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Wohnhaus Tübingen von Yonder & SOMAA Architektur und Design

Gelungene Verbindungen
Wohnhaus in Tübingen

In Tübingen geht man ungewöhnliche Wege: So entsteht Wohnraum für Geflüchtete eben auch mal in einer der besten Lagen der Stadt. Aus Betonhalbfertigteilen. Mit engem Budget. Von einer Baugemeinschaft realisiert. Mit dem richtigen Konzept scheint Integration durchaus machbar.

Architekten: Yonder – Architektur und Design; SOMAA – Gesellschaft für Architektur & Design
Tragwerksplanung: Ströbel Bilger Mildner Ingenieure

Text: Petra Ralle
Fotos: Brigida González

Vom nördlichen Stadtteil Lustnau zieht sich in Tübingen die eher ruhige Gartenstraße am Fuße des Österbergs immer am Neckar entlang bis zur Innenstadt. Auf der einen Seite säumen großzügige Häuser und prächtige Villen der Studentenverbindungen den Hang, gegenüber zieht sich ein Grünstreifen bis zum Wasser hin.

Läuft man bei schönem Wetter dort entlang stadteinwärts, wird die Ruhe irgendwann von dem regelmäßigen Plopp, Plopp der Bälle auf Tennisplätzen unterbrochen. Kurz darauf mischen sich auch schon vielfältige Geräusche der Kinder auf einem großen Spielplatz unter alten Bäumen dazu. Dort, wo eine Brücke über den Fluss führt, ist das Projekt der Baugemeinschaft Wolle+ entstanden. Kommt man näher zum Gebäude hin, umweht einen der Geruch nach Gegrilltem und Gewürzen. Von den Balkonen hört man die Stimmen der Bewohner, im Hof sitzt ein alter Mann im langen Gewand mit seiner Wasserpfeife.

Dieser Platz ist einer von acht innerstädtischen Standorten, die Tübingen ausgewählt hat, um qualitätsvollen Wohnraum für Geflüchtete als Alternative zu den sonst üblichen Containeransammlungen am Stadtrand zu realisieren. Nach dem sogenannten Konzeptverfahren bietet die Stadt Grundstücke – auch in so hervorragenden und teuren Lagen am Neckar – weit unter dem aktuellen Marktpreis an. Kaufen darf, wessen Konzept überzeugt. Hier setzte sich Wolle+ gegen 40 Mitbewerber mit Plänen durch, die sich unter dem Begriff »Verbindung« zusammenfassen lassen.

Der Name der Baugemeinschaft Wolle+ setzt sich zusammen aus Wohnen für alle, das Plus steht dafür, dass es um mehr als nur Wohnen geht. Initiator ist der Wohnsoziologe Gerd Kuhn. Gemeinsam mit dem sozialen Träger kit jugendhilfe und den zukünftigen Eigentümern planten die Architekten der Büros Yonder und SOMAA aus Stuttgart das Projekt.

Mit Konzept

Ziel war es für die Beteiligten, eine Vielfalt zu schaffen, die sowohl soziale als auch kulturelle Durchmischung innerhalb einer Wohnanlage ermöglicht. Für Menschen unterschiedlicher Herkunft, egal ob geflüchtet oder nicht, mit mehr oder weniger Einkommen und aus verschiedenen sozialen Schichten sollte ein Zuhause mitten in der Stadt angeboten werden. Zusätzlicher Wunsch war es, dass sich eine Verbindung zwischen den Bewohnern der herrschaftlichen Häuser am Hang und den Anwohnern der anderen Neckarseite entwickelt, die geprägt ist von ärmeren Verhältnissen, Arbeitslosigkeit und Migration. Diese Verbindungen sollen mit den Angeboten im benachbarten Brückenhaus wachsen: Im EG befinden sich dort auf 165 m² ein Nachbarschaftstreff mit Café und Raum für Begegnung. Im OG wird Wohnen für Alleinerziehende angeboten. Das Brückenhaus wird vom kit betreut.

