Moderne Traditionen

~Christoph Gunßer

Als Indien 1947 nach gut 200 Jahren britischer Herrschaft selbstständig wurde, gab es gerade einmal 300 Architekten und eine Ausbildungsstätte. Moderne westliche Vorbilder blieben daher für lange Zeit weiterhin prägend. Für repräsentative Bauten holte die junge Demokratie Le Corbusier und später Louis Kahn ins Land, deren Mitarbeiter noch heute führende Architekten sind. Doch mehr und mehr besinnen sich die Baumeister auch auf die reiche eigene indische Identität, die lange vor den Briten fremde Einflüsse zu integrieren wusste. Tiefe spirituelle Wurzeln und völlig andere Bedürfnisse für das 250 Sprachen sprechende Milliardenvolk lassen Architekten heute vielfältige eigene Wege gehen: spätmodern (seit der Öffnung und Globalisierung in den neunziger Jahren entstehen vermehrt Hochhäuser), indisch-modern (wie Charles Correa, der bekannteste Architekt), Low-Cost-Projekte, klassisch-modern, materialbetont, traditionsverbunden oder ökologisch-nachhaltig.

Das sind die Kategorien dieses lesenswerten Buches, das für einen Überblick dieser verwirrenden Welt recht schmal erscheint. Sind die modernen Traditionslinien vom Vorwort erst einmal entwirrt, zeigen dreizehn Beispiele schlaglichtartig den gegenwärtigen Reichtum des indischen Bauens: Regierungsgebäude wie die von zahlreichen Kuppeln gekrönte Bibliothek des indischen Parlaments von Raj Rewal, die Erweiterung von Kahns Campus in Ahmedabad und große Stadtplanungsvorhaben für Mumbai/Bombay mit angepassten Wohnquartieren stehen neben eleganten Wohnhäusern, Hochhäusern und Hotels. Ein »grünes« Business Center beschließt die notgedrungen bunte, grafisch großzügig arrangierte Sammlung.

Dem Autor gelingt es dabei, die westlichen Betrachtern oft fremde Ästhetik verständlich zu machen. Selbst Wandler zwischen den Welten und Architekt eines schönen klassisch-modernen Hauses im paradiesischen Süden Indiens, erweitert er so ohne Klischees unsere Bau-Welt.