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Wohntopografie am Ortsrand

Wohnanlage »22 Tops« in Wolfsberg (A)
Wohntopografie am Ortsrand

Jahrzehntelang stand ein sozialer Wohnbau als einsamer Solitär in der Mitte eines schmalen Grundstücks am Ortsrand. Die angrenzenden Flächen hielt der Bauträger für unverwertbar. Aus den Vorschriften der Bauordnung und dem Wunsch nach Wohnungsvielfalt drechselten die Architekten eine Bebauungsstruktur nach Maß aufs Gelände. Die ersten 14 Tops sind fertig. Sie verteilen sich auf ein markantes, breitschultriges Haus mit Satteldach und einen niederen, schmalen Baukörper; beide wiederum werden von einem mäandrierenden Band aus Betondecken und Außenwänden zu einer Einheit zusammengefasst.

    • Architekten: Holodeck architects Tragwerksplanung: Oberressl Kantz

  • Kritik: Isabella Marboe Fotos: Paul Ott
Als attraktive Wohnlage kann das Grundstück am Autobahnzubringer nicht gerade gelten. Es liegt am Ortsende in einer hybriden, von diversen Verkehrsadern und einer Bahntrasse zerfurchten Landschaft, die sich westwärts langsam in den Bergen verliert. Spitz läuft die Parzelle auf einen Kreisverkehr zu. Ein Böschungswall säumt den Gehsteig an der Sonnenseite im Süden. Jenseits der Stichstraße im Norden erstreckt sich ein Siedlungsteppich aus Einfamilienhäusern in kleinen Gärten.
Lange Zeit stand auf dem schmalen Grundstück hinter dem Lärmschutzwall verloren ein schmuckloser Mehrspänner mit Mittelgangerschließung, isolierverputzten Lochfassaden und flachem Satteldach: Sozialwohnungen, auf drei Geschosse verteilt. Die im Osten und Westen angrenzenden Parzellen blieben frei. Seit über dreißig Jahren sind sie im Besitz der Gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft der KELAG GmbH, die sie brachliegen ließ, weil sie als unverwertbar galten. Bis der Prokurist Joachim Binder bei einem Vortrag Holodeck architects und ihren kontextuellen Zugang kennenlernte. 2002 wurde das Wiener Büro mit einer Bebauungsstudie für den Bauplatz beauftragt, wobei es seitens des Bauträgers keine Einschränkungen gab, bis auf die, dass die Wohnungen den Förderkriterien genügen mussten (Einhaltung der Baukosten, Einheiten mit durchschnittlich siebzig Quadratmetern, Durchmischung von Ein-, Zwei- und Drei-Zimmer-Typen).
Abstandsfläche, Schattenwurf und Satteldach
»Wir wollten eine Bebauungsstruktur entwickeln, die den Solitär in die Gruppe einbindet und auf die Umgebung Rücksicht nimmt«, so Architektin Marlies Breuss. Die Vorgaben des Ortes waren sehr spezifisch: Die erste Parzelle erstreckt sich fast achtzig Meter lang von ihrer Spitze an der Straßeneinmündung bis zur Geländekante am Bestand, die ihre westliche Grenze bildet und etwa anderthalb Meter höher liegt. Hier schrieb die Bauordnung maximal drei Geschosse vor, deren Höhe die 13,82 Meter des benachbarten Firsts nicht überschreiten durfte. Außerdem war ein Satteldach mit einer Neigung zwischen 25 und 45 Grad gefordert.
Pro Wohnung sind in Kärnten 1,5 Stellplätze vorgesehen, man nutzte den Niveausprung: »Die Tiefgarage sollte natürliches Licht erhalten«, ›
› so Breuss. Also wurde das höher liegende Niveau des angrenzenden Geländes übernommen, in der Decke der Garage weitergeführt und der Hang leicht modelliert: Unter einer begrünten Böschung taucht nun die Einfahrt in die Tiefe. Sie bildet die Zäsur zwischen dem höheren, breitschultrigen Bauteil mit Satteldach im Westen und der kleinteiligeren, lang gestreckten Struktur am spitzen Parzellenzwickel. In einer zweiten Ausbaustufe soll auf der oberhalb des Altbaus gelegenen Restfläche ein weiteres dreistöckiges Haus mit Satteldach entstehen: Wie Zwillinge werden die beiden neuen Bauteile A und B mit insgesamt 21 Tops dann den Bestandsbau einfassen. Ursprünglich waren 22 Tops geplant, die der Anlage auch ihren Namen gaben. Zwei kleinere Wohneinheiten wurden jedoch zu einer großzügigen, pavillonartigen Wohnung mit riesiger Dachterrasse zusammengelegt.
