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Wie im Märchen

»Aneignung« eines Bauernhauses in Viechtach (Niederbayern)
Wie im Märchen

»Cilli« – die Geschichte einer Urhütte, neu erzählt von Peter Haimerl und Jutta Görlich. In den Kindheitserinnerungen des Architekten war das alte Haus immer etwas Besonderes. Die Schatten seiner letzten Bewohnerin, einer etwas harschen Alten, ihre kärglichen Hinterlassenschaften sowie das fast verfallene Gemäuer bilden den Rahmen, in dem sich die neue Geschichte eines Ferienhauses entspinnt; mit all ihren Brüchen, Sprüngen und Fragwürdigkeiten.

{Architekt: Studio für Architektur, Peter Haimerl; Tragwerksplanung: a.k.a. Ingenieure
{Kritik: Ira Mazzoni; Fotos: Leandro Mazzoni

Märchen sind ganz einfache Geschichten, die einer eigenen fantastischen Logik folgend, über existenzielle Abgründe hinweg balancieren. Märchen, so heimelig sie am Kaminfeuer vorgetragen werden, berühren immer auch das Unheimliche. Märchen gehören zum Innersten des bergenden Hauses. Doch wenn sie dort erzählt werden, beginnen die Dielen zu knarzen und die Fensterläden zu klappern. Je weiter von der Quelle des Lichts und der Wärme entfernt, desto größer das fantastische Eigenleben der ansonsten vertrauten Räume. Das Heimelige und das Unheimliche wohnen etymologisch und psychologisch unter einer Decke, wie Ernst Jentsch 1906 und Sigmund Freud 1919 literaturkritisch feststellten.
»Cilli« ist eins jener seltenen Häuser, die auch nach dem Umbau noch ganz und gar märchenhaft anmuten. Das alte Bauernhaus liegt abseits auf einer großen Lichtung im Bayerischen Wald oberhalb von Viechtach in Niederbayern. Zum unmittelbaren Umfeld des Hofes gehört ein gemauerter Ofen, in dem schon lange kein Brot mehr gebacken wurde. Der Holzschuppen ist klapprig und windschief. Eine Obstbaumwiese liegt halb vergessen da. Brombeeren wuchern rund um den Grund. »Cilli«, betagt und gebrechlich, duckt sich mit weit heruntergezogenem Dach in den Hang, um dem scharfen Ostwind zu entgehen. Den Rücken hält ihr eine ausnahmsweise quer gestellte hohe Scheune frei. Vor Haus- und Stalltür ergibt sich dadurch ein relativ windgeschützter und bei schönem Wetter auch sonniger Platz. »Wir wollten die Erinnerung bergen, privat und topografisch«, erklären Peter Haimerl, der Architekt, und Jutta Görlich seine Partnerin. Haimerl ist auf dem Nachbarhof aufgewachsen und kann sich an die letzte Bäuerin, Cilli Sigl, noch gut erinnern. Der 1840 erbaute Hof war aufgrund seiner kleinen Eigenheiten für Haimerl schon immer etwas Besonderes. Seit 1974 wurde er nicht mehr bewirtschaftet und verfiel. Im Wohnraum brach die Holzdecke ein, die Bodendielen faulten weg. Wenn es einmal so weit gekommen ist, räumen die Nachbarn das »oide Glump« einfach weg. Unter Denkmalschutz steht es so und so nicht. Baurecht gibt es auf dem Grund auch keins mehr. Denn meist hat die Familie in der Nähe neu und bequem gebaut. So gibt es inzwischen im Bayerischen Wald mehrheitlich Neubauten, etliche davon im touristischen oberbayerischen Alpenstil. Neuerdings wachsen auf den Lichtungen auch ein paar Recycling-Siedlungen, in denen alte Bruchsteine und Eichenbohlen aus den Abbruchhäusern für eine gewisse regionale Landidylle herhalten müssen.
