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Glasschwerter und Pferdebeinstützen

Bibliothekserweiterung in Münster
Glasschwerter und Pferdebeinstützen

Im Norden Münsters ist die Bibliothek auf dem »Leonardo-Campus« durch ein vorgelagertes, transparentes Kleinod erweitert worden, das zurückhaltend und vorwitzig zugleich ist. Wo früher Pferde vor den Stallungen standen, beziehen heute mit Büchern gefüllte Regalreihen Stellung – und zwar genau da, wo sie als Bedeutungsträger hingehören: inmitten des Hochschulquartiers. Glasschwerter steifen die Structural- Glazing-Fassade aus und ermöglichen die ungestörte Sicht auf das denkmalgeschützte Bestandsgebäude.

    • Architekten: zauberscho(e)n; Bühler und Bühler Tragwerksplanung: Ingenieurgemeinschaft Führer Kosch Jürges

  • Kritik: Hartmut Möller Fotos: Roland Borgmann
Das rund 11 ha große Areal der ehemaligen preußischen Kavalleriekaserne (1898-1901) verlor mit dem Ende des Eisernen Vorhangs endgültig seine militärische Bestimmung. Stattdessen sah das Land Nordrhein-Westfalen hier die Chance zur Entfaltung eines neuen Hochschulgeländes. Wo einst Ross und Reiter exerzierten, entstand somit seit 1994 der »Leonardo-Campus«, mit diversen Instituten der Universität und der Fachhochschule Münster. Deren Fachbereich Architektur, auch msa | münster school of architecture genannt, folgte vor zehn Jahren die Ansiedlung der Kunst- akademie nach Plänen von Günther Domenig und jüngst ein Neubau für den Fachbereich Design. Da dieser über 18 000 eigene Bücher im Gepäck hatte, war eine Erweiterung der Bestandsbibliothek unumgänglich. Lediglich das Wo und Wie war noch in einem umfassenden, nicht ganz reibungslosen Planungsprozess zu klären.
Die Konzepte des Bau- und Liegenschaftsbetriebs NRW (ehemals Staatliche Bauverwaltung NRW) als Betreuer der Anlage stießen bei den angehenden Architekten auf wenig Zustimmung. Was könnte andererseits näher liegen, als künftige Baukünstler mit einer solchen Aufgabe zu konfrontieren? Da aber auch eine Seminararbeit keine zufriedenstellende Lösung ergab, ermunterte der langjährige Dekan und Architekturprofessor ›
› Herbert Bühler drei seiner Tutoren, die Studenten des dritten Mastersemesters Mathias Horstmann, Andreas Schüring und Stephan Weber, zu einem eigenen Entwurf. Die daraus entstandene Aufmerksamkeit und Notwendigkeit der Darstellung nach außen gebar quasi über Nacht die Planungsgemeinschaft zauberscho(e)n, die dann gemeinsam mit dem Münchner Büro Bühler und Bühler auch mit der Realisierung des Projekts beauftragt wurde.
Tragende Pferdebeine
Für die Gestaltung ihres 9 m breiten und 46 m langen Anbaus ließen sich die drei vom britischen Pionier der Fototechnik Eadweard Muybridge inspirieren. Aus seiner Serienaufnahme »The Horse in Motion« – eine Studie des tierischen Bewegungsablaufs – entnahmen sie das Vorderbeinpaar eines galoppierenden Pferds, stellten dieses als Pfeiler kurzerhand auf den Kopf und tauften ihr Design deshalb fortan »Das Pferd an der Decke«. Die zwei im Grundriss dreieckigen, gegeneinander verschränkten Pfosten verjüngen sich nach oben und berühren sich am Überschlagspunkt, um einer Ein- knickung entgegenzuwirken. Sie bestehen aus über 20 lasergeschnittenen, 1,5 cm dicken Stahlblechen mit polierten Schweißnähten und haben in ihrer Abwicklung eine Länge von gut 70 m. Auf der in Längsrichtung axialen Stützreihe ruht ein Dachträgerrost, der zur Aussteifung mit Trapezblech gedeckt ist. Die geschlitzten Stirnseitenbleche sorgen für eine Hinterlüftung der flügelähnlichen Konstruktion.
Zusammen mit den Bibliotheksmitarbeitern entwickelten zauberscho(e)n das geforderte Raumprogramm. Der 400 m² große Neubau gliedert sich in drei Bereiche. Im vorderen Teil stehen drei »Carrels« (abschließbare Arbeitskabinen), die ungestörtes Lernen ermöglichen. Die Mittelzone nimmt den neuen Buchspeicher auf und im hinteren Teil steht ein Tisch für Gruppenarbeit. Dieser kann als Konferenzbereich durch einen im Oval von der Decke hängenden Akustikvorhang abgetrennt werden und den Bibliothe-karen gleichzeitig als Schulungsraum dienen. Die Wirkung des nicht brennbaren, 250 kg schweren Stoffs aus fünf Lagen ist erstaunlich: Neben ständig wechselnden Raumbeziehungen inmitten des Bibliothekraums schafft er eine bemerkenswert ruhige Atmosphäre. Seine Außenseite ist mit einem digital veränderten Motiv aus Raffaels »Schule der Philosophen« bedruckt.
NICHTS ALS GLAS
