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Regionalentwicklung der Superlative

Ein Konjunkturprogramm, das seinesgleichen sucht
Regionalentwicklung der Superlative

Chinas metropolitane und polyzentrische Ballungsräume sind zu einem Problem für Mensch und Wirtschaft geworden. Urbanisierungsfolgen wie Luftverschmutzung, Landverbrauch, Wasserknappheit, Lebensmittelunsicherheit und die damit einhergehenden sozialen Probleme zwingen die Politik dazu, mit neuen Richtlinien gegenzusteuern. Das Beispiel der Megacitys soll sich nicht weiter wie bisher unkritisch in den kleineren Millionenstädten im Hinterland vervielfältigen. Die chinesische Regierung hat klare Vorstellungen davon, wie dies vor sich gehen soll – der Preis dafür wird allerdings hoch sein.

Text: Uwe Goerlitz

Mit dem am 16. März 2014 vorgestellten, inzwischen in Kraft getretenen »National Plan on New Urbanization 2014-2020«, der von Xu Xiangping, Vize-Minister der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission, als »makroskopisch, strategisch und fundamental« bezeichnet wird, hat sich die Regierung von Ministerpräsident Li Keqiang und Staatspräsident Xi Jinping vorgenommen, die Ballungszentren im Osten und Süden des Landes konzeptionell zu entlasten. Dort liegen wichtige Hafenstädte, etwa Shanghai, Qingdao, Hangzhou, Dalian, Tianjin, und der Großteil fruchtbarer Böden. Vorgesehen ist, periphere Regionen im gesamten Westen, im Süden und im Nordosten zu entwickeln. Man setzt dabei auf eine Leitlinie, unter der vier zentrale Aufgaben und fünf Reformen das Handeln bestimmen sollen (»one main line, four tasks, five reforms«).
Eines der wesentlichen Ziele lautet, bis 2020 den Grad der Urbanisierung auf 60 % zu steigern, bis 2025 gar auf 70 %. Damit folgt China den Zuwachsraten der zurückliegenden 35 Jahre. Betrug der Urbanisierungsgrad 1979 gerade einmal 18 %, lag er 2013 bereits bei 54 %. Wesentliche Ursache hierfür ist die bereits seit dem ersten Fünfjahresplan (1953-57) verfolgte Siedlungs- und Raumordnungspolitik, wozu die Transformation von kleineren zu größeren Verwaltungseinheiten zählt, etwa bezirksfreie Städte, von denen es zurzeit 368 gibt. Diese Transformation ist v. a. durch Eingemeindungen entstanden. Allerdings reagierte man damit auf die stetige Zuwanderung und das trotz Ein-Kind-Politik noch bis in die späten 80er Jahre anhaltende natürliche Bevölkerungswachstum.
Im Fokus des Neuen Urbanisierungsplans stehen die offiziell 269 Mio. Wanderarbeiter und deren Familien, die in vielen Metropolen und Großstädten bereits ein Drittel oder mehr (Shanghai 2013: 42 %) der Gesamtbevölkerung ausmachen. Mittels einer Reform des Haushalteregistrierungssystems, die als essentiell verstanden wird, soll jenen Arbeitsmigranten, die seit längerer Zeit in den Millionenstädten leben, das Wohn- bzw. Aufenthaltsrecht (hukou) ermöglicht werden, das sie mit in der Stadt Geborenen (residents) gleichstellt. Dadurch erlangen sie Zugang zu öffentlichen und sozialen Einrichtungen, Diensten und Versorgungen. Rund 100 Mio. von ihnen hausen in den Randgebieten der Metropolen und in informellen Siedlungen. Dort setzen die Bagger an.
