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Frischzellenkur fürs Olympische Dorf

Das Olympische Frauendorf in München wird abgerissen und in ähnlicher Gestalt neu errichtet
Frischzellenkur fürs Olympische Dorf

Nach Ende der Spiele zum Studentendorf umgewandelt, hat sich das ehemalige Olympische Frauendorf als lebendige studentische Wohnstruktur etabliert. Längst jedoch genügt das unter Ensembleschutz stehende Dorf bauphysikalischen, haus- und brandschutztechnischen Anforderungen nicht mehr. Auch die Bausubstanz ist marode. Eine Sanierung wäre nicht nur wirtschaftlich fragwürdig geworden, sondern hätte das Erscheinungsbild auch nachhaltig verändert. Unter Mitwirkung des damaligen Architekten wurde nun der Abriss und »Wiederaufbau« geplant. Und das Denkmalamt spielt mit.

    • Architekten: Arge Werner Wirsing bogevischs buero Tragwerksplanung: Sailer Stepan Ingenieure

  • Text: Ira Mazzoni Fotos: bogevischs buero, Werner Wirsing, Jens Masmann
Dorfversammlung in der Alten Mensa: Stimmen und Emotionen überschlagen sich. Gerade haben die Bewohner erfahren, dass alles viel schneller geht als gedacht. Bis Juli müssen die ersten 450 Mieter aus ihren Häuschen raus, dann wird die Hälfte des Dorfs abgerissen, um ab Oktober entlang der alten Gassen neu errichtet zu werden. Im Dezember 2008, so die Prognose, könnten die ersten Studenten in die neuen Häuser zurückkehren. Zu dem Zeitpunkt wird dann bereits der östliche Ortsteil Baustelle sein. Bis November 2009 muss alles fertig werden, denn dann werden Baustellenzufahrt und Lagerplatz blockiert: Am Ortsrand will ein Investor ein Hotelhochhaus bauen.
Sanierungsnotwendigkeit versus Wirtschaftlichkeit
Die Studentenwohnanlage Oberwiesenfeld, so der offizielle Name des ehemaligen Olympischen Frauendorfes in München, ist ein Ort der Bindungen. Obwohl die Studenten nur jeweils sechs Semester in den augenblicklich 800 Wohneinheiten im beliebten Quartier wohnen dürfen, hängen sie am vertrauten Ortsbild und vor allem an ihren »eigenen« vier Wänden. So viel Lob für einen Städtebau der sechziger Jahre gab es selten, so viel Liebe zum minimalen Haus ebenfalls nicht. Die Reihenhäuschen sind quadratisch, ›
› praktisch, gut; 4,20 Meter messen sie in Breite, Tiefe und Höhe. Im Erdgeschoss finden sich links und rechts vom Eingang eine Kunststoffbadzelle und ein begehbarer Kleiderschrank, rückseitig vom Bad eine Kochzeile und ihr gegenüber die Stiege zur Wohngalerie mit Dachterrasse. Der Treppenabsatz nach der dritten Stiege lässt sich zusammen mit dem Ausklapptisch der Küchenzeile als Essecke nutzen. In den Luftraum über dem Küchen-Treppen-Eck haben sich die meisten Bewohner ein komfortables Hochbett einbauen lassen. Ein Drei-Quadratmeter-Gewinn an ursprünglich nicht vorgesehener Wohnfläche. Natürlich entstanden dadurch auch Probleme: weniger Licht im Erdgeschoss, weniger Luftzirkulation und damit auch vermehrt Schimmelbildung.
Die teils schlechte Betonqualität der vorolympischen Winter-Schnellfertigung, Alters- und Gebrauchsschäden an Installationen und im Kunststoffbad sowie der hohe Energieverbrauch mangels Isolation haben eine Generalsanierung unumgänglich gemacht. Doch welche Vorschläge die Bauphysiker auch für die Ertüchtigung der zum Denkmalensemble Olympiapark zählenden Zeilen machten, wie zum Beispiel eine neue außen liegende Wärmedämmung, das Erscheinungsbild des Dorfes hätte sich drastisch verändert. Außerdem wollte der Bauherr, das Studentenwerk München, mehr: 200 zusätzliche Wohnungen. Denn erstens gibt es im teuren München zu wenige Studentenwohnungen und zweitens gewährt der Staat nur noch Fördermittel für 18- statt früher für 20-Quadratmeter-Einheiten. Für Sanierungen gibt es gar keine Finanzierungshilfen.
»Historisierender« Neubau: Schmaler und höher
So entstand der Abriss- und Neubau-Plan mit der denkmalpflegerischen Auflage, die Charakteristika des Ensembles strikt zu wahren: die engen Gassen, den »Kleinen Marienplatz«, die idyllischen Nischen und Ecken. Trotz Nachverdichtung dürfen sich die Länge der Bauzeilen und die Höhe der Flachbauten nicht ändern. Weiterhin gilt, das Dorf muss, wie 1972, aus Betonfertigbauteilen in Modulbauweise errichtet werden. Allerdings sollen wenigsten 12 Einheiten innerhalb des Gefüges erhalten und nach allen Regeln der Denkmalpflege restauriert werden.
