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Kunstmuseum Moritzburg in Halle

Radikal sensibel
Kunstmuseum Moritzburg in Halle

Kunstmuseum Moritzburg in Halle
Bild: Roland Halbe, Stuttgart

Mit einem Paukenschlag und doch mit viel Fingerspitzengefühl hat das spanische Architekturbüro Nieto Sobejano das Kunstmuseum in der Hallenser Moritzburg erweitert. Die Ruinen des Nord- und des Westflügels überspannt eine gewagte Dachkonstruktion, die neue Räume für die Sammlung des Landes Sachsen-Anhalt schafft. Die frühere Ruine bleibt dabei stets ablesbar.

Manchmal ist das Dach nicht die fünfte Fassade eines Gebäudes, sondern die erste. Wer etwa durch die Innenstadt von Halle schlendert und sich dem Kunstmuseum in der Moritzburg nähert, sieht die skulpturale metallene Dachlandschaft der Burg schon von weitem zwischen den Häusern hervorblitzen. Als Collage aus asymmetrischen Pyramidenstümpfen glitzert das neue Dach über den alten Ruinenmauern in der Sonne und springt dem Besucher sofort ins Auge. Während die Dachlandschaft ein architektonisches Spektakel veranstaltet, wie es heute für Museen unverzichtbar zu sein scheint, sind die alten Bruchsteinfassaden nahezu unverändert geblieben. Beim aktuellen Umbau haben die Architekten ihnen angesichts der rund 500-jährigen Geschichte des Bauwerks großen Respekt gezollt.

Wechselvolle Vergangenheit

1484 bis 1503 hatte Erzbischof Ernst von Sachsen die Moritzburg errichten lassen – als Vierflügelanlage im Stil der Gotik und Frührenaissance. Im Dreißigjährigen Krieg wurde der südwestliche Eckturm gesprengt; der West- und der Nordflügel brannten aus und existierten seither nur noch als Ruine. Es folgte ein Wechsel von Verfall und Wiederaufbau. Im Barock kam ein Lazarett auf der Ostseite hinzu, 1829 wollte Karl Friedrich Schinkel Teile der Burg zum Universitätsgebäude umnutzen und sie neogotisch-klassizistisch überbauen, doch die Pläne scheiterten an Geldmangel. Als der Nordflügel einzustürzen drohte, baute man ihn kurz vor der Jahrhundertwende zu einer Turnhalle für die Universität aus und um 1900 errichtete man einen Wehrgang in historisierenden Formen an der Ost- und Südseite der Burg. Im Zusammenspiel aller Bauteile entstand ein bunter Stilmix – wie geschaffen um 400 Jahre mitteleuropäischer Baugeschichte zu studieren. 1904 schließlich zog die Kunst ein, die Burg avancierte zum Museum und entwickelte sich zu einem Zentrum für zeitgenössische Malerei. Im Torturm wurde um 1930 ein Atelier für Lyonel Feininger eingerichtet, der dort seine berühmten Stadtansichten von Halle schuf.

An der Nutzung der Moritzburg als Kunstmuseum hat sich seither nichts geändert, inzwischen ist dort die Sammlung des Landes Sachsen-Anhalt untergebracht. Weil diese seit einigen Jahren aus allen Nähten platzte, fiel der Entschluss, die Ruinen des West- und des Nordflügels zu Museumsräumen auszubauen. Damit bot sich gleichzeitig die Chance, die Burg erstmals seit dem Dreißigjährigen Krieg wieder zur kompletten Vierflügelanlage zu ergänzen.

Kubismus auf dem Dach

Den europaweit ausgeschriebenen Wettbewerb gewannen Nieto Sobejano mit der Idee, die Weitläufigkeit der Ruine – vom Westflügel standen nur noch die Außenmauern – zu erhalten. Statt neue Baukörper zwischen die Ruinenmauern zu stellen oder die vorhandene Fläche in einzelne Säle zu unterteilen, errichteten sie einfach ein neues Dach, das auf den vorhandenen Mauern aufsitzt, die Fläche überspannt und eine große Halle entstehen lässt. Von oben hängen kleinere Kabinette als weiße Boxen hinab in die Halle, sie sind über eine Galerie entlang der Außenmauern erschlossen. Der vertraute großzügige Raumeindruck der Ruine bleibt erhalten und damit die Erinnerung an den Zustand, in dem sich das Bauwerk die meisten Jahre seines Daseins befand.

Während das Dach innen als ruhige horizontale Fläche den Raum nach oben hin abschließt, stellt es sich außen deutlich bewegter dar. Zunächst bildet es noch einen flachen Kranz über der alten
Mauerkrone, hinter die es etwas zurückweicht, doch dann knickt und faltet es sich zu einer plastisch ausgeformten Landschaft, aus der sich vier Oberlichter als Pyramidenstümpfe weit nach oben stülpen. Sie lassen sich als angedeutete Türme lesen und nehmen Bezug auf die bestehende unregelmäßige Dachlandschaft des Ost- und Südflügels. In seiner expressiven, facettierten Gestalt lehnt sich das neue Dach nicht zuletzt an die Formensprache Lyonel Feiningers an. Fast scheint es, als hätten die Architekten dessen kubistische Gemälde, in denen Dreidimensionalität in zwei Dimensionen ausgedrückt ist, wieder zurückgeführt in die dritte Dimension. Um die skulpturale Wirkung der Dachlandschaft besonders zu unterstreichen, trägt sie auf Anregung der Wettbewerbsjury nicht die ursprünglich vorgesehene Zinkbekleidung mit Stehfalzen, sondern eine ebene Deckung aus walzblankem Aluminium, die ohne störende Falze auskommt.

