußere Hülle. Dieses günstige und schmutzanfällige Material wird üblicherweise genutzt, um Gerüste wetterfest abzuschirmen, indem die Nähte vor Ort verschweißt werden. Hier kam nach dem Schweißen eine Überlagerung aus Flecken, Rissen und Beulen zutage, die teilweise mit Flicken überzogen werden mussten. Doch bildete die zarte, recycelbare Haut einen stimmigen Kontrast zum lebhaften Farbspektrum der verwitterten Eichenbretter, zugleich war sie ein poetischer Kommentar zur temporären Natur des Bauwerks. Desweiteren betonte das »Leuchten« dieser Haut die dunklen Gerüststangen und griff die stilistischen Kontraste auf, die Flack und Waddington bevorzugen – wie auch der polierte Ebenholz-Miniflügel. Zusätzlich hingen gelbe Bauleuchten unprätentiös und in loser Folge, hier und da auch in Gruppen, entlang der Wände und über den Tischen. Die leichte Konstruktion war während ihrer kurzen sommerlichen Blütezeit eher ein Regenschutz als eine thermische Hülle; doch wurden die elektrischen Notheizungen nur ein einziges Mal genutzt.
Zur transluzenten PVC-Fassade gesellte sich eine transparente PVC-»Verglasung«, die aus hängenden Wetterschutz-Fahnen bestand. An einigen Stellen waren diese geteilt und mit einfachen Schrauben und Ketten an der Wand befestigt – eine ironische Nachbildung luxuriöser Bühnenvorhänge, die den Austritt auf die Terrasse erlaubte. Dort wiederum waren einfache Polycarbonat-Platten mit Kabelbindern an rohen Kiefer-Rundhölzern befestigt und bildeten so die »rudimentärste« Form einer Balustrade, die man sich vorstellen kann. Hier trafen sich die Gäste und ließen sich vom zufälligen Einfachstkabarett der herumschlendernden Sicherheitsleute unterhalten.
Westfield plante den Bau selbst und holte auch die notwendigen Genehmigungen ein, ebenso führten die auf dem Bau beschäftigten Arbeiter diesen winzigen Bereich der Riesenbaustelle mit aus. Die Konstruktion wog 70 t und benötigte angeblich 2 000 Gerüstdielen und 3 500 Gerüststangen. Für die Planung des »Studio East« brauchten die Architekten nur zehn Wochen, vom ersten Briefing bis zur Fertigstellung. Das Budget bleibt geheim, doch ist ganz klar, dass jeder Aufwand vermieden wurde, zumindest in der materiellen Konstruktion dieses aufregenden und widersprüchlichen Experiments zwischen schmuddeliger Baustellenatmosphäre und grandiosem Edeldinner. •
~Aus dem Englischen von Dagmar Ruhnau

Carmody Groarke

Carmody Groarke

Kevin Carmody
1974 geboren. Studium am Royal Melbourne Institute of Technology und der Australia Canberra University. Bachelor in Architektur und Environmental Design. 1997-99 Mitarbeit bei Metier 3 Architects. 2000-05 Mitarbeit bei David Chipperfield und 2005/06 bei Hamilton Associates in London. Seit 2006 gemeinsames Büro mit Andy Groarke.
Andrew Groarke
1971 geboren. Architekturstudium an der University of Sheffield, 1997 Masterabschluss. 1998-2002 Mitarbeit bei David Chipperfield und 2002-05 bei Haworth Tompkins in London. Seit 2006 gemeinsames Büro mit Kevin Carmody.

~Alex Haw
1993-96 Architekturstudium am Bartlett University College London, 2000 Master in Princeton. Mitarbeit u. a. bei Diller + Scofidio und Richard Rogers Partnership. Seit 2006 eigenes Büro an der Schnittstelle von Design, Forschung und Städtebau. Lehrtätigkeiten in Princeton, London, Wien und Oxford. 2009 Gründung von Latitudinal Cuisine, einem interkulturellen Kochclub.


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