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Die hohe Kunst des flachen Daches

Flachdachkonstruktionen der Vormoderne in Mitteleuropa
Die hohe Kunst des flachen Daches

Für das Flachdach, essenzielles Merkmal moderner Architektur, gibt es überraschend viele Vorbilder in der Baugeschichte. Wie waren diese konstruiert, mit welchen Materialien wurden sie abgedichtet und welche unmittelbaren Vorläufer hatte das Bitumen?

Text: Christian Kayser

Als Nationalkonservative in den 30er Jahren die Stuttgarter Weissenhofsiedlung als »Araberdorf« (Abb. 1) verspotteten, war ihnen offensichtlich nicht bewusst, dass das Flachdach auch im mittleren Europa auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte.

Technisch stellt diese Dachform in unseren Breiten naturgemäß eine gewisse Herausforderung dar: Die üblichen Niederschlagsmengen müssen rasch abgeleitet werden, da stehende Nässe bald ihren Weg in das Innere des Bauwerks finden kann. Es mussten also sowohl Lösungen zur Abdichtung der Dachflächen entwickelt wie auch Wege zur Abführung des Wassers gefunden werden. Hierbei lassen sich zwei Grundkonzepte unterscheiden: Es gab sowohl »kahle« flache Dächer, bei denen die Oberflächenfeuchte so rasch wie möglich abgeleitet werden sollte, als auch Gründächer, bei denen das anfallende Wasser zugleich für die Anlage von Dachgärten genutzt wurde. Diese Unterscheidung zieht sich von den Vorbildern in der Antike – ionische Tempelarchitektur einerseits, hängende Gärten andererseits – bis in die Neuzeit: Kiesschüttung oder Gründach?

Bei »kahlen« Flachdächern war es nötig, eine dichte, wasserführende Schicht auszubilden. Dies erfolgte etwa mit großformatigen Steinplatten oder durch die Verwendung von dicklagig aufgebrachten Mörteln mit hydraulischen, feuchtebeständigen Eigenschaften. Wer es sich leisten konnte, dichtete die Dachflächen zusätzlich mit Pech ab. Die Herstellung dieses für den Schiffbau essenziellen Materials war verhältnismäßig aufwendig. Das Dichtmaterial konnte nur langsam und in geringen Volumina aus der Destillation von Teer gewonnen werden; dieser wiederum entstand durch das »Sieden«, die Pyrolyse von Holz oder Kohle. Hier brachte erst die industrielle Revolution Abhilfe; ab dem späten 19. Jahrhundert wurde Erdpech (Bitumen) in ausreichender Menge verfügbar.

Gerade hinsichtlich des Aufwands, der für das Herstellen einer wirksamen Abdichtung betrieben werden musste, boten begrünte Dächer einen Vorteil. Der höhere Aufbau mit Erdschüttung wirkte als »Feuchtepuffer« und diente gleichzeitig als Reservoir für die Begrünung.

Flachdächer im Mittelalter

Aus dem Mittelalter sind nur wenige flache Dachkonstruktionen überliefert. Ein frühes Beispiel für ein großes, mineralisches Flachdach des Spätmittelalters ist am Freiburger Münster erhalten. Hier ist der gesamte Kapellen- und Seitenschiffbereich an dem hohen Chorbau mit einem nahezu ebenen, begehbaren Steindach ausgebildet (Abb. 2). Diese Formwahl hat einen einfachen Grund: Es galt, den Hochchor mit möglichst großen Fensterflächen zu belichten. Der Verzicht auf steile Seitenschiffdächer ermöglichte es, auch die sonst dunkle Mittelzone des Wandaufrisses zu öffnen. Die Flachdachkonstruktion ist hier aus großen Sandsteinplatten mit schwacher Neigung zur Traufe gefügt; die Fugen sind mit Blei verschlossen. Die Ableitung der Witterungsfeuchte erfolgt über die Traufe, über skulptierte Wasserspeier. Das System erwies sich zwar als pflegeintensiv, ist aber – mit häufiger Wartung durch die Münsterbauhütte – bis heute überliefert.