Die Idee für das »Haus am Park« – so der offizielle Name des Gebäudes –: Die Wohnungen sind in den ersten 10-15 Jahren sozial gebunden, d. h. die Stadt Tübingen mietet die Räume von den Eigentümern und stellt sie Geflüchteten zur Verfügung. Lediglich die Wohnungen im oberen Geschoss nutzen die Besitzer bereits selbst. Dafür fiel ihr Anteil an den Baukosten entsprechend höher aus.

So sind 12 Einheiten entstanden, auf jeder Etage drei: Im EG gibt es kleine Wohnungen für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete, vom kit betreut. In den beiden Geschossen darüber finden geflüchtete Familien mit bis zu sechs Personen Platz und im 3. OG stehen Apartments unterschiedlicher Größe zur Verfügung, mit einem exklusiven Zugang zu den Dachterrassen.

Der Planungsprozess erforderte von allen Beteiligten enorm viel Geduld und Kompromissbereitschaft, galt es doch, die Wünsche der einzelnen Wohnungseigentümer, des sozialen Trägers, die Vorgaben für Flüchtlingsunterkünfte und die Anforderungen zweier Nutzungszyklen unter einen Hut zu bekommen. Außerdem waren bei diesem Projekt zwei Architekten-Teams – Yonder und SOMAA – für den Entwurf verantwortlich, Ausschreibung und Bauleitung übernahm ein dritter Planer und das zum Konzept gehörende Brückenhaus entstand aus der Feder eines vierten Architekten.

Im Rahmen des knappen Budgets planten die Architekten ein hohes Maß an Vorfertigung ein. So reduzierte man die Tragstruktur auf ein absolutes Minimum. Lediglich die Umfassungswände und der Treppenhauskern mit Aufzug sind tragende Bauteile. Die Außenwand wird mit den vor Ort errichteten Sichtbetonwänden mehr als 40 cm dick. Sie setzt sich aus Betonhalbfertigteilen zusammen, mit einer inneren Schale von 6 cm, einer Dämmschicht von etwa 18 cm und einer äußeren Schale von 7-10 cm. Die unterschiedlich dicken Außenschalen ergeben in der Fassade ein prägnantes Spiel aus Vor- und Rücksprüngen. Während die horizontalen Fugen der Geschosse durchlaufen, variieren die Betonelemente im klaren Raster von 1,20 m in ihrer Tiefe um 3 cm. Diese Unterschiede in der Schichtdicke ließen sich ohne zusätzlichen Aufwand bei der Vorfertigung herstellen. Die Fensterlaibungen waren bereits in den Fassadenelementen integriert, ebenso die Schlitze für Elektro-, Heizungs- und Sanitärinstallationen. Das UG wurde wegen der Nähe zum Neckar als Weiße Wanne ausgebildet. Dort findet sich z. B. der Fahrradkeller.

Alle innenliegenden Wände sollen beim Wechsel der Nutzung nach jenen 10 oder 15 Jahren bei Bedarf unkompliziert entfernt werden können. Sie entstanden deshalb in Trockenbauweise. Für diesen geplanten Rückbau mussten die Architekten jedoch auch jetzt schon die Leitungsführung berücksichtigen, damit nicht später an den falschen Stellen Kabel aus der Decke hängen oder Wasseranschlüsse mitten im Raum stehen. So kann dann z. B. aus einer großen Sechszimmereinheit ein Loft entstehen oder die Mikroapartments im EG lassen sich für eine WG zusammenfassen.

Jede Wohnung verfügt über einen wirklich großen, mehr als 2,5 m tiefen Balkon, der mittels Isokorb an den Decken befestigt ist. Sie orientieren sich nach Süden zum Neckar hin und fungieren als privater Freiraum für jede Familie. Als Balkonbrüstung dient ein weiß lackiertes, gelochtes Wellblech, wodurch Ausblicke möglich sind, Einblicke jedoch stark reduziert werden. Dadurch bleibt die Privatsphäre der Bewohner gewahrt und das Sammelsurium der Balkonmöbel, Grills oder Wäscheständer gut versteckt. Die gleichen Bleche schieben sich als Sichtschutz vor das Treppenhaus und die Wirtschaftsräume auf der Straßenseite neben dem hohen Eingang. Grün gesprenkelte Terrazzoböden führen dort zum Aufzug mit seinen dunkelgrün lackierten Türen. Die hellen Geländer, der nahezu samtig wirkende Beton und das Licht, das durch die großen Fenster einfällt, vermitteln eine freundliche und willkommen heißende Atmosphäre.

