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Jammerstock

Karlsruher Gropius-Siedlung vernachlässigt
Jammerstock

Einst weltweit beachtetes Vorzeigeprojekt des »Neuen Bauens«, heute trauriges Flickwerk: das Dammerstock-Areal von Walter Gropius.

{Text: Christian Schönwetter

Der Volksmund hatte natürlich sofort einen Spottnamen parat: Als 1929 die asketisch strengen Wohnzeilen im Karlsruher Viertel Dammerstock bezogen wurden, verhöhnte er die Siedlung als »Jammerstock«. Die Wände seien so dünn, dass nebeneinander wohnende Familien mit nur einem Nagel auskämen, wenn sie zwei Bilder aufhängen wollten. Ungeachtet einiger baukonstruktiver Schwächen hat das Ensemble sich jedoch seinen festen Platz in der Baugeschichte erobert. Die Architektursprache, die Grundrisse, die Rigorosität der städtebaulichen Anlage waren so wegweisend, dass sie weit über Deutschland hinaus beachtet wurden – selbst in den Archiven der amerikanischen Elite-Uni Harvard finden sich Dokumente über die Siedlung. Inzwischen ist sie in die Denkmalliste der Stadt Karlsruhe eingetragen.
Unter Denkmalschutz scheinen einige Bewohner aber vor allem den Schutz der Häuser vor den Ansprüchen der Denkmalpflege zu verstehen. Ohne Rücksicht auf das ehemals einheitliche Erscheinungsbild der Zeilen verändern die Nutzer ihre Reihenhäuser: Einer ersetzt an der Außentreppe ein filigranes Stahl- durch ein rustikales Holzgeländer, ein anderer montiert statt des üblichen Vordachs in Pultform ein Baumarktexemplar in Pyramidenform, ein weiterer tauscht beim Fenster zum Vorgarten Klarglas gegen bunte Butzenscheiben aus. Nichts gegen das notwendige Anpassen der Bauten an heutige Bedürfnisse – aber von den Bewohnern eines so hochkarätigen Denkmals darf man doch etwas mehr Fingerspitzengefühl verlangen. Wem das Treppengeländer nicht sicher genug erscheint, könnte die Stahlstäbe wenigstens durch eine Glasscheibe ergänzen, wer neugierige Blicke durchs Fenster in die Innenräume fürchtet, könnte statt Butzen- einfach satiniertes Glas verwenden. Ihren Respekt vor der Geschichte drücken diese Nutzer auf andere Weise aus. Sie pflanzen so üppiges Grün, dass Besuchern zumindest im Sommer der Anblick einiger Modernisierungssünden erspart bleibt.
Bei anderen Bauten ist es nicht der individuelle Gestaltungsdrang, der das Erscheinungsbild beeinträchtigt, sondern die laienhafte Sanierung. Obwohl nicht erst seit gestern bekannt ist, dass man bei Denkmalen keine unerprobten Bautechniken ohne Langzeiterfahrung anwenden sollte, wurden die Gebäude vor einiger Zeit mit einem Wärmedämmverbundsystem eingepackt. Auch sie verschwinden nun hinter üppigem Grün: dem Algenbewuchs auf den Nordfassaden. Da bekommt der Begriff »organische Architektur« eine ganz neue Bedeutung. Wo der grüne Pelz einen Blick auf die Putzflächen freilässt, zeichnen sich die Befestigungsanker des WDVS als lebhaftes Muster ab. So hatten sich Gropius und seine Mitstreiter das Aussehen der Häuser wohl eher nicht vorgestellt.
Auch der emblematische Kopfbau, der den Eingang zur Siedlung markiert, hat schon bessere Tage gesehen. Niemand kümmert sich um die verdreckten Fassaden, die kaum noch etwas von dem strahlenden Weiß erkennen lassen, das einst den Anspruch auf eine neue Wohnhygiene mit Licht, Luft und Sonne zum Ausdruck brachte. Ein paar Meter weiter stören unsensible Ergänzungen aus der Nachkriegszeit das Gesamtensemble empfindlich. Zwei reichlich schlichte Laden-Bungalows mit überbreitem Dachrand, aufdringlicher Leuchtschrift und nostalgischer Haubenmarkise lassen jeglichen gestalterischen Anspruch vermissen – Bauwirtschaftsfunktionalismus pur.
Manche Besucher, die heute durch die Straßen streifen, mögen sich die Frage stellen, was Gropius wohl über den aktuellen Zustand der Siedlung sagen würde. Wahrscheinlich fiele ihm schnell ein Wort von 1929 ein: Jammerstock.
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