Burgruine Reichenberg am Rhein

 

Links der große Saalbau als ein frühes Beispiel für ein mitteleuropäisches Flachdach: Der Bau geht auf das 14. Jahrhundert zurück. Unklar ist, warum man seinerzeit auf ein Dach ohne Neigung setzte.

 

Bild: Johannes Robalotoff, Wikimedia Commons

Ein weiteres frühes Flachdach ist über dem Saalbau der Burgruine Reichenberg am Mittelrhein erhalten (Abb. 3). Die Beweggründe für die Errichtung dieses ungewöhnlichen Bauwerks im 14. Jahrhundert sind bisher nicht eindeutig geklärt, möglicherweise geht die Formenwahl auf Kreuzfahrerbauten des Nahen Ostens zurück – also ein frühes »Araberdorf« am Rhein?

Flachdächer der frühen Neuzeit

In der frühen Neuzeit erlebte das Flachdach im mittleren Europa eine erste Blüte. Gewandelte ästhetische Vorstellungen, der Rekurs auf die nun vorbildhaften, dabei häufig flach bedachten Bauten der Antike, die gesteigerte Wohn- und Repräsentationskultur des Südens mit Lust- und Dachgärten brachten ebenso wie die Entwicklungen in der Waffentechnik zahlreiche und unterschiedliche Flachdachkonstruktionen hervor.

Das Aufkommen schwerer Artilleriegeschütze ab dem 16. Jahrhundert machte hölzerne Steildächer zu leichten Zielen und möglichen Brandherden; Burgen und Festungen wurden daher mit flachgedeckten Bastionen und Vorwerken ausgestattet. Bei den frühen Beispielen handelt es sich zumeist um Aufschüttungen über starken, schützenden Gewölben, mit abschließenden Erddächern. Witterungsfeuchte wurde entweder von der extensiven Vegetation aufgenommen, oder oberirdisch bis zu den Kronen der Wehrmauern geleitet. Über eine leichte Modellierung des Geländes konnte die Nässe mit steinernen Wasserspeiern abgeführt werden. Hierdurch kam es allerdings oftmals zu starkem Feuchteeintrag an den Außenmauern. Auch konnten Wasserspeier durch eingeschwemmtes Material zugesetzt werden; intensive Wartung war eine dauerhafte Verpflichtung.

Mit zunehmender technischer Verfeinerung des Festungsbaus wurden Systeme entwickelt, die die konstruktive Schwachstelle, die Ableitung über die Außenmauern, beheben sollten. Bei Festungen ab dem späten 18. Jahrhundert findet sich etwa das »Dosdanen«-System (von »dos d’âne« – Eselsrücken). Hierbei wurden geneigten Kasemattengewölbe oberseitig mit hydraulischen, feuchtebeständigen Mörteln oder auch Pech abgedichtet und das Oberflächenwasser in den »Kesseln« zwischen benachbarten Gewölben gesammelt (Abb. 4). Von dort aus wurde es über gemauerte horizontale Sammler und Schächte im Gebäudeinnern abgeleitet und konnte bei Bedarf sogar Zisternen beschicken.

Feste Franz in Koblenz

 

Das Foto zeigt ein freigelegtes Dosdanensystem.

 

Zunächst fand das Flachdach v. a. im Wehrbau Verbreitung, wenn auch noch mit Gewölben als Unterkonstruktion.

 

Bild: Christin Kayser

Eine weit zivilere Anwendung für Flachdächer entwickelte sich parallel bei Repräsentationsbauten. Ab dem 16. Jahrhundert kamen Austritte (»Altanen«) und kleine Dachgärten in Mode. Sie lassen sich bei Schlossbauten wie auch bei den Stadthäusern vermögender, oft im Italienhandel tätiger Patrizier in Städten wie Augsburg und Nürnberg nachweisen. Die technischen Schwierigkeiten blieben jedoch enorm, sodass bis heute nur vereinzelt kleinere Dachgärten erhalten blieben. Große Anlagen wie auf dem Residenzschloss von Stettin (um 1577, Abb. 5) oder dem »Altanbau« des Schlosses von Neuburg a. d. Donau (1534) mussten wegen baulicher Mängel schon frühzeitig umgestaltet und mit konventionellen Steildächern versehen werden.

