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Das Fahrverbot in Peking im August zeigte, dass sich die Luftqualität in Großstädten nur geringfügig mit Ideen wie kurzfristigen Fahrverboten oder der vorübergehenden Stilllegung von Fabriken verändern lässt. Nur nachhaltige Maßnahmen können das Klima langfristig positiv beeinflussen. Vom Korea Institute of Construction Technology in Seoul wurden daher Mitarbeiter der TU Darmstadt beauftragt, für den koreanischen Gebäudebestand energiesparende und luftverbessernde Lösungen zu entwickeln. Zunächst mussten hierzu Klima und Baubestand genauer untersucht werden.

Text: Jürgen Volkwein, Karl-Heinz Petzinka

Als die koreanischen Städte – insbesondere Seoul – in den siebziger Jahren rapide wuchsen, wurde viel Wohnraum benötigt. In dieser Zeit entstanden außerhalb der Großstadtzentren Satellitenstädte, meist aus Hochhäusern. Diese sind in Ortbetonbauweise errichtet und haben überwiegend baukonstruktive und bauphysikalische Mängel, die heute unter den Gesichtspunkten von modernem Wohnkomfort und Energieeinsparung im Immobilienbereich behoben werden sollen. Mit dem Bau der neuen Quartiere entstanden gleichzeitig stark verdichtete Stadträume mit wenig Freiflächen oder Pflanzenbewuchs. Aus dieser fast hundertprozentigen Flächenversiegelung resultiert die starke Überhitzung des Stadtklimas in und um Seoul.
Aufgabe
Das Korea Institute of Construction Technology in Seoul (KICT) nahm bei einer Veranstaltung in Deutschland Kontakt zum Fachgebiet Entwerfen und Gebäudetechnologie der TU Darmstadt auf. Das Institut, das sich zur Hälfte aus staatlichen Budgets und zur anderen Hälfte aus Mitteln der freien Wirtschaft finanziert, hatte ein Forschungsprogramm zur Neuorientierung der koreanischen Bauwirtschaft ins Leben gerufen. Der Titel lautet Plus 50 und hat drei wesentliche Ziele für die Wohnungswirtschaft: 50 % Energieeinsparung im Gegensatz zum Bestand, 50 % Verwendung recyclingfähiger Materialien und 50 Jahre Haltbarkeit für neue Konstruktionen.
Mit diesem Programm verfolgt das KICT das Ziel, die Immobilienwirtschaft in Korea nachhaltiger und langlebiger zu gestalten, fortwährendem Ab- bruch und Neubau von Gebäuden eine Alternative entgegenzusetzen und sich von Material- und vor allem Energie-Importen unabhängiger zu machen. Die drei Grundsätze 50.50.50 bildeten die Basis für die Analyse und Entwicklung von Lösungsansätzen zur energetischen und funktionalen Optimierung der Fassadenkonstruktionen im koreanischen Geschosswohnungsbau. Es galt, ein System zu entwickeln, das von größter Einfachheit in Materialität und Herstellung eine flexible Anwendung an unterschiedlichen Haustypen ermöglicht.
Da Korea insbesondere im Sommer erhebliche Niederschlagsmengen zu verzeichnen hat, stellte das KICT zusätzlich die Aufgabe, Lösungsmöglichkeiten für vertikale Retentionsflächen und Fassadenbegrünungssystemen an den fensterlosen Fassaden der Wohnhochhäuser zu entwickeln. Denn durch die Reinigungswirkung und Verdunstungskühlung der Pflanzen sowie deren Wasserrückhaltefähigkeit kann das städtische Mikroklima, also sowohl die Luftqualität und die Temperatur als auch der Feuchtigkeitshaushalt, in den stark versiegelten Wohnquartieren verbessert werden.