An einem Vorplatz liegt der vom weit auskragenden ersten Stock beschirmte Eingang. Er bildet das beidseitig verglaste Gelenk an der Naht zwischen den unterschiedlichen Bauteilen, die gegeneinander verschränkt auf dem Sockel sitzen. Aus ihm heraus entwickelt sich die mäandrierende Raumschlaufe der weißen Decken und tragenden Außenwandscheiben, die den Schottenbau aus Stahlbeton wie ein Band zusammenhält. Sie vollzieht den Niveausprung mit und fungiert als Basis für die darüberliegenden Einheiten, die mit weit ausschwingenden, terrassenbildenden Vor- und Rücksprüngen auf ihre Umgebung reagieren und doch in ihrer Architektursprache deutlich aus dem Rahmen fallen.
Etwa 1,47 Mio. Euro betrug das Budget, Tiefgarage inklusive. »Der Kostendruck im geförderten Wohnbau ist sehr hoch. Wir haben von Anfang an so optimiert wie möglich mit den Tragwerks- und Baustoffkonsulenten zusammengearbeitet«, sagt Büropartner Michael Ogertschnig. Alle Fassaden, die nicht vom »Raumband« gebildet werden, sind konsequent in einem Leichtbausystem ausgeführt, das in wenigen Arbeitsschritten montiert werden konnte. Es besteht aus raumhohen Fensterelementen und einer vorgestellten Strukturwelle, hinter der die dunkle Unterspannbahn sichtbar ist. Das Produkt ist neu am Markt und würde überall Aufsehen erregen: Bronzefarben reflektiert seine Oberfläche das Licht und entwickelt in der Abfolge mit dem Glas eine feine Tiefenwirkung mit hohem CI-Faktor.
Dank ihrer Orientierung, der Masse des Betons, Isolierglas und Dachbegrünung erreicht die Anlage den Niedrigenergiestandard.
Landschaft, Sonne und Ortsbild
Für den Abstand zu den Grundgrenzen, der die Tiefe der Baukörper bestimmte, waren die Paragrafen über die Abstandsflächen, die mit 6/10 der Höhe berechnet werden, und die Verschattung maßgeblich. In Kärnten gilt die Vorschrift, dass der Schattenwurf eines Neubaus auf dem eigenen Grundstück abbildbar sein muss. Entlang der Straße darf er bis zu deren Mittellinie reichen. Daraus wurde eine komplexe Struktur generiert, in der viele Typen und Orientierungen miteinander verwoben sind. Insgesamt gibt es hier 14 Tops mit Wohnflächen zwischen 30 und 115 Quadratmetern. Die große Einheit hat 64 Quadratmeter Terrasse. Maisonetten gibt es keine.
»Wir wollten im Süden Vorgärten für die Mieter schaffen, die Nordseite von der Straße wegdrehen und eine Form finden, die auf die Nachbarn Rücksicht nimmt«, so Breuss. Bis zum Bereich der Garageneinfahrt, wo der Einfamilienhaus-Bestand den entscheidenden Bezugspunkt bildet, verzichteten die Architekten auf die volle Ausnutzung der Schattenregel. Der Sturm der Entrüstung, den sie bei der ersten Bauverhandlung mit allen Anrainern befürchteten, blieb dadurch aus.
Breuss: »Es gab keinen einzigen Einspruch mehr.«
Nun gleitet ein lang gestrecktes, zweistöckiges Gebäude, das wie eine Höhenschichtlinie in die Landschaft gebettet ist, die Straße entlang. In Absprache mit dem Baurechtsreferenten durfte es zugunsten des Ortsbilds ohne Satteldach auskommen. Quasi organisch entwächst ein begrüntes Pultdach dem Boden und wird zur Decke des Erdgeschosses. Im Norden wird es von einem voll verglasten Laubengang flankiert, der zwischen Straße und Privatwohnung eine Pufferzone bildet und die ebenerdigen Einheiten erschließt, vor denen sich im Schatten des Lärmschutzwalles kleine Terrasseninseln ausbreiten. Hier kann man durchs hohe Glas weit in die Wohnungen blicken, die Straße ist kaum zu spüren.
