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Ein starkes Stück Ostmoderne

Empfangsgebäude Bahnhof Sangerhausen
Ein starkes Stück Ostmoderne

Als ihrem Bahnhof ein ungewisses Schicksal drohte, fackelte die Stadt Sangerhausen am Ende nicht lange. Sie kaufte die Immobilie, brachte darin zusätzliche Nutzungen unter und rettete damit zweierlei: ein Denkmal und ihr städtisches Willkommenstor.

Wer mit dem Zug von Halle nach Göttingen durchs Mansfelder Land fährt, dem sei ein Zwischenstopp am Bahnhof Sangerhausen empfohlen. Hier kann man eine Zeitreise in die frühen 60er Jahre unternehmen. Sie beginnt in der sonnenhellen hohen Empfangshalle: Eine fassadenbreite, Innen und Außen aufhebende Glasfront ist ihr auffallendstes Attribut. Die weiteren: vorwiegend blau geflieste Wände und Rundstützen, fünf tief abgehängte konisch-langgestreckte Leuchter, eine Uhr aus golden eloxiertem Aluminium. Und schließlich fällt der Blick vis-à-vis der großen Glasfassade auf ein wandfüllend farbiges Mosaik mit einer Abfolge markanter, dem sozialistischen Realismus verpflichteter Bildmotive. Sie zeigen u.a. die von Bergbau-Kegelhalden geprägte Landschaft – ein zeitgenössisch-künstlerischer Willkommensgruß am Bau und zugleich Hommage an die Stadt und ihre Geschichte.

Mit der Inspiration der Moderne

Leichtigkeit, Transparenz und Eleganz prägen das Haus, es atmet mit jeder Faser den Zeitgeist der frühen Nachkriegsmoderne, ein Eindruck, der sich beim Hinaustreten in den Stadtraum noch verstärkt. Ein zartes Vordach auf schlanken Rundstützen ist angefügt und reicht bis an einen niedrigeren, zweigeschossigen Gebäudeflügel, der im Westen anschließt und einst die Mitropa-Gaststätte beherbergte. Er bildet die seitliche Fassung eines Bahnhofsvorplatzes mit auffälligem, geometrischem Muster, gepflastert mit regionaltypisch-schwarzem Schlackestein. Erst hier erschließt sich die erstaunliche Ensemblewirkung des 1963 eingeweihten Hauses.

Geplant wurde es seinerzeit vom Entwurfs- und Vermessungsbüro der Deutschen Reichsbahn, Außenstelle Dresden, Brigade Entwurf Hochbau: F. Pietzsch, K. Seidler, H. Ulbrich. Die Architekten waren angetreten, ökonomischen Zwängen und engen Auflagen zum Trotz Bauhausgeschichte im Osten Deutschlands weiterzuschreiben. Heute genießt dieses »bedeutende Zeugnis der Architektur der frühen 1960er Jahre … von bemerkenswerter architektonischer Qualität und hoher städtebaulicher Bedeutung« Denkmalschutz. Dass es der Bau unverfälscht in die Gegenwart schaffte, ist zum einen sicher dem vielzitierten »Mangel als bestem Konservator« zu danken. Zum anderen jedoch der Weitsicht des Stadtrats: Als der Bahnhof 2009 von der Deutschen Bahn AG zum Verkauf ausgeschrieben war, reifte in der Kommune der Entschluss, ihren Bahnhof keinesfalls in fremde Hand und so in eine ungewisse Zukunft zu geben.

