In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erreichte die europäische Avantgarde in Kunst und Architektur ihren Höhepunkt und brachte Strömungen wie das Bauhaus oder das Neue Frankfurt (s. db 05/2019, S. 56) hervor. Auch Stuttgart galt als bedeutendes Zentrum dieser Entwicklung, wovon die Realisierung der Weissenhofsiedlung als Teil der Ausstellung »Die Wohnung« von 1927 immer noch zeugt. Sie ist auch der Namensgeber der aktuellen Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie, die im Zuge des 100-jährigen Bauhaus-Jubiläums neue Anknüpfungspunkte an das »Neue Bauen« in Stuttgart präsentiert.
Als Prolog des eigentlichen Ausstellungsparcours dienen die Werke zweier sowohl mit der Moderne als auch mit der Stadt Stuttgart stark verbundener Künstler: Zum einen die Kunstverglasungen von Adolf Hölzel, die aus dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Stuttgarter Rathaus stammen und mit ihrem Farbenspiel und den abstrakten Formen einen starken Kontrast zum historisierenden Stil des Gebäudes bildeten, und zum anderen ein Bild Oskar Schlemmers von 1940.
Die Ausstellung, kuratiert von Alice Koegel und Christian Sander, ist als Raumfolge organisiert, in der jede Station ihr eigenes kleines Universum bildet. Zusammengefasst durch eine v. a. in Schwarz und Weiß gehaltene Szenographie, werden in den einzelnen Räumen sehr unterschiedliche Arbeiten von insgesamt vier Künstlern gezeigt. So auch der authentisch wirkende Kurzfilm von Dani Gal (s. Abb.), bei dem Fakt und Fantasie ineinander übergehen: Mies van der Rohe berichtet während eines fiktiven Interviews mit einer Journalistin u. a. von seiner Zeit als Bauhausdirektor, seinem Entwurf für das Denkmal von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie von seinem Aufeinandertreffen mit den Nationalsozialisten.
Boris Sieverts bietet eine Stadtführung der etwas anderen Art: In einer Videosequenz ist zu sehen, wie er den Talkessel aus Knetmasse modelliert und anhand dessen dann, interessante Orte, unerwartete Analogien und die ein oder andere Kuriosität aufzeigt. Für jeden, der Stuttgart ein wenig kennt, eröffnet sich dabei eine sehr anregend andere Perspektive auf die Stadt. Und während sich Michaela Melián anhand einer abstrakten Installation mit der Rolle der Frau in der Moderne auseinandersetzt, befasst sich Martin Schmidl zeichnerisch mit Person und Werk Adolf Hölzels. Die Arbeiten werden dabei z. T. von Werken aus der Zeit der Moderne ergänzt, wodurch inhaltliche und ästhetische Bezüge deutlich werden.
»Weissenhof City« zeigt, dass das Neue Bauen nach wie vor großes Potenzial für eine vielfältige und kreative Auseinandersetzung bietet, und, dass die Beschäftigung mit der umfangreichen Geschichte der Stuttgarter Avantgarde des letzten Jahrhunderts mehr als lohnenswert ist.
Bis 10. Oktober. Weissenhof City. Von Geschichte und Gegenwart der Zukunft einer Stadt. Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Str. 30-32, 70173 Stuttgart, Di-So 10-17, Do bis 20 Uhr, www.staatsgalerie.de