»Die Wahl, einen Bau als Glasquader auszuführen, liegt auf der Hand, wenn man sein von der Fassade losgelöstes Tragwerk zeigen möchte«, sagt Andreas Schüring. Abgesehen davon war es Bedingung des Denkmalamts, die historische Backsteinwand des ehemaligen Pferdestalls zu inszenieren und weiterhin von außen erlebbar zu machen. Dies ist den Planern zweifellos mit Bravour gelungen. Tagsüber erhellt eine Glasfuge in Pfosten-Riegel-Konstruktion die Ziegelmauer, nachts wird sie von einer Lichtleiste angestrahlt. Durch die ca. 280 m² große, hochtransparente Fassade aus Weißglas ist sie auch von Weitem sichtbar. Die Ganzglasfassade mit einem Wärme-dämmwert von 1,1 W/(m²·K) entstand in enger Planung mit dem Fassadenbauer Gartner, der für gewöhnlich deutlich größere Projekte realisiert. Senkrechte Schwerter aus Verbundsicherheitsglas mit drei teilvorgespannten Scheiben steifen die Glaswand aus 2,40 m breiten und 4,60 m hohen Isolierglaselementen im Structural-Glazing-Verfahren gegen Windlasten aus. Im Innenraum verdeckt ein schmaler, schwarzer Siebdruck-Streifen an den Rändern der Verglasung die Verklebung. Da die Glasschwerter nicht wie sonst üblich aus Grünglas, sondern ebenso in der (teureren) Weißglas- Variante ausgeführt sind, wird eine noch höhere Durchsichtigkeit erzielt. An der Hauptfront sind die Schwerter außenliegend zwischen zwei Stahlkonsolen an der Betonplatte bzw. dem Dachträgerrost eingespannt, an den Querseiten sind sie innenliegend montiert. Durch diesen Wechsel konnten im Übereck-Bereich jeweils zwei Schwerter eingespart werden – ein ästhetischer Kniff mit wirtschaftlichem Resultat.
Im Bereich der Studierkabinen schuppt sich die Glashaut sägezahnförmig auf. Vertikale 26 x 180 cm große Drehflügel erlauben eine manuelle Lüftung der Studios. Im Hauptraum lassen sich horizontale, im Fußboden eingelassene Klappen unter den Gitterrosten vor der Fassade zu Lüftungs- zwecken über einen elektrischen Kettenantrieb öffnen. Zusammen mit den Lamellenfenstern in der Glasfuge zwischen Alt- und Neubau sorgen sie als Querlüftung für Zirkulation und dienen im Brandfall der natürlichen Ent-rauchung. »Nur wenige der Anwesenden glauben, dass unser Bau vollkommen ohne Klimaanlage auskommt«, erläutert Schüring. Im Winter soll eine Fußbodenheizung und die Nutzung des massiven Mauerwerks des angrenzenden Bestandsgebäudes als Wärmespeicher für ein angenehmes Raumklima sorgen. Dank der Ausrichtung der Hauptfront nach Nordosten und einem dichten Baumbestand konnte auf einen optisch störenden Sonnenschutz verzichtet werden. Nur das umlaufende, weit auskragende Vordach dient als Verschattung. Entwässert wird es über eine offene Traufe an der gesamten Längsseite, so dass sich im Regenfall ein buchstäblicher Wasservorhang als zweite Ebene vor der Fassade zum Erlebnis ausformt. Eine Rigole sammelt den Niederschlag und führt ihn dem Gelände zu.
Überraschende ARCHITEKturzitate-Sammlung
Die Vernetzung von »alter« und »neuer« Bibliothek funktioniert hervorragend, der Komplex lässt sich problemlos im Rundlauf erschließen. Sogar ›
› die bisherige Ordnung der Regalsysteme konnte fortgeführt werden. Durchbrüche erlauben die Interaktion zwischen beiden Bauteilen und lassen sie wie einen Baukörper wirken. Dort, wo sich ehemals die Fluchttreppen befanden, hängen heute zwei 1,2 t schwere Stahltreppen, von denen jede dritte Stufe verlängert und im Mauerwerk mit Mörtel vergossen wurde. »Neben der Ziegelwand bedurfte es eigentlich keiner weiteren Zutaten, es war ja eigentlich schon alles da«, witzelt Schüring und verweist auf das Panorama. Tatsächlich erscheint die Umgebung beim Ausblick durch das Glas wie in Hochglanz präsentiert und irgendwie noch farbenfroher als die Realität. Innen ermöglicht das gewonnene Tageslicht den gänzlichen Verzicht auf künstliche Beleuchtung. Die Qualität eines vollverglasten Bauwerks inmitten einer Grünanlage wussten schon Mies van der Rohe oder Philip Johnson zu schätzen. Überhaupt finden sich im Gebäude einige Architekturzitate, was sicherlich dem frischen Esprit der Planer und ihrer zeitlichen Nähe zum Studium geschuldet ist. Ein Vortrag von Dominique Perrault ermunterte die Gruppe zu den innenliegenden Stützen mit Glasfassade; nicht von ungefähr erinnert das Dach an Jean Nouvels Kultur- und Kongresszentrum in Luzern. Die gewählte grüne Deckenfarbe ergänzt sich wohltuend zum komplementären Ziegelrot. Sie stammt aus Le Corbusiers Farbklaviatur, verwendet u. a. in seinem einzigen komplett in Stahl erbauten Haus Weber in Zürich.