Die Lösung dieser Aufgabe kam der Quadratur des Kreises gleich und einige Konzessionen waren notwendig. Die Achsbreite der Häuser wird von 4,20 auf 3,15 Meter reduziert. Damit wird nicht nur das quadratische Raster aufgegeben, das die Siedlung bis hin zu den Beschriftungstafeln durchzieht, sondern auch das Raumgefühl verändert. Hatte der Wohn-Schlaf-Studierwürfel noch erstaunlich variable Raumqualitäten, so wirken die schmalen Vollgeschosse eher brav. Der hohe Luftraum entfällt. Damit stellt sich die Frage der Belichtung und der Belüftung neu.
Die Architekten von bogevischs büro, Rainer Hofmann und Ritz Ritzer, haben sich für diese heikle Aufgabe mit dem Architekten und Urheber des Viertels, Werner Wirsing, zusammengetan. Wie die drei Architekten bekennen, war der Entwicklungsprozess hin zu akzeptablen Grund- und Aufrissen mühsam, fast so wie das Wiederherstellen der sechs Farbseiten eines Rubikwürfels. Jetzt haben sie gassenseitig einen offenen Wohn-Essbereich geschaffen; ein schmales, niedriges Fenster in der Hausfront soll Licht auf die Tischebene bringen und unterscheidet damit den Neubau markant vom Urtyp. Die Küchenzeile ist unter die steile Treppenleiter geschoben, das Bad in die hintere Raumecke gerückt. Olympiafarben akzentuieren Einbauschrank und Regale und bringen zusätzlich Licht ins Spiel. ›
Rück- und Ausblicke
Die Dorfversammlung ist empört. Auch wenn die wenigsten in die Neubauten zurückkehren werden, zweieinhalb Quadratmeter weniger Wohnfläche wollen sie nicht akzeptieren. »Da kriegen wir ja unsere Sachen nicht mehr unter.« Das zusätzliche Bandfenster empfinden sie als Verletzung ihrer Privatsphäre. Der Freiraum des Maisonettes geht verloren, Stauraum sowieso. Die Küche sollte Ofen und Abzugshaube haben. Kochen gehört mittlerweile zum studentischen Leben. Dass die Kochdünste durchs Bett abziehen, wird schon an der bestehenden Konstruktion bemängelt. Die Wohnung, in die man nur mit Koffer einziehen sollte, ist längst zum Heim geworden. Was als Single-Appartement mit eigenem Hauseingang, eigenem Grünstreifen, eigenem Balkon gedacht war, ist längst eingewachsene Heimat geworden. Kaum ein Häuschen, das nicht bemalt ist: Es gibt Säulchen, Blumenmuster, reine Farbflächen und manch fantastische Arabeske. Otl Aichers Haus-, Block- und Gassenkennzeichen sind längst verblichen, überpinselt oder werden vom allgemeinen Bunt überspielt.
Für die »Neubauten« soll auch das Leit- und Orientierungssystem in Anlehnung an Olympia 1972 neu durchdacht werden, eine Aufgabe, die das Büro Stauss und Pedrazzini in München übernommen hat.
Durchgrünt und farbig soll die Siedlung wieder werden. Wirsing erzählt, er habe ein Jahr nach der Olympiade mit den Studenten einen ersten Gestaltungsworkshop gemacht. Seitdem ist die Siedlung immer bunter geworden, die Olympia-Farben stark in den Hintergrund gerückt. Die Studenten der ersten Jahre, so Wirsing, waren auch ziemlich spontan im Bauen. So gab es Brückenverbindungen von Balkon zu Balkon, quer über die 2,50 Meter breiten Gassen. Hofmann, damals Student im und heute Planer des »neuen« Dorfes, berichtet, hätte er nicht im Dorf gewohnt, er hätte sein Examen nie bestanden. Jeden Morgen um acht Uhr gab es ein gemeinsames Frühstück unter der Pergola der Quergasse.
Auch heute bildet die Gasse, das dichte Nebeneinander und Gegenüber der Hauseingänge und Dachterrassen die Basis für Gesellschaftsbildung. Einige Studenten fragen daher an, ob die gewachsene Gassen-Gemeinschaft auch geschlossen in ein anderes Studentenwohnheim umsiedeln kann.
Werner Wirsing lehnt sich entspannt zurück und lächelt. Es ist sein städtebauliches Konzept, das auch nach 35 Jahren noch vorzüglich funktioniert, weil es individuelle Höhlen und gemeinschaftliche Plätze auf engstem Raum bereitstellt. Das Geniale an diesem Dorf – Wirsing spricht lieber von einem typischen Münchner Viertel – ist seine serielle Einfachheit. Die Rigorosität der parallelen Hauszeilen wird durch die Gliederung in kürzere und längere Stränge gelockert. So werden auch beim zentralen Wegekreuz gerade Hausfluchten vermieden. Zusätzlich durchziehen diagonale Passagen das Würfelgewebe.

