Wer nicht versteht, wie Häuser gemacht sind, kann sie nicht sinnvoll weiterverwenden. Das Buch unterzieht daher den Massenwohnungsbau der 1960/70er Jahre einer systematischen Betrachtung – weniger unter technischen als unter gestalterischen Aspekten.
Den Löwenanteil des heutigen Wohnungsbestands nehmen Bauten aus den 60er und 70er Jahren ein. Die damals am Stadtrand errichteten Siedlungen zu sanieren oder nachzuverdichten, gehört zu den großen Bauaufgaben unserer Zeit. Meistens geschieht die Annäherung an den Bestand bislang aus einer technischen Perspektive, die v.a. Energieverbrauch, Flächeneffizienz oder Stoffkreisläufe in den Blick nimmt. Darüber hinaus ist die Bausubstanz aber auch Abbild planerischer Leitbilder und bestimmter Ideen des Zusammenlebens. Neben der materiellen Seite der Architektur gilt es also auch ihre Zeichenhaftigkeit zu verstehen. Beide Aspekte sind wichtig, wenn man heute zu sinnvollen Konzepten für den Umgang mit dem Bestand kommen will.
Besonders unverfälscht haben sich Zeitgeist und Leitbilder der Boomjahre in den Großwohnsiedlungen niedergeschlagen. Die Autoren einer Studie an der TU München haben daher exemplarisch 250 Gebäude in Berlin-Gropiusstadt, Hamburg-Steilshoop, Halle-Neustadt, Köln-Chorweiler und München-Neuperlach einer vergleichenden Analyse unterzogen. Sie betrachten in erster Linie die äußere Erscheinung der Häuser und wollen dabei nicht das Besondere entdecken, sondern das Normale. Die Fülle alltäglicher Bauformen wird über eine umfangreiche fotografische Erfassung dokumentiert – der Buchtitel »Tafelwerk Großwohnsiedlung« bezieht sich auf die Bildtafeln. Ein System von räumlich-ästhetischen Kriterien hilft dabei, die Bauten zu ordnen: Wie ist z.B. der obere Gebäudeabschluss ausgeformt? Mit einer einfachen Attika, einem gesondert gestalteten obersten Geschoss (piano superiore), einem Treppenturm, der das restliche Gebäude überragt oder mit gestaffelten Stockwerken? Wie sieht der Hauseingang aus? Springt er zurück oder nach vorne? Liegt er bündig in der Fassade? Mit oder ohne Vordach? Wie sind die Balkone angeordnet? Einzeln, paarweise oder die komplette Fassade als Raster überziehend? Welche Materialien prägen die Hülle? Wie sind Balkonbrüstungen, Fensterlaibungen, Hausnummern und Außenleuchten gestaltet? Neben der qualitativen Beschreibung solcher Merkmale erfassen die Autoren auch quantitativ, wie häufig jedes einzelne Merkmal auftritt, mithin ob es als typisch gelten darf oder nicht. Treppenhäuser, die turmartig vor die Fassadenebene springen, finden sich etwa auffällig oft in Berlin-Gropiusstadt und München-Neuperlach, während Treppenhäuser, die nach hinten zurückweichen, charakteristisch für Halle-Neustadt sind. In jedem Fall bekommen die Leser eine Vielzahl von Kriterien an die Hand, mit denen sie auch in ihrer eigenen Stadt die anonyme Architektur der 60er und 70er Jahre systematisch analysieren können. Wer das Buch studiert hat, wird mit geschulterem Blick auf den Massenwohnungsbau jener Zeit schauen. Und vielleicht eher bestimmte Qualitäten erkennen und wertschätzen.
~Christian Schönwetter
Tafelwerk Großwohnsiedlung. Ein Phänomen der Nachkriegszeit
Von Andreas Müsseler und Khaled Mostafa
Hrsg. Andreas Hild
656 Seiten mit 582 Farb- und 1.369 s/w-Abbildungen, Hardcover, 69 Euro
Gebr. Mann Verlag, Berlin, 2022
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