Die Ausstattung der Wohnungen ist in allen Geschossen gleich: Sichtbetonwände und -decken, Industrieparkett, weiße Trennwände. Bodentiefe Fenster sorgen in allen Räumen für viel Licht. Um den Bewohnern im DG für ihre höheren Investitionskosten einen Mehrwert zu bieten, verfügen sie über einen exklusiven Zugang zur Dachterrasse, von der aus sich ein weiter Blick über Neckar bietet. Das Leben auf den Balkonen, die Menschen, die den Raum um das »Haus am Park« nutzen, all das lässt hoffen, dass solch ein Konzept zu gelungener Integration führt.


Die Bewohner nutzten das herrliche Spätherbstwetter und bevölkerten ihre Balkone, als die Redakteurin Petra Ralle dort zur Besichtigung ankam. Nicht nur auf den Bildern wirkt die Fassade nahezu samtig, trotz ihres harten Materials.


  • Standort: Werkstraße 6, 72074 Tübingen

    Bauherr: Private Bauherrengemeinschaft Wolle+, Tübingen
    Architekten: Yonder – Architektur und Design, Katja Knaus und Benedikt Bosch, Stuttgart; SOMAA – Gesellschaft für Architektur & Design, Tobias Bochmann und Hadi A. Tandawardaja, Stuttgart
    Projektleitung: Tobias Bochmann, Katja Knaus
    Mitarbeiter: Benedikt Bosch, Florian Hagmüller, Felix Krummlauf, Tina Pal, Eva Ruof, Lea Single, Hadi A. Tandawardaja
    Projektentwicklung: Dr. Gerd Kuhn, Tübingen
    Tragwerksplanung: Ströbel Bilger Mildner Ingenieure, Tübingen
    HLS-Planung: Ingenieurbüro für nachhaltige Gebäude und Energietechnik Georg Armbrust, Tübingen
    Ausschreibung, Bauleitung: Bernd Wezel, Tübingen
    BGF: 1 726 m²
    BRI: 4 767 m³
    Bauzeit: Mai 2018-Januar 2020

Yonder – Architektur und Design


Katja Knaus

Architekturstudium an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und an der ETSAB, Barcelona. 2000-01 Mitarbeit bei Behnisch Architekten. Seit 2004 verschiedene Lehraufträge. Seit 2011 Büro mit Benedikt Bosch. Seit 2018 Professur an der Akademie der Bildenden Künste München.


Benedikt Bosch

Architekturstudium an der Universität Stuttgart und an der University of Oregon, USA. Mitarbeit bei Behnisch Architekten. Seit 2010 verschiedene Lehraufträge. Seit 2011 Büro mit Katja Knaus. Seit 2019 Vertretungsprofessur an der HFT Stuttgart.


SOMAA – Gesellschaft für Architektur & Design


Hadi A. Tandawardaja

Architekturstudium an der Universität Stuttgart und der EPFL, Lausanne. Mitarbeit in verschiedenen Büros in Spanien und Deutschland. 2007-20 Büro mit Tobias Bochmann. Lehraufträge an der Universität Stuttgart und der Hochschule für Gestaltung, Schwäbisch Gmünd.


Tobias Bochmann

2007-2020 Büro mit Hadi A. Tandawardaja. Seit 2021 eigenes Büro. Vertretungsprofessur an der Akademie der Bildenden Künste München.


Petra Ralle (-ra)

Studium Architektur und Städtebau an der Universität Stuttgart, 2001 Diplom. 1999-2004 freie Mitarbeit bei der db. 2004 Gründung der Firma stagedress. Seit 2009 freie Mitarbeit bei frei04 Publizistik, seit 2015 bei db-Metamorphose.

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