Das Argument der »nicht ausreichenden Tragsicherheit des Bestands« lässt sich entkräften, wenn eine experimentell gestützte Tragsicherheitsbewertung das Gegenteil beweist – und so einem Abrisskandidaten noch einige Jahrzehnte Leben geschenkt werden.
Text: Marc Gutermann; Fotos: Marc Gutermann, Thomas Bruns
»Die Baukunst zerstört die Baukunst« — das Zitat des deutschen Kunsthistorikers Georg Dehio ist auch über 100 Jahre später noch aktuell, betrachtet man viele voreilige Schlüsse zugunsten eines Gebäudeabrisses und Ersatzneubaus. Mehr als 60 % der Bauaufträge werden derzeit im Bestand umgesetzt. Die Bandbreite reicht vom Umbau moderner Stahlbeton-Skelettbauten bis hin zu historischen Unikaten mit besonderen, baugeschichtlich bedeutsamen Tragkonstruktionen. Eine wesentliche Voraussetzung für Nutzungs- und Investitionsentscheidungen zugunsten eines Bestandserhalts ist der Nachweis ausreichender Tragsicherheit für die gewünschten Lastansätze. Dies ist jedoch v. a. dann eine Herausforderung für den Tragwerksplaner, wenn zuverlässige Daten über die Konstruktion und über die Baustoffe fehlen. Gelingt der rechnerische Nachweis nicht, wird meist konventionell verstärkt – oder abgerissen und neu gebaut, was nicht immer wirtschaftlich sinnvoll und bei denkmalgeschützten Bauten ferner inakzeptabel ist. Eine alternative Vorgehensweise ist der experimentell gestützte Nachweis, bei dem entweder wesentliche Parameter für einen rechnerischen Nachweis durch Versuche ermittelt werden oder direkt Belastungstests Planungssicherheit für den Baufortschritt bringen.
Belastungstests
Das grundsätzliche Prinzip der Tragsicherheitsbewertung ist einfach und bewährt: Es wird ein Bauteil belastet und seine Reaktionen gemessen. Dabei ist die historische Methode, Versuchslasten durch Ballast zu erzeugen, der modernen und regelbaren Technik gewichen, mittels mobiler Belastungsvorrichtungen Beanspruchungen selbstsichernd hydraulisch im Kräftekreislauf zu simulieren.
Die charakteristischen Daten eines Versuchsablaufs wie z. B. Lastgrößen, Verformungen oder Dehnungen werden über elektrische Messsysteme gespeichert und zeitgleich auf einem Monitor als Grafik angezeigt. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten. Das geflügelte Wort »Wer viel misst, misst Mist« verweist darauf, dass die gewonnenen Daten sofort auf Plausibilität geprüft sowie analysiert werden müssen. Denn der Belastungsversuch darf sich weder negativ auf die Gebrauchstauglichkeit noch auf die Dauerhaftigkeit des Bauteils auswirken. Bedingung für die Durchführung ist daher, die Aufgabe umfassend zu analysieren, erwartete Reaktionen zu berechnen und die Versuchsplanung auf die Ergebnisse abzustimmen. Dies setzt eine gewisse Erfahrung voraus, denn auch die »Richtlinie für Belastungsversuche an Betonbauwerken« des Deutschen Ausschusses für Stahlbeton enthält keine detaillierten Hinweise zur Versuchsdurchführung. Dort werden lediglich die grundsätzlichen Vorgehensweisen sowie die Formeln aufgezeigt, mit denen z. B. die Versuchsziellasten oder Grenzwertkriterien zu ermitteln sind.
Beim Belastungsversuch wird der Tragwerkszustand inklusive aller realen Randbedingungen getestet. So fallen (im Rechenmodell durch Berechnungsannahmen einkalkulierte) Unsicherheiten weg und die Lasten können deutlich über das rechnerisch nachgewiesene Lastniveau gesteigert werden. Die Zuwächse betragen meist 30-50 %, in Ausnahmefällen auch über 100 % (Abb. 2). Das Ergebnis liegt direkt nach Beendigung der Versuche vor und ist so lange gültig, bis – wie bei einem Neubau auch – wiederkehrende Bauwerksprüfungen Anlass für weitere Untersuchungen geben. Die folgenden Anwendungsbeispiele einer experimentell gestützten Tragsicherheitsbewertung zeigen exemplarisch sowohl die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten als auch wiederkehrende Besonderheiten.
Für den Erhalt!
Experimentelle Methoden sind eine wirtschaftliche Alternative, wenn umfangreiche rechnerische Analysen unbefriedigende Ergebnisse erzielt haben. Voranschreitender Computerhörigkeit trotzend, leistet diese Art der Tragsicherheitsbewertung einen wichtigen Beitrag, um Baukultur zu bewahren.
Weitere Informationen:
Der Autor dieses Beitrags, Prof. Marc Gutermann von der Hochschule Bremen, wird am 22. Januar 2019 zu diesem Thema auch einen ausführlichen Fachvortrag beim Kolloquium »Erhaltung von Bauwerken« halten. Die zweitägige Veranstaltung der Technischen Akademie Esslingen richtet sich an Architekten und Ingenieure und findet in Ostfildern/Nellingen im Großraum Stuttgart statt. Weitere rund 70 Beiträge befassen sich in jeweils parallelen Themenblöcken ebenso mit Bauwerksdiagnostik und Instandsetzungsmaßnahmen oder stellen neu entwickelte Materialien und Untersuchungsmethoden vor.
Eine ausführliche Dokumentation zweier Anwendungsbeispiele wurde veröffentlicht in:
Gutermann, Marc, u. a., Der Löwenhof in Dortmund: Experimentelle Statik zum Erhalt historischer Eisenbetondecken, Bautechnik 1/2018, Verlag Ernst & Sohn, Berlin
Gutermann, Marc, Wenn der Schein trügt – Belastungsversuche an einer gusseisernen Treppenkonstruktion, Tagungsband 5. Symposium »Experimentelle Untersuchungen von Baukonstruktionen« an der TU Dresden, 11. September 2009
Marc Gutermann
1993-98 Studium des Bauingenieurwesens an der Universität Hannover. 1998-2002 Wiss. Mitarbeit an der HS Bremen, 2003 Promotion. 2003-07 Geschäftsführung der PSI GmbH. Seit 2007 Leitung des Instituts für Experimentelle Statik an der HS Bremen. Seit 2008 Geschäftsführender Gesellschafter der IGES GmbH.