Selbstbewusste Ergänzungen

Facettierte Körper im Aluminiumkleid – damit ist auch der Ton für die anderen Bauteile angeschlagen, die Nieto Sobejano der Burg außen hinzufügten: Im Hof schiebt sich ein Windfang vor den Nordflügel und markiert unverkennbar den neuen Haupteingang. Vor die Südwestecke stellt sich ein neuer Erschließungsturm, der Abstand von der alten Außenwand hält. Er nimmt den Lastenaufzug und eine Nottreppe auf, vor allem aber ersetzt er in zeitgemäßer Formensprache den Rundturm, der hier seit dem Dreißigjährigen Krieg fehlte. Neue Verglasungen, die die vorhandenen Fensteröffnungen der Ruine schließen, weichen weit hinter die Fassadenebene zurück und bewahren dadurch das vertraute Bild. Wo noch vorhanden, dominieren
Maßwerkreste das Erscheinungsbild der Fenster und werden nicht durch die heute notwendigen üppigen Profilstärken der Fensterrahmen erdrückt. Im zweiten Obergeschoss des Nordflügels stellt sich hinter die alte Mauerkrone der Ruine eine vollflächige Glasfassade, die von außen leider nicht so leicht und transparent wirkt, wie man sie sich vielleicht wünschen würde, sondern kräftig spiegelt.

Heterogenes Innenleben

Das Innere der Burg lässt einen sehr differenzierten Umgang mit dem Bestand erkennen. Im Westflügel hält eine Kiesfuge den schwarzen, neu eingebrachten Industrieterrazzo auf Abstand von den alten Mauern. Die nackten Bruchsteinwände blieben sichtbar und unterstützen damit das Konzept, die Erinnerung an die Ruinenzeit zu bewahren. Wandoberflächen, die nicht aus der Entstehungszeit stammen, sondern in späteren Jahren mit Backstein ergänzt wurden, zeigen sich heute mit einer cremefarbenen Schlämmung. Gänzlich neue Decken und Wände schließlich sind am weißen Putz ablesbar. Dadurch lässt sich auch eindeutig erkennen, dass im Inneren des Nordflügels alle Oberflächen neu sind. Denn dort haben die Architekten die Turnhalle, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingebaut worden war, herausreißen lassen – unter leisem Murren der Denkmalpflege.

Nur an einer Stelle im Westflügel verschwimmen die Grenzen zwischen Alt und Neu: Weil sich die Stahlkonstruktion des Daches nicht unmittelbar auf das alte Mauerwerk aufsetzen ließ, ruht sie auf einem Ringanker aus Stahlbeton. Dieser trägt eine Verkleidung aus Bruchsteinen, die die Anmutung der alten Wände imitiert. Hätte nicht auch einfach der rohe Beton gut zu dem vorhandenen ruppigen Mauerwerk gepasst? Eine „ehrliche“ statt einer kaschierenden Konstruktion? Offensichtlich war hier eher ein einheitliches Erscheinungsbild gewünscht. Da die Verkleidung sich mit ihrer etwas exakteren Bearbeitung der Steine dann doch minimal vom vorhandenen alten Mauerwerk unterscheidet, könnte man ihr zugute halten, dass sie sich immerhin auf den zweiten Blick als neues Element zu erkennen gebe, dass sie also auf dezente Zwischentöne statt auf lauten Kontrast zum Bestand setze. Doch dann stellt sich die Frage, warum sich ausgerechnet dieses Bauteil in seiner Anmutung eng an die vorhandene Bausubstanz anlehnt, während alle anderen Elemente den Unterschied zwischen Alt und Neu deutlich betonen, ja geradezu inszenieren.

Raum und Inhalt

Vielleicht wäre der Raum zu unruhig geworden und hätte von der Kunst abgelenkt, die dort schließlich auch zur Geltung kommen soll. Ohnehin bilden die Reste eines monumentalen alten Kamins, die Gewölbeansätze und die in den Mauern versteckten Treppenläufe einen sehr lebendigen, sehr starken Hintergrund. Die Gemälde hängen daher nicht an den alten Bruchsteinmauern, sondern an vorgesetzten weißen Wandschalen oder an frei in den Raum gestellten Wandscheiben. In den neuen Räumlichkeiten präsentiert das Museum Werke des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Und noch einmal ist es Feininger, dem hier eine Sonderstellung eingeräumt wird: Eine seiner Stadtansichten, „Der Dom von Halle“, hängt unmittelbar neben dem Durchgang zum neuen Südwestturm. Wer vor dem Bild steht, kann den Blick durch ein exakt platziertes Fenster über die Stadt zum Dom schweifen lassen – Gemälde und Motiv im Direktvergleich.

Mit dem modernen, vielschichtigen Ausbau der beiden ausgebrannten Flügel der Moritzburg zeigen Nieto Sobejano, wie sich eine Ruine in ein vollwertiges Gebäude verwandeln lässt, ohne dabei den Ruinencharakter zu zerstören. Statt eines detailgetreuen Wiederaufbaus, der Verlorenes scheinbar wiederauferstehen lässt, oder eines Neubaus, der die Ruine unberührt lassen würde, schaffen sie mit geschickten Ergänzungen neue Räume, in denen die Erinnerung an das Vergangene stets lebendig bleibt.

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