Weitere 100 Mio. Wanderarbeiter will man bis 2020 in ihren Herkunftsregionen zu »urban residents« transformieren. Sie sollen vorwiegend in Städten bis 500 000 Einwohnern wohnen und arbeiten, die gesunden Stadtentwicklungskonzepten (»healthy development of urbanization«) unterworfen werden. Hierzu sind Verbesserung und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, Ansiedlung von Gewerbe, Industrie und Dienstleistern, Schaffung von Arbeitsplätzen, Einrichten und Ausbau von Bildungs- und Ausbildungsstätten geplant. Parallel dazu sollen jährlich 10 Mio. Arbeitsmigranten beruflich weitergebildet werden. Gleichwohl wird das Niederlassungsrecht für weitere Migranten aus den ländlichen in die Kerngebiete von Metropolregionen stark eingeschränkt.
Bisher sorgten der hohe Zuwanderungsdruck und für die Bauherren und Eigentümer die Aussicht auf stattliche Renditen für weitgehende architektonische Uniformität im großstädtischen Wohnungsbau. Wer auf Chinas Millionenstädte blickt, 142 gibt es laut Xu Xiangping zurzeit (gegenüber 29 im Jahr 1978), könnte den Eindruck gewinnen, es wäre seit Jahrzehnten lediglich ein einziges Architekturbüro für die Entwürfe zuständig. Tatsächlich halten sich Stadtplaner und die zum großen Teil aus Hongkong stammenden Baumeister bislang an eine effiziente Nutzung des Raums, indem sie auf eine vielgeschossige geschlossene Bauweise setzen. Entsprechend uniform, v. a. aber rein funktional erscheint die Wohnbebauung in den Großstädten – und weist Leerstände auf, weil sich aufgrund hoher Preise nicht genügend Käufer finden oder sie als Spekulationsobjekte fungieren.
Im neuen Urbanisierungsplan ist eine Pro-Kopf-Bebauungsfläche von 100 m² vorgesehen, was vielgeschossige Wohnbebauung zwar auch in Zukunft bedeutet, indes das Wachstum des Individualverkehrs berücksichtigen soll. Inwieweit sie unter dem Aspekt der sie flankierenden Konzepte wie z. B. der Reform des Niederlassungsrechts, der Schaffung sozialen, freizeit- und kommunikationsfördernden Raums angenommen wird, muss sich zeigen. Immerhin sieht der Plan vor, auch auf individuelle Bedürfnisse und unterschiedliche kulturelle Ausprägungen der künftigen Städter Rücksicht zu nehmen. Wichtigster Anreiz für die Arbeitsmigranten seien jedoch laut Xu Xiangping sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und bezahlbarer Wohnraum in ihren Herkunftsregionen. Zwar werde nach dem Angebot-Nachfrage-Prinzip verfahren, so Qi Ji, Vize-Minister für Wohnen, Stadt- und Regionalentwicklung.
Um einkommensschwachen Interessenten den Erwerb von Wohnraum zu ermöglichen, bildet die Regierung aber Eigentümergemeinschaften mit den Betroffenen.
Der Plan sieht auch vor, die Suburbanisierung innerhalb der drei großen Metropolregionen Beijing-Tianjin-Hebei, Perlflussdelta (Megacitys Guangzhou, Shenzhen, Millionenstädte Jiangmen, Zhongzhan) und Yangtze-Delta (Shanghai, Nantong, Zhenjiang) zu kontrollieren, indem die Ausweisung von Bauland restriktiver gehandhabt und ökologische Gesichtspunkte stärker berücksichtigt werden. Beim Bau neuer Städte gilt landesweit die Trennung von Wohn- und Industriegebieten. Festgeschrieben sind Schutz und Schaffung von Grüngürteln, Sicherung und Schutz von Wasserressourcen, Schutz kultureller Stätten und Reliquien, moderne Infrastruktur. Gleiches gilt für bestehende kleine und mittlere Städte, die zudem eine bessere Anbindung an die Oberzentren erhalten sollen.
Ein Hauch von Christaller
