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»Betonklötze« oder »frische Architektur«?

Streifzug durch Neu-Oerlikon
»Betonklötze« oder »frische Architektur«?

Wie lebt und arbeitet es sich in dem Quartier aus der Retorte? Wie gefallen städtebauliche Struktur und Architektur den Nutzern? Wir waren Anfang Juni drei Tage vor Ort, sammelten Eindrücke und sprachen mit Bewohnern.

Text: Ulrike Kunkel, Fotos: Peter Gollong

Donnerstag, 28. Juni, 10:15 Uhr im Bistro und Restaurant »Gleis 9« am Bahnhof Oerlikon. Um diese Uhrzeit ist es sehr ruhig hier, doch die Vorbereitungen für das Mittagsgeschäft sind in vollem Gange. »Wenn ab zwölf die Angestellten der umliegenden Büros kommen, ist es richtig belebt. Dann wird es bis zum Abend ruhiger, bevor das Restaurant und vor allem der Loungebereich wieder gut besucht sind«, erzählt der Barkeeper. Im Flur hängen Schwarz-Weiß-Fotografien des ehemaligen Industrieareals Oerlikon, das den Stadtteil im Norden Zürichs über Jahrzehnte prägte. Nach seiner Umstrukturierung zum Wohn- und Dienstleistungsquartier ist von dieser Vergangenheit kaum noch etwas zu spüren. Wenige Relikte, wie dieses schmale Gebäude entlang der Gleise, in dem sich seit zwei Jahren das Restaurant befindet, zeugen von ihr. Doch auch dieser Bau, gewissermaßen Auftakt zum neuen Quartier und somit in einer wichtigen Mittlerfunktion zwischen Alt und Neu, muss bald der Erweiterung der Gleisanlagen weichen – schade.
Die Mittagszeit rückt näher und in der Tat erscheinen die ersten Anzugträger: queren Plätze und Straßen auf dem Weg zu den Betriebskantinen oder Restaurants um den Bahnhof und den Max-Bill-Platz herum; lassen sich auf einer Bank im MFO- oder Oerlikerpark nieder, um ungestört ihren Mittagsimbiss zu genießen. Vor allem das begehbare Rankgerüst des MFO-Parks mit seinen Balkonen und Terrassen ist sehr beliebt. Nicht nur in der Mittagspause: Am Nachmittag spielen Kinder auf dem Gerüst Fangen, am Abend treten, zumindest in dieser Woche, verschiedene Blasmusikkapellen und Big Bands auf.
Der Park wird an zwei Seiten von Bestandsgebäuden begrenzt, wobei die Neunutzung der ehemaligen ABB-Werkhallen als »Eventhalle 550« die einzige wirkliche Umnutzung in Neu-Oerlikon ist. An der dritten Platzseite steht das Wohn- und Geschäftshaus »Ententeich« von Baumschlager & Eberle. Ein etwas monoton wirkender schmaler Baukörper, der auf den Grundmauern des Vorgängerbaus errichtet wurde. Die vierte Seite schließt ein gelungenes Büro- und Wohngebäude von Kaufmann van der Meer ab. Drei Höfe unterteilen das gläserne Bürohaus in überschaubare Einheiten, das sechsgeschossige, in seiner Tiefe gestaffelte Wohngebäude »Parkside« schließt direkt an. Seine Fassade wird von Terrakotta-Elementen gegliedert. Sie nehmen Bezug auf die gelben Klinkerfassaden der früheren Bebauung. »Die langen, über die gesamte Wohnungsbreite gehenden Balkone haben uns auf Anhieb gut gefallen. Außerdem kann unser Kind direkt im Haus in die Krippe gehen und am Nachmittag im gartenartigen Hof spielen«, erzählt ein Bewohner. Wie in vielen Gebäuden im Quartier, ist die Kinderkrippe »Schnappi« im Erdgeschoss des Wohngebäudeteils untergebracht. Weit zum Bahnhof Oerlikon, von dem einen die Züge in acht Minuten zum Züricher Hauptbahnhof bringen, oder zum noch ganz neuen Zentrum des Quartiers, dem Max-Bill-Platz, ist es von hieraus auch nicht.
Wirklich ausgedehnt fällt der Bummel um den Max-Bill-Platz derzeit noch nicht aus, aber eine Apotheke, einen Blumenladen, eine Reinigung, zwei Supermärkte sowie verschiedene Bistros und Restaurants gibt es bereits. »Eine Wohltat ist es allemal. Bisher standen nur die eher ramschigen Läden im »Center Eleven« zur Verfügung. Hier am Platz trinke ich nach kleinen Besorgungen gerne einen Kaffee, bevor ich nach Hause gehe. Die Wege im Quartier sind zu Fuß ja recht weit – ich wohne am anderen Ende – aber mit dem Kinderwagen möchte ich auch nicht extra in den Bus steigen.« Die Mutter mit ihrem Kind zählt zu den wenigen Gästen in diesem Starbucks. Kein Vergleich mit den Filialen in der Innenstadt. Doch mit der Zeit kommen immer mehr Leute herein: weitere Mütter mit Kinderwagen, Schülerinnen, Geschäftsleute sowie eine französische Gruppe auf Archi- tekturführung.