»Wir wollten das Haus nicht mehr kaputt machen als es schon war.« Viele, teils brutale Entwürfe hat es gebraucht, bis sich Haimerl und Görlich auf die Strategie einigten, in das halb verfallene Gemäuer bewohnbare und beheizbare Wohnzellen »einzugießen« und ansonsten möglichst alles beim Alten zu lassen. Der alte, doppelwandige Ofen gab den Typus vom Haus im Haus vor. Durch die äußerste Zurückhaltung beim Neubau bleibt nicht nur der Charakter des Hauses, sondern auch der herben Landschaft gewahrt. Nichts wirkt »aufgesetzt« oder fremd. Wie Generationen zuvor, wollen die neuen Eigentümer des Ferien- und Wochenendhauses bei Bedarf nur das Nötigste flicken und reparieren. Armut ist Teil ihres Programms; Armut die seit alters her zum Bayerischen Wald gehört, von der aber sonst niemand mehr etwas wissen will. In dem dämmrigen Eingang, in den man nur mit vorsorglich eingezogenem Kopf gelangt, schlägt einem klamme Luft entgegen. Der Ziegelboden der »alten Flez« ist ausgetreten, am Mauerfuß hat stete Feuchtigkeit den Lehmputz gelöst, von den Wänden blättert die weiße Farbe, dünnschichtige rosige, lichtblaue und grüne Ränder freigebend. In der dunklen Raumtiefe führt eine steile Holzstiege hinauf zur Tenne, die mehr Leiter als Treppe ist. Noch bevor sich das Auge angepasst hat, weiß man sich in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, die in keinem restaurierten Denkmal und in keinem herausgeputzten Freilichtmuseum überdauern konnte. Einer Zeit, die sonst nur in persönlichen Erinnerungen an verbotene Streifzüge oder im Märchen fortlebt.
Umso größer die Überraschung, wenn sich die dunkle Holztür zur Stube auftut: Ein lichter, wohlig warmer Kubus mit neu tiefer gelegtem Boden und freiliegendem Gebälk nimmt einen freundlich auf. Knapper, puristischer kann man die Erinnerung an den Allraum, in dem gelebt, gearbeitet, gekocht und gefeiert wurde, nicht in Form fassen. Wie ein Passepartout legt sich der wärmedämmende, mit Schaumglasgranulat versetzte Leichtbeton stützend vor die alten Wände, rahmt mit verschieden großen Ausschnitten die alten Fenster, die Tür, den Lehmboden. Luken in der Betondecke geben den Blick aufs Dachgestühl frei und schaffen zumindest im Sommer eine perspektivisch interessante Weite. Wird es kalt, müssen die Luken mit schweren Holzklappen verschlossen werden, sonst versagen das Holzfeuer im Kamin und die Fußbodenheizung.
Fast skizzenhaft sind die wesentlichen Elemente einer Stube nachgezeichnet: Wo einst vor weißen Fließen der Holzherd stand, ist jetzt ein Kaminofen eingebaut. Die typische Eckbank wird ersetzt von den alten Dielenbrettern, die das ehemalige Bodenniveau nachzeichnet. Der Platz des Tisches wird von einem Lehmbodenfeld markiert, das freilich nach unten gedämmt und beheizt ist. Zuviel spurenlesender Kunstwille lässt das ansonsten überzeugende Konzept an dieser Stelle ein wenig kitschig erscheinen. Aber »Cilli« hat eben ihre Macken und ist – wie ein Märchen – […] logisch nicht immer zu verstehen.
Vier Leichtbetonkuben hat Haimerl in den alten Hof implantiert. Allein die Küche, die anstelle der vom Hang bedrängten und zerstörten Austragswohnung tief ins Erdreich gesetzt wurde, tritt mit großer Fensteröffnung nach außen in Erscheinung. Das Bad daneben findet seinen Platz wieder innerhalb der alten Granitmauern, ragt aber in die Tenne hinein. Oben auf dem Boden über dem ehemaligen Kuhstall ist eine neue Schlafkammer entstanden, die mit schweren Schiebetoren gegen Kälte abgeschottet werden kann. Sind die Tore geöffnet, wandert der Blick über die »Gred« mit dem wieder aufgestellten »Sommerhäusl« auf die Waldlichtung hinaus.