Bestandsaufnahme
Um die beiden Aufgaben – Fassadensanierung und vertikale Begrünung – zu erfüllen, mussten zunächst die damit verbundenen Fragen geklärt werden. Eine wesentliche Grundlage für den Entwurf einer klimatisch intelligenten und damit energetisch effizienten Fassade war die Analyse des regionalen Klimas in Seoul. Dieses unterliegt durch die kontinentale Beeinflussung extremeren Schwankungen als das gemäßigte europäische Klima: Die Sommertemperaturen von Juni bis September sind extrem hoch (maximaler Monatsdurchschnitt für August 25,3 °C; im Vergleich: Frankfurt am Main im Juli 18,9 °C), ebenso die Luftfeuchtigkeit, die zwischen 70 % und 90 % schwankt. Das ist auf die immensen Niederschläge in dieser Zeit zurückzuführen (bis zu 1000 mm in 12 Wochen), wobei die Sonneneinstrahlung gleichzeitig aber relativ gering ist.
In den Übergangsjahreszeiten von etwa März bis Mai und September bis November ist die Sonneneinstrahlung hingegen sehr hoch bei flachen Sonnenwinkeln, was bei gleichzeitig hohen Außenlufttemperaturen zu einer Überhitzung des Innenraums führen kann. Im Winter liegen die Außenlufttemperaturen oft über längere Zeit unter – 10 °C. Die Durchschnittstemperatur im Januar ist mit weniger als – 3 °C fast 5 °C unter den Temperaturen in Frankfurt am Main. Gleichzeitig kann in dieser Zeit in Seoul aber mit sehr viel solarer Einstrahlung gerechnet werden, die wiederum etwa fünfmal höher ist als in Frankfurt. Zum Ausgleich dieser extremen klimatischen Belastung müssen alle passiven Maßnahmen zur Klimatisierung und Wärme-dämmung im Fassadenbereich ausgeschöpft werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass zusätzlich im Sommer eine aktive Klimatisierung eingesetzt werden muss, um die Feuchtigkeit zu reduzieren.
Neben den klimatischen Bedingungen wurden als zweite Grundlage für die Entwicklung neuer Fassadenlösungen die traditionelle Wohnkultur und die modernen Wohnbedürfnisse in Korea analysiert. Das Hanok, das traditionelle koreanische Wohnhaus, reagiert in vielfacher Hinsicht auf die extremen klimatischen Bedingungen: Unter einem auskragenden Dach befindet sich ein umlaufender Verandabereich, der einen Übergang zwischen den geschützten Räumen und dem Außenbereich bildet. Er wird sowohl zur Erschließung der Räume als auch als Aufenthaltsraum in der warmen Jahreszeit genutzt. Im modernen koreanischen Wohnungsbau ist den Wohnungen, in Fortführung dieser traditionellen Bauweise, eine Balkonzone vorgelagert. Diese wird zur Erweiterung der Nutzfläche zunehmend mit einer nachträglichen Verglasung ausgestattet. Typisch für Koreas mehrgeschossige Stahlbetonbauten der siebziger Jahre ist außerdem eine innenseitige Wärmedämmung von meist nur 4– 6 cm Dicke, die mit Gipskartonplatten verkleidet ist. An den Geschossdecken – insbesondere an den auskragenden Balkonen– gibt es erhebliche Wärmebrücken. Hinzu kommen große Maßtoleranzen am Bau, die starke Undichtigkeiten an den Fensteranschlüssen bedingen.
Verbesserungsmöglichkeiten
Aus mehreren Lösungsansätzen mit unterschiedlichen Schwerpunkten wurde eine Lösung als Empfehlung ausgewählt. Sie basiert auf der Entwicklung eines Systemrahmens, der vor den Balkonbereich an der Außenkante des Gebäudes als neue Fassadenkonstruktion befestigt werden soll. Damit wird eine neue, dichte, thermische Gebäudehülle geschaffen, die die Wärmebrücken der auskragenden Balkone und aller Fensteranschlüsse innen überdeckt. Der ursprüngliche Raumabschluss des Bestandsgebäudes bleibt erhalten und der Balkon als Pufferzone und erweiterte Wohnfläche bestehen. In dieser neuen Fassadenebene sollen alle Toleranzen des Rohbaus durch eine Konsolaufhängung ausgeglichen und die Bauteilanschlüsse mit größerer Präzision hergestellt werden. Der Systemrahmen wurde als modulare Grundkonstruktion zur Verkleidung der gesamten Fassade entwickelt und kann sowohl mit öffenbaren Fensterelementen, ›
› Festverglasungen oder transparenter Wärmedämmung als auch mit opaken Fassadenteilen bis hin zu begrünten Elementen bestückt werden. Zusatzbauteile wie Sonnenschutz oder Geländer sind ebenfalls austauschbar und können je nach Bedarf hinzugefügt werden. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit des einfachen Austauschs der Einbauelemente von innen ist eine lange Lebensdauer der Grundkonstruktion, eine Modernisierung in der Zukunft und ein einfaches Recycling möglich.
