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Dichte Packung?

Wohn- und Geschäftshaus in Zürich (CH)
Dichte Packung?

In Zürich können sich Normalverdiener ein Leben in der Innenstadt häufig nur noch in Wohngemeinschaften leisten. Das außergewöhnliche Grundrisskonzept der »Clusterwohnung« begegnet diesem Problem und könnte zum effizienten Gentrifizierungs-Gegenmittel werden. Wie die Realität dieses dritten Weges zwischen gemeinschaftlichem und individuellem Wohnen aussieht, zeigt ein Experiment von Vera Gloor Architekten im pulsierenden Stadtkreis 4.

{Text: Palle Petersen

Nach der Arbeit schließt Alexander Eichmann zuerst Haus- und Wohnungstüre auf, dann eine dritte Türe mit Sicherheitsschloss und hohen Brand- und Schallschutzstandards. Diese schützt Eichmanns »eigene vier Wände« innerhalb einer sogenannten Clusterwohnung. Das Konzept dahinter ist so einfach wie klug und stellt sich innovativ folgendem Dilemma: Wer genug von den Auseinandersetzungen in Wohngemeinschaften um Sauberkeit und Kühlschrankfächer hat, zieht für gewöhnlich in Single- oder Pärchenwohnungen. Doch diese sind für den Einzelnen teuer und für die Gesellschaft unerwünscht, da der hohe Flächenverbrauch die Zersiedlung fördert und Verdichtungsbemühungen zunichte macht. Die »Clusterwohnung« sucht einen Mittelweg aus dieser Zwickmühle: Geräumige, gut isolierte Zimmer mit eigenem Bad – teilweise auch mit eigener Teeküche – stellen eine Art »Wohnung in der Wohnung« dar. Die eigentliche Küche, das Wohnzimmer und Balkon oder Terrasse werden geteilt. ›
Aufstockung mit Clusterwohnung
Beim Umbau des ehemaligen Striplokals St. Pauli wirkte Vera Gloor als Architektin und Mitglied der Bauherrschaft zugleich. Als Teilhaberin der ZH Immobilien AG verantwortete sie Erwerb, Totalsanierung und Aufstockung der heruntergekommenen Liegenschaft in der Zürcher Langstrasse. Über einem Convenience Store liegen nun eine Büroetage und zwei von »normalen« Wohngemeinschaften bewohnte Geschosswohnungen. Hier wurden lediglich neue Küchen und Nasszellen eingerichtet, Leitungen und Fenster ersetzt und die Oberflächen aufgearbeitet. Der Altbaucharme mit knarrenden Parkettböden blieb erhalten.
Anders das alte Dachgeschoss, das ein zweigeschossiger Leichtbau aus Holz ersetzte. Hier befindet sich nun die in zwei klaren Raumschichten angeordnete Clusterwohnung. Neben der Wohneinheit von Alexander Eichmann liegen drei weitere Wohn- und Schlafzimmer mit eigenem Bad in Größen zwischen 34 und 38 m² am ostseitigen Innenhof. Zur belebten Straßenseite ist ihnen ein Gemeinschaftsraum von 67 m² vorgelagert, bestehend aus Küche, zweigeschossigem Essbereich und Galerie. Letztere erschließt die beiden oberen Wohneinheiten und die offene Wohnlounge, die als Dachgaube an der Westfassade ablesbar ist.
Land, Stadt, Quartier
Während Europa strauchelt, zieht die Weltfinanzkrise an der Bankenstadt Zürich beinahe spurlos vorüber. Die Kehrseite dieses Erfolgs ist eine regelrechte Wohnungsnot: Trotz reger Bautätigkeit in den vergangenen Jahren bedeutet die Leerstandsziffer von 0,1 % auch 2012 noch einen traurigen Landesrekord. Im naturgemäß folgenden Kampf um den knappen Wohnraum unterliegen sozial schwächere Bevölkerungsschichten – junge Familien, Ausländer, Alleinerziehende und Senioren werden an den Stadtrand und ins Umland verdrängt.