Geht man vom Platz in Richtung Oerlikerpark weiter, stößt man nicht nur auf ein Architekturbüro, sondern auch einen Laden, der Design und Kunsthandwerk sowie restaurierte und weiterbearbeitete alte Möbel verkauft. Das überrascht, sind es ansonsten doch vor allem Filialen größerer Ketten, die man im Quartier antrifft. Diese können eine anfängliche Durststrecke besser verkraften als Einzelunternehmer. Der Designladen gehört einer Polin um die 40. »Ich wohne in der Nähe und habe mir vor zwei Jahren den Traum vom eigenen Laden erfüllt. Jetzt kommen immer mehr Leute. Vor allem Angestellte aus den vielen Büros. Auch einige von weiter her, der Laden beginnt sich herumzusprechen.«
Inzwischen ist es später Nachmittag geworden, die Schule ist aus und die Kinder werden vom Hort abgeholt. Die Binzmühlestraße, die am Max-Bill-Platz vorbeiführt, ist jetzt deutlich stärker befahren, der Berufsverkehr setzt ein, Pendler verlassen das Quartier oder kehren heim. Im Oerlikerpark spielen einige Männer Schach, ein Vater sitzt mit seinem dreijährigen Sohn zwischen den großen Kieseln im Birkenwäldchen. Der Junge ist mit dem Sortieren der großen und kleinen Steine beschäftigt, ein anderes Spielzeug braucht er nicht. Mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder wohnt er direkt nebenan in der Wohnbebauung »Eschenpark«. Die U-förmige Wohnanlage hat selbst einen parkähnlichen Hof, mit dem sie sich zum Schulhaus »Im Birch« öffnet. In dem Komplex gibt es 20 verschiedene ›
› Wohnungstypen von eineinhalb bis sechseinhalb Zimmern. Durch die farbigen Schiebeelemente in Form riesiger Fensterläden vor den Loggien unterscheidet sich das Gebäude von den Nachbarbauten.
Den Abschluss Neu-Oerlikons nach Norden bilden fünf Wohnhöfe entlang der Neunbrunnenstraße, die untereinander mit einer Art Passage verbunden sind. Hinter den Gebäuden liegen nur noch Felder, Wiesen und Wälder sowie ein Ausläufer des gewachsenen Quartiers Seebach. Trotz der Randlage ist die Siedlung vor allem für Familien attraktiv. Sie ist im genossenschaftlichen Wohnungsbau errichtet worden, so dass die Mieten bezahlbar sind. »Wir sind von Seebach hier rüber gezogen. Es gefällt uns gut. Wir haben eine sehr praktische Wohnung mit Wohnküche und einem großen Eckbalkon. Alles tipptopp. Die Kinder können im Hof spielen und haben es nicht weit zur Schule. Wenn sie mal aus dem Haus sind, werden wir aber wahrscheinlich wegziehen«, erzählt die Lehrerin. Doch auf die Frage, ob ihr die Architektur gefiele, wird sie zurückhaltender: »Das Aussehen? Na, nicht alles. Wenn ich erzähle, ich wohne in Neu-Oerlikon, heißt es: Was? In den Betonklötzen! Aber wie die Innenhöfe oder die Wohnungen konzipiert sind, sieht man ja nicht.« Abschließend meint sie noch: »Ich wollte Ihnen gerne von den positiven Aspekten erzählen. Es wird so viel Negatives berichtet.« Diese Wahrnehmung entspricht jener der Gemeinwesenarbeiterin Esther Diethelm. Sie spricht von einer Diskrepanz zwischen Innen- und Außenperspektive. Die Außensicht sei wesentlich kritischer. »Am Anfang war das sicher berechtigt, doch mittlerweile hat sich vieles positiv entwickelt. Investoren und Quartierorganisationen versuchen mit gezielten Maßnahmen das Image zu verbessern.«
Im Südwesten liegt ein weiterer Wohnhof: der »Regina-Kägi-Hof« von Theo Hotz. Der Komplex ist schon seit 2001 bezogen; der Hof, mit Teich und naturnaher Bepflanzung, sieht belebt aus. Ein Mann schließt gerade sein Fahrrad an. Er ist Kunstmaler und arbeitet in der Innenstadt von Zürich; meist fährt er mit dem Rad, das dauere nur 15 Minuten. »Ja, ich wohne sehr gerne hier. Die Wohnungen sind hell, gut geschnitten und relativ günstig, außerdem kinderfreundlich. Meine Tochter ist schon seit einer Stunde aus dem Hort, sie ist bei Freunden oder im Hof, das ist kein Problem.« Und wie gefällt ihm die Architektur? »Ich finde sie schön. Sehr speziell, frisch, es ist etwas anderes. Denn was mir wirklich nicht gefällt, sind Einfamilienhäuser mit Gärten.« Ihn stören auch die großen Gebäudestrukturen im Quartier nicht, ganz im Gegenteil: »Es passt, meiner Meinung nach. Es gab hier früher ja auch keine kleinteilige Bebauung, schließlich war es ein Industriegebiet. Es entsteht etwas Neues, darin sehe ich eine Qualität.«
Zurück am Bahnhof, wird noch einmal anschaulich, dass die meisten Leute, die hier arbeiten, nicht hier wohnen: Gegen 18:30 Uhr vollzieht sich täglich ein Austausch der Bevölkerung Neu-Oerlikons. •
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