Zwischen den neuen Lebensinseln liegen »Cillis« Räume, so als lebte die schwierige Alte noch in ihnen. Diese hingebungsvoll musealisierten, authentischen Kammern machen das Haus märchenfähig. Zwischen allen Fundstücken haben sich Geschichten eingenistet, die die Fantasie der neuen Bewohner weiter beschäftigen und die Künstlerin Görlich zu fotografischen Inszenierungen inspirieren. Gleich neben der neuen Stube, in der ehemaligen Schlafkammer, hebt sich der Lehmboden über dem Kellergewölbe als sei die Erde schwanger. Auf diesem unheimlichen Grund steht das dunkle Bett und ein alter klappriger Schrank. Dagegen wirkt die Einrichtung der zweiten, mit Holzwänden von der Tenne abgetrennten Kammer schon fast bürgerlich. Doch ein Blick in den verwahrten Kleiderschrank lässt einen die ganze Armseligkeit einer bäuerlichen Existenz im Bayernwald nacherleben. Alles war Flickwerk: Der gepolsterte Unterrock und das bergende Haus, das seinen Bewohnern ein Leben lang viel abverlangte. »Birg mich Cilli!« – so der von Haimerl und Görlich gewählte Projektname – scheint daher ein frommer Wunsch, ein Hausspruch, der vor bösen Geistern schützen soll.
Die neuen Eigentümer haben sich in die Beschwerlichkeiten und die manchmal überwältigenden Geschichten dieses Hauses gefügt. Die steile Stiege ist nach wie vor die Haupttreppe des Hauses. Die unbeheizten Erinnerungs- und Märchenräume müssen auf dem Weg zu Küche oder Bad passiert werden. Doch im Zusammenspiel von dem alten Haus und den neuen, lukenreichen Implantaten ergeben sich Räume voller Abenteuer und Fantasie. Vor allem für die Kinder öffnen sich auf der Tenne und dem Zwischenboden märchenhafte Spielräume. Das Potenzial für Geschichten ist schier unerschöpflich, weil es gelungen ist, den Genius loci zu bannen und wecken.
Auch wenn »Cilli« mit ihren kalten und warmen, heimeligen und unheimlichen Seiten eher ein gewagter Selbstversuch bleibt, so ist Haimerl doch überzeugt, mit dem leichten, gut dämmenden Glasschaumbeton ein Mittel gefunden zu haben, die wenigen authentischen Kleinhöfe in Niederbayern wenigsten noch als Urlaubswohnung zu retten. Sonst ginge der weiten Landschaft alles verloren. Ihr Charakter. Und die Menschen wären um Geschichten ärmer.
Wer ein wenig hügelan wandert, wird feststellen, dass Haimerls Wohnzellen nicht einfach abstrakt sind, sondern ein Vorbild im geschichtlichen Landschaftsraum haben: den nahezu würfeligen Wohnturm der Burgruine Nussberg, die auf einer Bergkuppe über dem Regental thront. 

  • Bauherren: Jutta Görlich, Peter Haimerl, München
    Planer und Mitausführende: Studio für Architektur, Peter Haimerl mit Jutta Görlich, München
    Tragwerksplanung: a.k.a. Ingenieure, München Planungs- und Bauzeit: Januar 2007 bis August 2008
  • Beteiligte Firmen:
    Schaumglas-Granulat: Misapor AG Schaumglasprodukte, Egerkingen, www.misapor.ch
    Zement: Cemex Deutschland AG, Ratingen, www.misapor.ch
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