Eine große Dachgartenanlage bestand auch auf der »Sala Terrena« der fürstbischöflichen Residenz in Passau. Sie entstand dabei in einer Umgebung, in der sie keineswegs als fremdes Element empfunden wurde: In der Inn-Salzach-Region hatte sich die Anmutung flacher Dachabschlüsse spätestens seit dem Spätmittelalter zu einem wesentlichen Charakteristikum der Stadtbaukunst entwickelt. Um die tatsächlich meist flach geneigten oder kleinteilig aus mehreren niedrigen Satteldächern mit Gräben gefügten Dachkonstruktionen zu verdecken und so den Anschein »echter« Flachdächer hervorzurufen, wurden die Fassaden mit Stirnmauern, »Vorschussmauern« versehen. Es entstanden die italienisch anmutenden Stadtensembles von Wasserburg, Passau oder Salzburg. Bei den beiden letztgenannten Städten sind auch die beherrschenden Burgschlösser – Oberhaus (Abb. 6) und Hohensalzburg – mit Dächern versehen, die zumindest von der Straße betrachtet als Flachdächer erscheinen. Ebenso zeigen nord- und mitteldeutsche Repräsentationsbauten wie das Mecklenburger Schloss Ludwigslust, die Alte Börse in Leipzig oder das Neue Palais in Potsdam, dass ein flacher Dachabschluss geradezu ein modisches »Must-have« war.

Aus dieser Zeit ist auch eine erste Streitschrift für den Bau von Flachdächern überliefert. Der Ökonom Paul-Jacob Marperger (1656-1730) verfasste 1722 sein Loblied auf die »Altanen«, in dem er die zahllosen Vorzüge flacher Dächer anführt. Nicht nur lassen sich Kosten für ein Steildach, einen »Erschrecklichen Holz-Hauffen von 50 ja 100 schweren Balcken« sparen, das Flachdach bietet auch Raum für ein zusätzliches Stockwerk, Platz zum Wäschetrocknen, für die Anlage von Krankenstuben, es ermöglicht eine bessere Belichtung der Räume und reduziert die Brandlast.

Das 19. Jahrhundert

Als Bauform, gar als ästhetisches Ideal war das Flachdach also längst arriviert. Der Klassizismus des frühen 19. Jahrhunderts brach zwar radikal mit dem Formüberschwang des Barock, doch das Ideal möglichst flacher Dachabschlüsse blieb. So finden sich etwa im Werk Karl Friedrich Schinkels zahlreiche Bauten mit Flachdach-Anmutung wie etwa die Bauakademie oder die Friedrichwerdersche Kirche; es handelt sich dabei allerdings tatsächlich um Dächer mit flacher Neigung und hohen Vormauerungen. Erst die parallel zur Industrialisierung voranschreitende Entwicklung und zunehmende Verfügbarkeit von Baustoffen eröffnete neue Optionen.

1839 erdachte der Fassmachermeister Samuel Häusler, also ein Abdichtungsfachmann, eine Bauweise für flache Dächer, die sich auch für den Einsatz in der Masse des Wohnungsbaus empfahl. Hierbei wurde zunächst eine einfache Holzbalkendecke mit Brettschalung angelegt. Auf diese wurde eine dünne Sandschüttung als Trenn- und Ausgleichsschicht aufgebracht, dann eine Lage von Pappe, die nun mit dem von Häusler vertriebenen »Holzcement«, einer Mischung aus »60 Gewichtsteilen Steinkohlenteer, 15 Teilen Asphalt und 25 Teilen Schwefel« bestrichen wurde. Es folgten weitere Schichten Pappe – Holzzement, abschließend eine Sand- oder Kiesschüttung, optional auch eine Erddeckung mit Begrünung (Abb. 7). Die Bauweise galt als aufwendig, aber dauerhaft und günstig im Unterhalt – tatsächlich sind heute noch Holzzementdächer des 19. Jahrhunderts erhalten. Die von Häusler entwickelte Dachdeckung erforderte geradezu flache Dächer, denn bei steiler Dachneigung wären die wärmelöslichen Dichtungslagen ins Rutschen gekommen …

