Pripjat und Tschernobyl. Ein Fotoband von Robert Polidori, mit einem Text von Elizabeth Culbert. 112 Seiten, 180 Farbabbildungen, Format 38,5 x 30 cm, gebunden, Schutzumschlag, 60 Euro. Steidl Verlag, Göttingen, 2004
Verseucht, verlassen, verwüstet: Es war ein GAU, der zur Zerstörung des Blocks 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl und dazu führte, dass 116000 Menschen das Gebiet im Umkreis von dreißig Kilometern verlassen mussten – viele zu spät, weil längst verstrahlt. Und viele kamen wieder, um wenigstens Hab und Gut zu retten – ebenfalls zu spät, denn Plünderer waren schneller, verseucht waren Hab und Gut sowieso. Bis 1995 wurden insgesamt 350000 Menschen aus Gebieten Weißrusslands und der Ukraine umgesiedelt, die als radioaktiv verseucht gelten. Die Sperrzonen wurden ausgeweitet, nur Unbelehrbare und ein paar Wissenschaftler trifft man noch an Ort und Stelle. Denn die Gefahr, die der stillgelegte, zerfallende Reaktor birgt, wächst; jüngste Pläne sehen vor, einen Stahlmantel um den ganzen Reaktor zu bauen. Weiß jemand hier zu Lande, wie es heute in Tschernobyl und der Pripjat aussieht? Der Fotograf Robert Polidori fuhr hin und fotografierte zwischen dem 6. und 9. Juni 2001 die menschenleere Stadt: Überall erschrecken die Spuren gerade noch quirligen Alltags, die unter radioaktivem Staub begraben sind. Es sind gespenstische Szenarien, die Steven Spielberg oder Roland Emmerich niemals beklemmender erfinden könnten. Architekturfotografie leistet hier eine Berserkerarbeit gegen das Vergessen. Gern nimmt man das Buch gewiss nicht zur Hand – aber immer wieder, weil man kaum glauben kann, was man auf den Bildern sieht. Polidoris Fotoaktion gegen das Vergessen ist keineswegs nostalgisch, sondern ruft auch die Zeitbomben in Erinnerung, die manche Atomkraftwerke noch immer sind. Ursula Baus
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