Seit 1961 hatte Wirsing mit seinem damaligen Partner Günther Eckert an Ort und Stelle ein Studentenquartier geplant, erst nach dem Wohngruppenprinzip, später waren dann autonomere Wohnformen gefragt. Eckert wollte hoch bauen und realisierte die Studentenappartements im Hochhaus, Wirsing favorisierte Flachbauten. Dabei ließ er sich von Roland Rainers Schriften und Entwürfen zum niederen Bauen inspirieren. Der soziale Erfolg gibt ihm bis heute Recht. Das Dorf lebt, weil sich jeder Bewohner irgendwann auf der Gasse trifft. Durch die Verdichtung wird es noch mehr Bewegung und auch Begegnung auf den Wegen geben. Auf dem zentralen Platz, dort, wo 1972 die Telefonhäuschen standen, sieht der neue Stadtplan einen kleinen Biergarten-Pavillon vor. Ansonsten soll alles möglichst so werden wie es war: Genauso grün, genauso bunt, genauso dörflich.


  • Standort:

    Bauherr: Studentenwerk München
    Architekt: Arge Werner Wirsing bogevischs buero hofmann ritzer architekten, München
    Mitarbeiter: Sven Gosmann, Kerstin Engelhardt, Viktor Filimonow
    Tragwerksplanung: Sailer Stepan Ingenieure, München
    Haustechnik: Ingenieurbüro Konrad Huber, München
    Elektroplanung: Rücker und Schindele, München
    Freiraumplanung: Keller Landschaftsarchitekten, München
    Bauzeit: Mitte 2007 – Ende 2009
    Bausumme: 40 982 417 Euro brutto (für Kostengruppe 300 + 400)
    Bruttogeschossfläche: 29 162m²
Ortstermin:
Nutzen Sie am 15. Juni die Gelegenheit, gemeinsam mit den Architekten und uns nochmals das »alte« Olympische Dorf zu besichtigen und einen Blick auf die Neuplanung zu werfen. Anmeldungen bis 25.Mai unter: www.db-ortstermin.de
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