Flachdach von Carl Rabitz

 

Darstellung eines Dachgartens mitten in Berlin, der als eine Art Showroom  genutzt wurde, um eine neuartige Konstruktionsweise vorzuführen: Über einem Holzdach diente eine Schicht aus »vulcanischem Cement« als Abdichtung.

 

Bild aus: Illustrierte Zeitung Nr. 1316, 19.09.1868, S. 196 .

Ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Verbreitung des Flachdachs gelang dem Berliner Maurermeister und Erfinder Carl Rabitz. Er ließ beim Bau seiner eigenen Villa in Berlin einen prachtvollen Dachgarten anlegen. Es handelte sich, wie beim Holzzementdach, zunächst um eine Balkenkonstruktion mit einer Holzschalung, auf der nun über einer Isolierschicht eine Lage aus »vulcanischem Cement« aufgebracht wurde, also einem wasserundurchlässigen, mineralischen Baustoff. Rabitz hatte mit seinem Haus eine Art Ausstellungsobjekt geschaffen, mit dem er für seine Konstruktion werben konnte – »feuerfester, vorzüglicher, schöner, dauerhafter und billiger als jede andere Bedachungsart«. Da ein Bild mehr sagt als tausend Worte, gab er seinen Publikationen eine reizvolle Illustration des großstädtischen Idylls bei (Abb. 8).

Die Entwicklung und ökonomische Verfügbarkeit moderner mineralischer Werkstoffe wie auch feuchtehemmender Beschichtungen machte das einstige «Luxusobjekt« fürstlicher Repräsentation und militärischer Macht gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich zu einer allgemein verfügbaren Gestaltungsoption. Mit flachen Decken aus bewehrtem Beton waren stabile Unterkonstruktionen zur Hand, die bei guter Ausführungsqualität den Feuchteeintritt hemmten; mit der großtechnischen Gewinnung von Bitumen konnten die Flächen einfach abgedichtet werden. Die Meister der klassischen Moderne konnten bei ihren Entwürfen damit auf bereits bewährte Systeme zurückgreifen. Bautechnisch sind die Flachdächer der Moderne, etwa des Hauses Scharoun am Stuttgarter Weissenhof (Abb. 9/10), nicht besonders aufwendig: Über einer flachen Decke aus Eisenbeton, betonummantelten Stahlträgern oder Systemziegeln ist über einer Ausgleichs- und Trennschicht eine (oft nur dünnlagige) Bitumendichtung aufgebracht.

Die Gründe, die Gropius in seiner Publikation des (flach bedachten) Bauhauses 1930 als wesentlich für den bevorstehenden Siegeszug der Bauweise anführte, decken sich fast wörtlich mit dem Lob des Flachdaches von Marperger: Es können Dachgärten, Kinderspielplätze und Wäschegestelle angelegt werden; es ergibt sich eine besser Ausnutzung des Raumes, ein wirksamer Brandschutz durch die Vermeidung großer Holzkonstruktionen; die Bauweise ist günstiger und (zumindest nach Ansicht des Bauhausdirektors) reparaturfreundlich …


Über den Autor Christian Kayser

Architekturstudium an der TU München und der University of Bath (GB), Schwerpunkt Bauforschung und historische Baukonstruktionen. Seit 2004 Mitarbeit im Ingenieurbüro Barthel & Maus, seit 2012 als Geschäftsführer, seit 2019 als Kayser + Böttges, Barthel + Maus. 2008-11 Akad. Rat an der TU München, Dissertation. Lehraufträge an TU und LMU München.


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