Architecture in India Since 1990

~Bärbel Högner

Höhepunkt der Feierlichkeiten zum Geburtstag von Ganesha ist in Mumbai die Versenkung von gigantischen Repliken des Gottes mit Elefantenkopf im Meer. In den letzten Jahren stieg die Zahl der Prozessionsteilnehmer kontinuierlich, wie auch die Opulenz in der Ausstattung der Wagen mit den Statuen zunahm. Die zahlreichen »temporären Architekturen«, die sich auf dem Weg zum Strand durch die Mega-Stadt winden, sind – so die Deutung von Rahul Mehrotra – eine besondere Facette jener Veränderung der gebauten Umwelt auf dem Subkontinent, die seit der wirtschaftlichen Liberalisierung zu Beginn der 1990er Jahre einsetzte. Mit der Öffnung des Marktes ging die Befürchtung einher, das Land könne von einer vermeintlich globalen, homogenen Architektur überzogen werden. Ausgangspunkt für Mehrotras fundierte Bestandsaufnahme ist die gegenteilige Feststellung: Die Bauten aus den letzten zwei Jahrzehnten zeichnen sich durch eine einzigartige Vielfalt aus.

Den Pluralismus zeitgenössischer indischer Architektur gliedert der Autor in vier Strömungen. Die Bemühungen, formal den Anschluss an die Globalisierung zu demonstrieren, wie beim Bau von Flughäfen oder Bürogebäuden, stellen dabei eine extreme Seite möglicher Gestaltung dar. Konträr dazu beobachtet er das Wiedererstarken von Elementen »aus der Vergangenheit«: aufwendige Tempelbauten mit traditionellen Symbolen oder religiös motivierte Besetzungen des öffentlichen Raums. Weitere Arbeitsweisen sind die stilistische Bezugnahme auf das regionale Umfeld und schließlich die Entwicklung von Konzepten für Nachhaltigkeit unter Verwendung lokaler Techniken und Materialien. Einführende Texte betten die aktuelle indische Architektur historisch ein, umfangreiche Bildstrecken stellen Einzelprojekte beispielhaft vor. Mehrotra arbeitet die Strukturen des Kaleidoskops heraus, wobei er die Widersprüche wohlwollend und zugleich erfreulich kritisch betrachtet.