Urban und ländlich
Das von der Autobahnausfahrt sichtbare hohe Haus setzt ein unübersehbares Statement für moderne Architektur. Die Firstrichtung des breiten Satteldaches verdankt sich dem Wunsch nach ost-west-orientierten Wohnungen, die vorgeschriebene Kniestockhöhe von 1,50 Metern konnte durch einen asymmetrischen Abgleich vergrößert werden: Auf einer Seite erreicht sie nun 1,9 Meter, vor denen sich das Dach weit über die Terrasse im Norden zieht. Obwohl seine Neigung und das gläserne Stiegenhaus, das wie eine Veranda vor die Fassade gestellt ist, auf tradierte ländliche Bauformen verweisen, hebt sich das Gebäude in seinem Maßstab, seiner Formensprache und Materialität klar von der Umgebung ab.
Die Grundrisse sind stark von einem urbanen Lebensstil inspiriert: kompakte Bäder, teils verwinkelte Gänge, viel raumhohes Glas, schräg geführte Wände, in alle Himmelsrichtungen vorstehende Terrassen, französische Fenster und schmale Balkone. Einige davon liegen auf der Wetterseite im Norden: Das ist immer noch besser als kein privater Freiraum und hat den Vorteil, dass es im Sommer nicht zu heiß wird.
Kinder spielen draußen, auf den Terrassen stehen Gartenmöbel und wuchern Pflanzen. »Die Formen sind sehr interessant, jeder in Wolfsberg kennt das Haus«, sagt Michael Lechner, ein glücklicher Mieter einer Wohnung am Laubengang. Auch Philipp Markut sieht seine 72 Quadratmeter unter der Dachschräge sehr positiv. Siglinde Jamnik aber ist verzweifelt: »Vom Licht her ist es super. Reihenweise kommen Busse voller Architekten, die sich das tolle Haus anschauen. Aber es ist total verbaut und funktioniert nicht. Das Bad ist winzig, mir fehlen eine Abstellkammer und eine Speis. ›
› Ich weiß nicht, wo ich meine Sachen unterbringen soll.« Dass der Wäscheständer so malerisch auf dem Balkon steht, ist eine Notlösung, weil man im Waschraum nichts aufhängen kann. Stauräume fehlen nicht nur ihr, auch am Sonnenschutz wurde gespart: Beides zählte nicht zur Grundausstattung und war extra zu zahlen. Fast alle bemängeln, dass die Kellerabteile zu klein sind und anfangs so feucht waren, dass viel verschimmelte. Das ist nun zum Glück behoben, über die lichten Räume und großen Terrassen freut sich ohnehin jeder.
Für Kärnten ist dieser Wohnbau exzeptionell, 2008 bekam er eine Anerkennung beim Landesbaupreis. Die Jury attestierte ihm unter anderem einen hohen Identifikationsgrad und trotz einiger fragwürdiger Details (Dachentwässerung!) einen gestalterischen Anspruch, der sich stark vom regional üblichen Niveau unterscheidet: »Diese zeitgenössische Konzeption einer Wohnanlage in vorstädtischer Umgebung schafft einen Platz zum Leben, der zur Umgebung Bezug aufnimmt und auch seine eigenen Grünräume kreiert, die mit den Innenräumen kommunizieren.« Und das, obwohl er seine Parzelle fast grenzwertig ausnutzt. •
  • Bauherr: Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft der KELAG GmbH, Klagenfurt (A) Architekten: HOLODECK architects ZTGmbH Ziviltechniker- gesellschaft mbH, Wien Mitarbeiter: Marlies Breuss, Michael Ogertschnig (Partner); Manuel Garcia Barbero, Christine Schmauszer, Gernot Köfer Tragwerksplanung: Oberressl Kantz ZTGmbH, Klagenfurt Bauphysik: DI Röhrer, Korneuburg HKLS und Elektro: KELAG Consulting, Klagenfurt Energieberatung: Verein energie:bewusst Kärnten, Klagenfurt BGF: 3030 m²; GFL: 4240 m² (bebaute Fläche ca. 1930 m²) Bauzeit: Oktober 2006 bis Juli 2008
  • Beteiligte Firmen: Bauausführung: Swietelsky, Villach, www.swietelsky.at Trockenbau: Pichler Trockenbau GmbH, Klagenfurt, www.swietelsky.at Aufzug: ThyssenKrupp Aufzüge GmbH, Wien, www.swietelsky.at
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