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Zentrifugale Tendenzen (Berlin)

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Zentrifugale Tendenzen (Berlin)

Zentrifugale Tendenzen (Berlin)

~Bernhard Schulz

Es gab in der Sowjetunion keine freien Berufe, keine selbstständigen Architekten. Wer nicht in den Stadt- oder Gebietsverwaltungen oder in einem der gewaltigen Kombinate Anstellung fand, hatte keine Aussicht auf praktische Tätigkeit. Daraus entwickelte sich seit den 70er Jahren eine Strömung, die sich mit der Hoffnung auf Realisierung gar nicht erst abgab, sondern dem freien Flug der Gedanken folgte – auf dem Zeichenpapier. Ausgerechnet während der »bleiernen Zeit« unter Breschnew, gelang es zwei jungen Kuratoren, in den Redaktionsräumen der Moskauer Zeitschrift »Junost« (Jugend) eine Ausstellung mit Arbeiten von Architekturstudenten zu zeigen, die gegen die Ödnis der industriellen Bauweise aufbegehren. 1984 wurde so zum Geburtsjahr der »Papierarchitektur«, wie Juri Awwakumow die Ausstellung betitelte und so der ganzen Richtung den Namen gab. Awwakumow ist nun, 30 Jahre später, gemeinsam mit Andres Kurg, Kurator der Ausstellung »Zentrifugale Tendenzen«, die im von der Tchoban Foundation betriebenen Museum für Architekturzeichnung in Berlin die damalige Bewegung in Erinnerung ruft.

Gezeigt werden Blätter aus drei Zentren der »Papierarchitektur«; neben Moskau waren das Nowosibirsk, die stets zukunftsfreudige Industriestadt, sowie Tallinn, die stets widerborstige Hauptstadt der estnischen Sowjetrepublik. Aus diesen drei Zentren sind Blätter in der Ausstellung zu sehen. Sie erinnern den Besucher unmittelbar an die Post-Moderne, die im Westen gleichermaßen eine Blütezeit der Architekturfantasien war. Es war, wie wir heute wissen, die letzte Stilrichtung, die noch auf Papier und mit allen grafischen Techniken arbeitete.

Die sowjetischen Papierarchitekten konnten auf die Vergangenheit des eigenen Landes zurückgreifen – die ungebauten Zukunftshoffnungen der Konstruktivisten. Andere, wie insbesondere der mittlerweile als einer der Großen einer reflektierenden Architektur gewürdigte Alexander Brodsky, orientierten sich an italienischen Vorbildern wie Piranesi oder an der französischen Revolutionsarchitektur eines Boullée oder Ledoux.

Die estnischen Arbeiten sind farbig gehalten, während die russischen Beiträge meist in reinem Schwarz-Weiß daherkommen und v. a. das einheitliche Format von DIN A3 aufweisen. Damit nämlich konnten die Architekten am jährlichen Wettbewerb der Zeitschrift »Japan Architect« teilnehmen, wozu jeweils zwei Blätter im genannten Format einzuschicken waren. Das ging zurück auf das Jahr 1975 und war unerlaubt; immerhin ab 1982 war die Teilnahme zwar nicht gern gesehen, jedoch offiziell gestattet. »Papierarchitektur« galt in der Sowjetunion als negativer Begriff, weil mit ihm – und völlig zu Recht – die Ablehnung der parteioffiziellen Linie verbunden wurde.

Die in Berlin gezeigten Blätter, zumal die estnischen, lassen an damalige Entwürfe von Zaha Hadid oder Rem Koolhaas denken, die gleichfalls ungebaut blieben. Während die meisten Entwürfe auf keinen konkreten Ort bezogen sind, zielte der Entwurf »Palast des Friedens und der Nationen« – mitverfasst u. a. von Alexey Gutnow – unmittelbar auf das Grundstück des legendären »Palast der Sowjets« aus Stalinzeiten, dessen einzig realisierten Fundamente unter Chruschtschow zum Freibad umgebaut wurden. Brodsky und Ilja Utkin zeigten in »Columbarium habitabile« von 1986 nichts weniger als das Absterben der Stadt, während Juri Awwakumow – er zeichnete selbst auch – zusammen mit Michail Below 1983 ein wachsendes Friedhofs-Hochhaus imaginierte. Vilen Künnapu und seine Kollegen aus Tallinn nahmen am Wettbewerb »West Coast Gateway Los Angeles« teil, mit einem Entwurf, der an die technizistischen Visionen der britischen Gruppe Archigram erinnert. Schon 1973 hatte Ülevi Eljand »Außerirdische in Tallinn« gesichtet, die mit ihrem Raumschiff am höchsten Kirchturm der Stadt festmachen. Heute gehört das Blatt dem Estnischen Architekturmuseum, als Teil und Zeugnis der nationalen Kunsttradition.

Im Ausland hatten die Papierarchitekten enormen Erfolg, so bei der Triennale in Mailand oder dem Pariser Architektursalon von 1988. Ihre visionären Entwürfe lösten im Westen Begeisterung aus zu einer Zeit, da der »Internationale Stil« verbraucht war und mit oder neben dem Begriff der Post-Moderne Anleihen bei der Vergangenheit gemacht wurden, und sei es bei einer Zukunftshoffnung wie der der Konstruktivisten, die gleichfalls in der Vergangenheit lag.

Bis 18. Februar. Zentrifugale Tendenzen. Tallinn – Moskau – Nowosibirsk. Museum für Architekturzeichnung, Christinenstraße 18a, 10119 Berlin, Mo-Fr 14-19, Sa+So 13-17 Uhr, Katalog: Juri Awwakumow (Hrsg.), Deutsch/Englisch, 27 Euro, www.tchoban-foundation.de

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