~Hartmut Möller
Die Neue Nationalgalerie in Berlin ist marode. Gebrochene Glasscheiben, Korrosion am Stahl, demolierte Treppenwangen und Granitplatten sowie eine überholungsbedürftige Haustechnik verdeutlichen die dringend anstehende Sanierung, für die David Chipperfield gewonnen werden konnte. Der Architekt ist für seine Museumsbauten bekannt, seine sensible Umgestaltung des Neuen Museums in der Hauptstadt preisgekrönt. Britisches Understatement ist bei der denkmalgeschützten Ikone der klassischen Moderne gefragt. Womöglich aus dieser Bescheidenheit heraus wurde auch die Anfrage verworfen, hier, vor der Schließung eine eigene Retrospektive zu präsentieren. Stattdessen hat Chipperfield in der oberen Halle eine Installation eingerichtet, die mit dem Gebäude interagiert. Nach Bekunden des Architekten muss bei einer Schau im »schönsten Raum Berlins« eben v. a. der Geist seines Schöpfers präsent sein.
Mies van der Rohes einziges im Nachkriegsdeutschland errichtetes Gebäude vermag auch heute noch zu beeindrucken. Das Stahldach mit 65 m Kantenlänge ruht auf lediglich acht schlanken Stützen in charakteristischer Kreuzform. Diese sind zwar am Dachrand platziert, jedoch weit von den Ecken eingerückt, wodurch die gewaltige Platte zu schweben scheint. Der nach innen zurückgesetzte Glaskörper mit einer Fläche von 2 500 m² konnte so komplett stützenfrei ausgebildet werden. Im Moment beherbergt er über 140 raumhohe Fichtenstämme, die streng im Kreuzraster des Dachträgerrosts ausgerichtet sind. Im Zentrum wurde ein 200 m² großes Areal für wechselnde Kunstaktionen ausgespart. Die gut 8 m langen Holzstämme tragen das Dach allerdings nur vermeintlich. Sie ragen vom Boden bis knapp unter die Knotenpunkte der Konstruktion, um Deckenschwankungen von bis zu 12 cm aufzunehmen. Dank ihrer geometrischen Anordnung ergeben sich im »gläsernen Tempel« interessante Perspektiven, die neben der Rechtwinkligkeit insbesondere auch die Diagonale betonen. Durch die Entrindung der Pfosten wird der Besuch zum optischen, haptischen und olfaktorischen Erlebnis. Tatsächlich hat man das Gefühl, sich in einem – wenn auch künstlich anmutenden – Wald zu bewegen. Bedauerlich nur, dass die Bäume auf rechteckigen Fußplatten stehen; bei einer runden, stammnahen Ausführung wäre die Wirkung vermutlich noch markanter. Mit dem Titel »Sticks and Stones« orientiert sich die Schau an den Anfangszeilen eines englischen Kinderreims und nimmt zeitgleich Bezug auf die wesentlichen Urelemente in der Architektur. Man mag es als britischen Humor deuten, dass ausgerechnet ein aufwendig von Stützen befreiter Raum nun mit selbigen gefüllt wird. Chipperfield selbst sieht hierin eine Verneigung vor dem letzten Bauhausdirektor.
Drei Jahre sind für die Sanierungsarbeiten eingeplant, sodass sich der Bau 2018 pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum in neuem Glanz zeigen wird. Unbedingt zu empfehlen ist ein Abstecher zur frühen Abendstunde. Mit Beginn des Sonnenuntergangs entfaltet der von innen beleuchtete Saal eine herrliche Atmosphäre. Die Präsenz des artifiziellen Waldes ist zu diesem Zeitpunkt auch besonders groß.
Bis 31. Dezember. Sticks and Stones, eine Intervention. Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, Di, Mi, Fr 10-18, Do bis 20, Sa+So 11-18 Uhr, 24.12. 10-14, 25./26.12. bis 18 Uhr, www.davidchipperfieldinberlin.de
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