Ein Bahnhof mit Plus

Vor der DB-Verkaufsofferte war das Gebäude über Jahrzehnte vernachlässigt worden. Es konterkarierte die Anstrengungen im Umbau einer Stadt, die nach 1990 einen dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Wandel erlebte. Den Bahnhof zu retten und als attraktives Eingangs- und Willkommenstor zu revitalisieren, war in diesem Sinne weise und folgerichtig, der Kauf durch die Stadt aber nur ein erster Schritt. Mit der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft SWG, einer 100-prozentigen Stadttochter, wurde in der Folge eine Öffentlich-Öffentliche Partnerschaft geschlossen, der Bahnhof an sie weiterverkauft und die von Bund und Land umfangreich gewährten Fördergelder übertragen. Als neuer Eigentümer und Bauherr realisierte die SWG die Sanierung und den Umbau, während die Stadt als Generalmieter fungiert. Mit der Servicestation des Nahverkehrsanbieters Abellio Rail Mitteldeutschland, mit Buch- und Zeitschriftenladen, Backshop sowie Tourismusbüro finden sich in den sanierten Räumen alle wichtigen »bahnaffinen« Funktionen. Dazu gesellen sich im Westflügel mit der Stadtbibliothek und dem städtischen Bürgerbüro zwei kommunale Einrichtungen, ergänzt um eine vereinsgeführte Betreuungsstätte. Diese neuen Nutzungen sorgen nicht nur für mehr Leben im und um den Bahnhof, sondern sind auch Teil eines städtischen Haushaltskonsolidierungskonzepts, weil man die Miete in Fremdobjekten spart. Und sogar eine Gaststätte mit öffentlichem Toilettenzugang fand in einem ebenfalls zum Ensemble gehörenden Gebäude Platz, der östlich angefügten, aber untergeordneten früheren Gepäckaufbewahrung.

Dem Zeitgeist der 60er Jahre verpflichtet …

…, aber, wo nötig, neu interpretieren und weiterdenken – unter dieser Maßgabe haben sich die Leipziger Architekten der S & P Sahlmann Planungsgesellschaft für Bauwesen dieser Umbau- und Sanierungsaufgabe genähert. Die denkmalgeschützte Haupthalle, deren Glasfront und die platzseitige blaue Fliesenbekleidung genossen dabei besondere Achtsamkeit. Ein breites Spektrum von Materialien und Farben galt es zu erhalten oder wiederzubeleben. Da sind die blauen bzw. hellgrauen Spaltklinker: Verlorene Fassadensteine konnten originalgetreu ersetzt werden, jene an den Hallenwänden und Stützen wurden gesäubert, teils ausgebessert. Da sind Nuancen von Grün an den Leuchtern und an der Wandfläche rund um das restaurierte, erstaunliche Mosaik. Sie sind nach Befund wieder hergestellt worden. Und da ist nicht zuletzt ein Ton, der zwischen einem gedeckten Orange und Altrosa liegt und sich von der Hallendecke über die Unterzüge bis auf die Fassadenpfeiler hinab zieht.

Die ausgewechselte Fensterfront mit der wieder tickenden Bahnhofsuhr steht trotz ihrer speziellen Dreifach-Sonnenschutzverglasung der Anmutung ihrer Vorgängerin in nichts nach und trägt gleichzeitig Sorge dafür, dass sich die Halle sommers nicht mehr auf Gewächshaustemperaturen aufheizt. Öffnungsflügel sind zur Entrauchung im Brandfall unauffällig integriert worden. Als besonders wertbeständig erwiesen sich die grauschwarzen Boden-Terrazzoplatten, die lediglich generalgereinigt werden mussten.

Raffiniertes Upcycling

Zwei größere bauliche Veränderungen hat man in der denkmalgeschützten Haupthalle vorgenommen. Der kleine Buchladen mit seinem Schaufenster zum Bahnhofsvorplatz wurde in den Innenraum hinein erweitert (dort, wo einst drei Schaukästen standen, die schon lange verloren sind). Hinter seiner hallenseitigen Attikaverkleidung aus vertikalen weißen Holzlamellen hat man eine Heizung versteckt. Das passt. Auf Wunsch des Bauherrn wurde aber auch eine Treppe entfernt, die früher ins 1. OG zum Mitropa-Speisesaal führte. Das passt weniger und sie fehlt; Architekten wie Denkmalpfleger sahen sie als eines der wichtigsten Gestaltungselemente an. Nachhaltig war jedoch die Idee, die ausrangierten Treppenstufen als Spolien wiederzuverwenden. Aus ihnen sind einzigartige Wartebänke entstanden, die mit ihren Lehnen aus weißen Holzlamellen perfekt in das 60er-Jahre-Interieur passen. Zusammen mit der »dynamischen Fahrgastinformation« und den Gepäckschließfächern bieten sie jenen Komfort, den Fahrgäste heute erwarten dürfen.

Nicht auszudenken, was aus dem Gebäude geworden wäre, wenn die Stadt es nicht erworben hätte. Möglicherweise würde es als Spielhalle, Wettbüro oder Sonnenstudio dienen. Insofern ist es hocherfreulich, dass an seiner Fassade jetzt sieben neue Lettern prangen, die dort früher nie hingen: der goldfarbene Schriftzug BAHNHOF.

~Cornelia Heller

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