Innerhalb dieser Dynamik spielt der Zürcher Stadtkreis 4 eine Schlüsselrolle. Anfang des 20. Jahrhunderts als Arbeiterquartier entstanden, wurde die Gegend um die Langstrasse zunächst zum städtischen Rotlichtmilieu, erlebt jedoch seit 1990 einen intensiven Wandel zur beliebten Ausgehmeile. Heute leben auffallend viele junge und alleinstehende Menschen im Quartier, 40 % davon sind Ausländer. ›
› Zum Hauptproblem wurde in den vergangenen Jahren vor allem die Bausubstanz: Im Gegensatz zum gesamtstädtisch ausgeglichenen Gebäudebestand wurden die Wohn- und Geschäftshäuser im Kreis 4 großmehrheitlich vor 1930 errichtet, höchst nachlässig unterhalten und stehen nun vor der Wahl: Ersatzneubau oder Totalsanierung. Besitzer und Investoren, die marode Objekte zu horrenden Preisen kaufen, müssen diese Kosten in ihre Renditerechnungen integrieren. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ist die Erhaltung günstigen Wohnraums für die ansässige Bevölkerung daher selbst bei gutem Willen und ungewöhnlichen Renditezielen beinahe unmöglich geworden.
Weniger wäre mehr
Das Konzept der Clusterwohnung birgt großes Potenzial für innerstädtische Verdichtung unter Rücksichtnahme auf wenig solvente Mieter. Beim Beispiel in der Zürcher Langstrasse geht es jedoch weniger um Verdichtung, sondern um Lifestyle. Der Mietpreis von umgerechnet 1 350 Euro pro Kopf liegt zwar durchaus im üblichen Bereich für vergleichbare Neubauflächen an zentraler Lage, doch gerade darum ist er für viele zu hoch. Der Grund ist ein hoher Flächenverbrauch, der mit rund 221 m² für vier Bewohner klar über dem Stadtdurchschnitt liegt. Angesichts dieser Großzügigkeit ist das Fehlen einer gemeinschaftlichen Toilette zumindest fraglich und letztlich zeigt die anfänglich schwierige Vermietbarkeit der Clustereinheiten: Das zahlungskräftige Klientel bevorzugt fast immer die Privatsphäre einer gewöhnlichen Single- oder Pärchenwohnung.
Clusterwohnungen müssen folglich ein tieferes Marktsegment ansprechen – Personen, die sich mehr als ein WG-Zimmer, aber keine eigene Wohnung leisten können. Statt riesigen Individualräumen und zweigeschossigen Gemeinschaftsbereichen müsste eine verdichtungstaugliche Interpretation des progressiven Wohnkonzepts deshalb aus deutlich kleineren Räumen bestehen. Dies hat auch Vera Gloor erkannt. Die Architektin plant derzeit in einem Folgeobjekt auf vergleichbarer Fläche eine Clusterwohnung für sechs Personen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Lernprozess auch die Dachterrasse betrifft: In der Langstrasse war diese vor dem Umbau aus dem gemeinsamen Treppenhaus zugänglich. Die neue Dachterrasse der Aufstockung gehört dagegen exklusiv zur Clusterwohnung – den restlichen Bewohnern bleibt nunmehr die schattige Terrasse im ersten Stock des ostwärtigen Innenhofs.
Palle Petersen: Wie wurden Sie zum Mieter im »St. Pauli«?
Alexander Eichmann: Ich kenne Vera Gloor vom gemeinsamen Karate-Training. Als der befristete Mietvertrag meiner Altbauwohnung vor zwei Jahren auslief, erzählte sie mir von ihrem Projekt in der Langstrasse.
Kannten Sie das Konzept einer Clusterwohnung bereits?
Nein, aber ich war neugierig und zugleich skeptisch. Das Quartier hat nach wie vor nicht den besten Ruf. Hinzu kamen der für meine Verhältnisse hohe Mietzins und die Frage, ob ich als damals 44-Jähriger in einer Wohngemeinschaft ein ruhiges Leben würde führen können. Das Konzept der »Wohnung in der Wohnung« hat mich schlussendlich jedoch überzeugt. Außerdem gefiel mir, dass es – im Gegensatz zu »normalen« Wohngemeinschaften – keinen Ankermieter gibt. Bei Mieterwechseln sorgt also die Verwaltung für geeigneten »Ersatz«.