Mit dieser auf Nachhaltigkeit setzenden, administrativ dezentralisierten Stadt- und Regionalentwicklung nähert sich China westeuropäischen Raumordnungskonzepten und hofft, so die bereits rückläufige Migration in die Randgebiete weiter abzubremsen. Die Aufwertung zentraler Orte im ländlichen Raum und in den Peripherien der Metropolen mittels städtebaulicher sowie infrastruktureller Modernisierung unter Einbeziehung von Orten ab 2 500 Einwohnern erinnert an das zentralörtliche System Walter Christallers [1].
China versucht nicht erst mit dem Neuen Urbanisierungsplan, dem eine umfangreiche Erhebung zugrunde liegt (Second National Land Survey, 1.07.2007-31.12.2009), den großen Wurf hinzubekommen, sondern hat längst damit begonnen. Bis Ende 2012 waren 12,6 Mio. Wohnungen in »shanty towns« renoviert. 2020 sollen es weitere 15 Mio. sein. Der Ausbau von Straße und Schiene ist in vollem Gang, weitere neue Flughäfen entstehen. Entlang des Yangtzes und wichtiger seiner Zuflüsse, besonders in den Provinzen Sichuan und Yunnan, sind Wasserkraftwerke im Bau.
Bei der Ansiedlung von Unternehmen in den Städten ruraler Regionen verzeichnet man bereits Erfolge. Große nationale und internationale Unternehmen haben dort Niederlassungen errichtet. Die im Südwesten, am Mittellauf des Yangtzes liegende regierungsunmittelbare Stadt Chongqing, deren Verwaltungsgebiet der Fläche Österreichs entspricht, deren verstädtertes Gebiet hingegen der des Ruhrgebiets (Chongqing Urban Area: ca. 8 Mio. Ew.), und die 325 km nordwestlich von ihr entfernte Hauptstadt der Provinz Sichuan, Chengdu, verfügen über Direktverbindungen nach Europa, sowohl per Schiene (nur Güterverkehr; bis Duisburg/Rotterdam) als auch im Luftverkehr (Helsinki/Frankfurt a. M.). Nachdem China inzwischen das größte Hochgeschwindigkeitsnetz für Personenzüge besitzt und es weiter ausbaut, werden bestehende Strecken des Regionalverkehrs saniert und neue gebaut. Das bislang schon internationalen Standards entsprechende Autobahn- und Fernstraßennetz wird ebenfalls weiter ausgebaut.
Insgesamt handelt es sich bei dem Neuen Urbanisierungsplan um ein gigantisches Konjunkturprogramm, das weltweit seinesgleichen sucht. Es dürfte mit geschätzten 50 Bill. Yuan (ca. 6 Bill. Euro) der kostspieligste Regionalentwicklungsplan der Geschichte sein. Dessen Finanzierung kann die Regierung allein nicht schultern, zumal Chinas Wirtschaftswachstum auf vergleichsweise hohem Niveau schwächelt. Von jahrelangen Wachstumsraten von im Mittel 10 % sank es 2013 auf 7,7 %. Um jedoch seine hehren Ziele zu erreichen – die Entwicklung des ländlichen Raums und der Prämisse ökologischer Nachhaltigkeit, Entlastung der Megastädte durch Begrenzung der Zuwanderung, sprich: den Neuen Urbanisierungsplan konsequent umzusetzen -, bedarf es eines Wirtschaftswachstums, das 7 % nicht unterschreiten sollte. Daher sind private Investoren willkommen, aber auch notwendig, wie auch Mittel von internationalen Kreditgebern, etwa der Weltbank. •
[1] Der Geograf Walter Christaller entwickelte das – wabenförmige – System der zentralen Orte in den frühen 30er Jahren. Ein Aspekt darunter sind unterschiedliche Funktionen der hierarchisch gegliederten Orte. Christallers Konzept fand Eingang in das deutsche Raumordnungsgesetz (ROG).

Regionalentwicklung (S. 52)
Uwe Goerlitz
Studium der Geografie, Politikwissenschaft und Sozialökonomik. Bereichsleitung Interkulturelles Training bei der GBB, Dortmund. Seit 2005 Cheflektor des Online-Magazins GeoWis, zahlreiche Beiträge zu China.
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