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Energetische Sanierung der Wagenhallen in Stuttgart

Energetische Sanierung der Wagenhallen in Stuttgart
Charme des Unperfekten

Das Gegenteil von Totsanieren ist die behutsame Revitalisierung: Das Beispiel der Stuttgarter Wagenhallen zeigt, wie aus einer riesigen maroden Kalthalle eine EnEV-konforme Event-Location mit Raum für Kreativität und mit vielen Geschichten werden kann.

Text: Christoph Gunßer, Fotos: Daniel Stauch; Ferdinando lannone; Michael Reiner
Architekten: ATERLIER BRÜCKNER
Tragwerksplanung: Bornscheuer Drexler Eisele

Die weitläufigen Wagenhallen, so groß wie zwei Fußballfelder, lagen lange versteckt im Bereich des Stuttgarter Nordbahnhofs, auf dem, nach Aufgabe des Bahnbetriebs Recycling-Firmen das Bild bestimmten. Die inspirierten die Kreativszene, sich in den 2003 stillgelegten Hallen einzunisten. So wurde der Ort zur bekannten Off-Location.

Doch die Bausubstanz zerfiel und war nicht mehr sicher. Darum beschloss die Stadt als neue Eigentümerin 2015 eine umfassende Sanierung: Das Stuttgarter Atelier Brückner bekam (nach einem VgV-Verfahren) den Auftrag, aus den unbeheizten Hallen einen ganzjährig nutzbaren Ort für Events, Künstlerateliers und die bestehende Tangoschule zu gestalten. Rund 30 Mio. Euro war das dem damaligen grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn wert.

Projektleiter Michel Casertano vom Atelier Brückner spricht von einem »fast schon archäologischen Ansatz« im Umgang mit der – nicht denkmalgeschützten – Substanz, die immer wieder um- und angebaut worden war und zu der es noch nicht einmal verlässliche Pläne gab. Aus dem Konglomerat an Bauten schälte das Team wesentliche Teile der seriellen Giebelstruktur von 1895 heraus, deren rot-gelbes Klinkerkleid von außen die filigrane Stahlstruktur der – von zahlreichen Oberlichtern zusätzlich rhythmisierten – Dachlandschaft verhüllte.

Neue Dachhaut als Wärme- und Schallschutz

Das nach Kriegszerstörung nicht mehr original erhaltene, ungedämmte Dach der Kalthalle machte rund 90 % der Hüllfläche aus. Die schweren aufgelegten Betonelemente überlasteten die Tragstruktur. Sie wurde davon befreit, behutsam ertüchtigt und gereinigt.

Die neue leichte Dachhaut aus schwarzen Stahltrapezblechen ist zweischalig mit komprimierter Dämmung in der Mitte, wobei die Schalen schallschutztechnisch entkoppelt sind, um den Schallpegel v.a. der Event-Räume nicht nach außen dringen zu lassen. Die innere Schale ist aus akustischen Gründen gelocht, um im Zusammenspiel mit den ebenfalls rauen Wänden den Schall zu brechen.

Sämtliche Leitungen, mächtige Zu- und Abluftrohre sowie die Strahlungsheizkörper, hängen sichtbar unter der Decke und kontrastieren mit der Patina der bewahrten Tragstruktur.

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Grundriss EG: ATELIER BRÜCKNER, Stuttgart

Da diese weder verkleidet noch wesentlich verstärkt wurde, ist das Bauwerk brandschutztechnisch F0 und komplett gesprinklert. Eine neue Brandschutzwand trennt die beiden Hauptnutzungsbereiche, die baurechtlich unterschiedlichen Verordnungen unterliegen: Der 4000 m² große, flexibel in vier Bereiche teilbare Eventbetrieb im Westteil ist nach Versammlungsstättenverordnung für bis zu 2100 (stehende) Menschen zugelassen. Der mit 9500 m² mehr als doppelt so große Bereich des Kunstvereins im Ostteil mit seinen hölzernen Atelier-Einbauten ist nach Industriebaurichtlinie gestaltet und wegen der Hallentiefe offiziell Ortskundigen vorbehalten. Für Veranstaltungen wurde hier ein Saal abgeteilt.

Die neuen, den alten nachempfundenen Oberlichter bestehen aus Polycarbonat mit einer gläsernen Innenschale. Sie lassen sich zum Entlüften öffnen und für den Eventbetrieb komplett abdunkeln. Alle neuen Fenster und Türen sind dreifachverglast, bestehende aufgedoppelt. Da die Fernwärmeleitung direkt nördlich am Gebäude vorbeiführte, schloss man das Gebäude daran an. So erfüllt das Gebäude die aktuelle EnEV, ohne dass die Wände wärmetechnisch ertüchtigt werden mussten.

Wände erzählen Geschichten

Denn die Wände sind es v. a., die von der bewegten Geschichte der Hallen zeugen, innen wie außen. Bis zu 85 cm dick, erfüllten sie zumeist ohnehin die Anforderungen des Wärmeschutzes und konnten in ihrem narbigen Zustand konserviert werden. Nur besonders beschädigte Partien wurden geflickt oder ergänzt.