Aus dem Prinzip des Systemrahmens wurden zusätzlich begrünte Fassadenelemente entworfen, die ebenfalls modular in die vorgefertigten Rahmen eingesetzt und vor fensterlose Fassadenflächen montiert werden sollen. Ziel war eine möglichst wartungsfreie Fassadenbegrünung, die unabhängig von Pflanzuntergründen auf dem Boden oder dem Dach wachsen kann. Das bedeutet, die Pflanzen müssen selbst aus der Fassade heraus wachsen und dort mit Nährstoffen und Wasser versorgt werden.
Als Grundlage wurden die möglichen Typologien zum Pflanzenbewuchs von vertikalen Fassaden untersucht. Die entsprechenden Pflanzen müssen
frostresistent, windsicher und anspruchslos sein, um einen dauerhaften Bewuchs der bis zu 80 m hohen Fassaden zu gewährleisten. Gleichzeitig sollen sie die langen Trockenperioden im Winter überstehen. Daher wurden unter anderem Pflanzen ausgewählt, die im koreanischen Gebirge mit sehr kargen Wuchsuntergründen auskommen, etwa verschiedene Moose oder Sedum-arten. Den Untergrund bildet ein anorganisches Substrat mit einem maximalen organischen Anteil von 10 %, um die Drainagefähigkeit des Wuchsuntergrundes zu gewährleisten. Da sich die organischen Substanzen mit großer Wahrscheinlichkeit über die Zeit hinweg aus der Fassade herauswaschen, muss über das zugeführte Wasser des Niederschlagsspeichers auf dem Dach nachgedüngt werden. Der Wasserspeicher in der Fassade selbst, der auch die Niederschlagsretention gewährleisten soll, wurde als Mineralfasermatte ausgebildet, die das Substrat durch direkten Kontakt befeuchtet.
Ausblick
Die Forschungsergebnisse der Fassadenentwicklung und der vertikalen Begrünung werden zur Zeit am KICT an Modellen im Maßstab 1:1 im koreanischen Klima erprobt. Dann soll zusammen mit der finanziellen Unterstützung von Partnern aus der koreanischen Bauwirtschaft innerhalb der nächsten Monate ein Gebäude als Prototyp saniert werden, das Grundlage für die Umsetzung weiterer, groß angelegter Sanierungen ist. •
Dipl.-Ing. Jürgen Volkwein leitete das Forschungsprojekt am Fachgebiet Entwerfen und Gebäudetechnologie von Prof. Karl-Heinz Petzinka an der TU Darmstadt. Der Auftraggeber war das KICT (Korea Institute of Construction Technology) in Seoul, Süd-Korea.
Vegetation entsprechend einer speziellen Pflanzen- auswahl und deren Kombinationsmöglichkeiten
Mechanische Halterung des Substrates aus Edelstahlgitter und Filtervlies
Flugfeuerbeständiges, frostsicheres anorganisches Substrat
Mineralfasermatte als Wasserspeicher
Vorgefertigte Pflanzwanne (ca. 90 x 90 cm) aus GFK
Hinterlüftung und Winddichtheitsschicht der Dämmung
Wärmedämmung Mineralwolle 20 cm
Modular zu bestückender Systemrahmen
Rückseitige Bekleidung des Fassadenelementes / Holzwerk- stoffplatte
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