Das qualitativ hochwertige Ergebnis ist ein Verdienst konsequenter Hart-näckigkeit der Jungakademiker, der unermüdlichen Unterstützung ihres Professors und der am Bau beteiligten Gewerke. Natürlich bekommen nicht viele Studenten die Möglichkeit, sich noch während der Ausbildung mit einem solchen Projekt profilieren zu können. Das Beispiel aber zeigt, dass sie viel öfter die Chance dazu erhalten sollten – die Nachahmung einer solchen Konstellation an anderen Hochschulen wäre äußerst wünschenswert!


  • Adresse: Leonardo-Campus, 48149 Münster

    Bauherr: Land Nordrhein-Westfalen
    Architekten: Planungsgemeinschaft zauberscho(e)n, Münster; Bühler und Bühler, München
    Mitarbeiter: zauberscho(e)n: Mathias Horstmann (Entwurf), Andreas Schüring, Stephan Weber (Entwurf und Ausführung); Bühler und Bühler: Herbert Bühler
    Tragwerksplanung: Ingenieurgemeinschaft Führer Kosch Jürges, Aachen
    Fassadenplanung: Josef Gartner, Gundelfingen
    BGF: ca. 400 m²
    BRI: ca. 1 800 m³
    Baukosten: ca. 1,25 Mio. Euro
    Bauzeit: Juli 2009 bis April 2010
  • Beteiligte Firmen: Generalunternehmer: Averbeck Bau, Ostbevern
    Stahlbau: Bentheimer Stahl und Hallenbau, Bad Bentheim
    Fassadenbau: Josef Gartner, Gundelfingen, www.josef-gartner.de
    Lamellenfenster: Lacker, Waldachtal-Lützenhardt, www.josef-gartner.de
    Sanierung historisches Ziegelmauerwerk: Ziegelwerk Schüring, Gescher, www.josef-gartner.de
    Regalbeleuchtung: Sammode Lichttechnik, Saarbrücken, www.josef-gartner.de
    Leuchten: iGuzzini illuminazione, Recanati, www.josef-gartner.de
    (Besprechungszone); durlum, Schopfheim, www.josef-gartner.de
    (Lichtfuge) Linoleumboden: Armstrong DLW, Bietigheim-Bissingen, www.josef-gartner.de
    Vorhang: GERRIETS, Umkirch, www.josef-gartner.de
    Bücherregale: SCHULZ SPEYER Bibliothekstechnik, Speyer, www.josef-gartner.de
    Möbel: Vitra, Weil am Rhein, www.josef-gartner.de
  • 1 Eingang
  • 2 Bestand
  • 3 Buchspeicher
  • 4 Zeitschriften
  • 5 Einzelarbeitsplätze
  • 6 Studierzellen
  • 7 Besprechungszone
db-Ortstermin:
Am Nachmittag des 11. Dezember laden wir Sie ein, gemeinsam mit den Architekten und uns die Bibliothek für Architektur, Kunst und Design in Münster zu besichtigen. Anmeldungen bitte bis zum 1. Dezember unter:

Münster (S. 46)

Zauberscho(e)n Andreas Schüring 1978 geboren. 1997-2002 Ausbildung zum Kaufmann und Wirtschaftsstudium. 2002-06 Bachelor in Architektur an der münster school of architecture, 2010 dort Master. 2006-10 Tätigkeit als Tutor. 2008 Gründung der planungsgemeinschaft zauberscho(e)n.
Stephan Weber 1981 geboren. 2002-03 Architekturstudium an der TU Darmstadt. 2003-06 Bachelor in Architektur an der münster school of architecture, 2010 dort Master. 2004-10 Tätigkeit als Tutor. Mitarbeit bei schneider+schumacher Architekten, Frankfurt a. M. und bei sauerbruch hutton, Berlin. 2008 Gründung der planungsgemeinschaft zauberscho(e)n.
Hartmut Möller 1975 geboren. Architekturstudium in Oldenburg und Praxissemester bei SITE/James Wines in New York. 2002 Mitorganisation der Ausstellung »Die Moderne als Modell« im Horst-Janssen-Museum, Oldenburg. 2003 Redaktionspraktikum bei der db. Diverse Zeitschriften- und Buchpublikationen. Lebt und arbeitet seit 2005 in Hannover.
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