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Grundriss OG: ATELIER BRÜCKNER, Stuttgart

Den Architekten gelang es dabei mustergültig, die Spuren der Zeit ablesbar zu machen. Wo angefügt wurde, wie bei der Wiederherstellung des Dachs über der Tanzschule im Ostteil geschah das in »entsättigtem« Farbton. Wo Anbauten abgebrochen wurden oder Öffnungen verschlossen, bleiben Reste davon sichtbar. Auch Graffiti blieben erhalten. Bröselndes Mauerwerk wurde sorgsam verbandelt, Anstückungen abgesetzt, was stellenweise an Hans Döllgasts subtiles Sichtbarmachen von Nachkriegswunden erinnert.

Auch hier haben Phosphorbomben viele Schäden hinterlassen. Das ist weiterhin ablesbar. Im Streiflicht der Bodenscheinwerfer präsentiert sich das narbige Relief der gereinigten Fassaden nachts fast schon zu effektvoll, wie eine Kulisse. Ein seitlich stehender Neubau wurde gar aus Altziegeln errichtet und fügt sich gut ein. So viel Respekt für einen alten Nutzbau ist hierzulande selten.

Ateliers als variable Quader

Herzstück der Hallen waren und sind indes die Ateliers. Im seriellen Duktus der früheren Gleise sitzen die einfach mit OSB-Platten bekleideten Quader ein- bis zweigeschossig im riesigen, bis zu 10 m hohen Luftraum. Konzipiert sind die Container verschieblich, sodass sie sich durch die großen Südtore ins Freie rollen lassen sollen. Hatten die Künstler anfangs auch eine neutrale white-cube-Lösung erwogen, so seien sie nun froh, dass sie sich an der alten Substanz reiben können, erzählt der Projektleiter, der seinen Beitrag im Übrigen nur als weitere Zeitschicht versteht: »Wenn die da etwas verändern wollen, ist mir das recht.«

Der Verein aus über 80 Künstlerinnen und Künstlern war mit Motor dieser behutsamen Verwandlung, die man als sehr geglückt bezeichnen kann – und hoffentlich Folgen für das Umfeld zeitigt, das inzwischen zur »Kulturschutzzone« erklärt wurde. Denn heute liegen die Wagenhallen nicht mehr im Windschatten der Stadtentwicklung, sondern mittendrin: Das im Rahmen von Stuttgart21 geplante Rosenstein-Quartier reicht bis hierher und soll zur IBA 2027 mit einer experimentellen »Maker City« im Kontext der Wagenhallen starten – dort, wo die Kreativen bereits während der Umbauphase der Hallen eine bunte Container City errichteten. Dieses, für ordnungsliebende Stuttgarter zumindest ungewöhnliche Ensemble erhielt 2018 beim Deutschen Städtebaupreis sogar eine Belobigung. Zitat der Jury: »Das Areal ist zu einem Impulsgeber und programmatischen Baustein für das zukünftige Quartier geworden. Die Verzahnung informeller und temporärer Projekte mit langfristigen Maßnahmen und strategischen Entwicklungen fördert eine Verdichtung öffentlicher Nutzungen, welche in das direkte Umfeld und in die gesamte Stadt ausstrahlt.«

Hoffentlich gelingt es auch hier, den Charme des Spontanen und Unperfekten zu bewahren. Derzeit verhandeln die Beteiligten über die konkrete Ausgestaltung.


Standort: Innerer Nordbahnhof 1-3, 70191 Stuttgart
Bauherr: Liegenschaftsamt Stuttgart, vertreten durch das Hochbauamt Stuttgart
Architekten: ATELIER BRÜCKNER, Stuttgart
Projektdirektor: Prof. Eberhard Schlag
Projektleiter: Michel Casertano LPH 1-9
Mitarbeiter: Ann-Sophie Albrecht, Haydar Dalci, Marc Dettinger, Luis Duarte, Julia Federhofer, Gesine Gennrich, Andreas Goerke, Dominik Hegemann, Stephanie Hoffmann, Benjamin Jagdmann, Sungha Kim, Katerina Krommyda, Jörn Küsters, Reinhard Orlinski, Jelka Ottens, Jannis Renner, Andreas Schirra, Christoph Wezel
Tragwerksplanung: Bornscheuer Drexler Eisele, Stuttgart
Projektsteuerer: Jeggle Architekten, Kernen im Remstal
Objektüberwachung: Wenzel+Wenzel Freie Architekten Partnerschaft, Karlsruhe
HLS-Planung: Pfähler-Rühl, Heilbronn
Anlagentechnik: Pfähler + Rühl, Ingenieurbüro für Technische Gebäudeausrüstung GmbH, Lehrensteinfeld
Brandschutz: Halfkann + Kirchner, Stuttgart
Immissionsgutachter: HEINE + JUD, Stuttgart
Vermesser: Vermessungsbüro Hils, Stuttgart
Korrosionsschutzgutachter: Institut für Stahlbau Leipzig
Schadstoffgutachter: Geo-AER, Stuttgart
Elektroplanung: GBI Gackstatter Beratende Ingenieure, Stuttgart
Bauphysik: Kurz und Fischer GmbH, Beratende Ingenieure-Bauphysik, Winnenden
Geotechnik Baugrunduntersuchung: PGG, Filderstadt
Landschaftsplanung: g2-Landschaftsarchitekten, Gauder + Gehring, Stuttgart
BGF: 14.074 m²
BRI: 87.366 m³
Bauzeit: Januar 2017 bis Dezember 2018
Fertigstellung: Mai 2019

Beteiligte Firmen:
Raumlufttechnische Anlagen: Kiefer Klimatechnik, Stuttgart

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