War es rückblickend eine gute Entscheidung, im »St. Pauli« einzuziehen?
Auf jeden Fall! Ich selbst bin Betreuer im Sozialbereich, außerdem wohnen hier eine Kindergärtnerin, ein Unternehmensberater und ein Physiker. Wir sind also sehr verschieden. Das Clusterwohnen bietet jedem genügend Freiraum und so leben wir gut aneinander vorbei. Ich plane jedenfalls, langfristig hier zu wohnen.
Wie darf man sich dieses »Aneinander-Vorbeileben« vorstellen?
Der Physiker und der Unternehmensberater sind ständig unterwegs, wir sehen uns nur zwei Mal pro Monat. Die Kindergärtnerin und ich sind zwar häufiger daheim, trotzdem kocht in der Regel jeder für sich. In anderthalb Jahren saßen wir erst zwei Mal zu viert am Esstisch.
Wie sieht es mit typischen WG-Problemen aus, gibt es einen Putzplan?
Anfangs haben wir über eine Putzfrau nachgedacht, schlussendlich einigten wir uns aber darauf, dass die Kindergärtnerin und ich die Reinigung gegen einen abgemachten Betrag übernehmen. Bis auf die Unordnung nach einer Party des Unternehmensberaters hat sich dies bewährt.
Ganz allgemein: Was schätzen Sie an der Wohnung, was nicht?
Für mich funktioniert das Clusterwohnen als Konzept bestens und mir gefällt die zurückhaltend moderne Gestaltung. Allerdings könnte alles etwas kompakter und dafür günstiger sein. Natürlich genieße ich täglich mein großes Zimmer, die gemeinsame Wohnfläche lohnt sich dagegen nur in den seltenen Fällen, wenn viele Leute zu Besuch sind. •
Standort: Langstrasse 134, CH-8004 Zürich
Auftraggeber: ZH Immobilien, Zürich, www.zhimmobilien.ch
Architektur: Architekturbüro Vera Gloor, Zürich, www.veragloor.ch
Tragwerksplanung: Schnetzer Puskas Ingenieure, Zürich, www.schnetzerpuskas.com
Wohneinheiten: zwei Geschoss-, vier Kleinwohnungen mit Gemeinschaftsräumen
Wohnflächen Geschosswohnungen: je 100 m²
Wohnflächen Kleinwohnungen: je 34-38 m²; Gemeinschaftsräume: 67 m²
Baukosten: ca. 2,59 Mio. Euro
Beteiligte Firmen:
Dämmung Flachdach: Flumroc-Dämmplatte 1, Steinwollplatte, Flumroc, Flums, www.flumroc.ch
Dämmung Schrägdach/Lukarnen: Isophen, Klemmfilz/PB F 032, Glaswollplatte, Saint-Gobain Isover, Lucens, www.isover.ch
Unterkonstruktion Lukarnen: Isoroof Natur, Unterdeckplatte, Pavatex, Fribourg, www.pavatex.ch
Untersicht Dach/Lukarnen: Fermacell, Gipsfaserplatte, Fermacell/Xella, Duisburg, www.fermacell.de
Fassadendämmung: Marmopor Plus 032, 3-Schicht-Fassadendämmplatte, Maxit Marmoran/Saint-Gobain Weber, Dättwil, www.weber-marmoran.ch
weitere Informationen unter www.db-metamorphose.de
  • 1 Eingang
  • 2 Flur
  • 3 Zimmer
  • 4 Kochen
  • 5 Vorratsraum
  • 6 Kleinwohnung
  • 7 Wohnküche
  • 8 Lounge
  • 9 Luftraum

Zürich (CH) (S. 118)

Vera Gloor AG
Vera Gloor
1963 geboren. Ausbildung und Tätigkeit am Theater in Göteborg und Zürich. Architekturstudium an der ETH Zürich, Diplom. Architekturstipendium an der Harvard University. Berufstätigkeit in Graz, Berlin und Zürich, seit 1993 eigenes Büro in Zürich. 2007 Mitbegründung der ZH Immobilien AG für Stadtentwicklung.
Palle Petersen
1984 in Frankfurt a. M. geboren. Zweijähriges Journalismusstudium in Winterthur, anschließend Architekturstudium an der ETH Zürich, 2012 Diplom. Freier Kritiker, Publikationen in Zeitschriften und Büchern.
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