Architekten: LAN
Tragwerksplanung: CTE
Kritik: Ursula Baus
Fotos: Charly Broyez, Lorenzo Zandri
Im Januar 2021 trat eine Gebietsreform in Frankreich in Kraft, bei der unter anderem. die Région Grand Est geschaffen wurde. In dieser Region ist Straßburg mit fast 300.000 Einwohnern in der Kernstadt und 760.000 im Umfeld, der aire urbaine, deutlich die größte Stadt. Und sie wächst weiter, weil die gesamte Region als Zentrum europäischer Institutionen – Europarat, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und mehr – an Bedeutung gewinnt und Straßburg als »Hauptstadt Europas« anzusehen ist. Zu ihr gehören 15 Stadtteile, so auch Neudorf im Südosten des Zentrums auf halber Strecke nach Kehl. 2011 startete in Straßburg das epochale Projekt »deux rives«: Auf 250 ha sollen unter anderem 9.000 Wohnungen entstehen, wobei das Gebiet zwischen Straßburgs Zentrum und Kehl umstrukturiert wird. Planerisch weitsichtig ging dem Transformationsprozess eine Veränderung der Infrastruktur voraus, indem neue Straßenbahnlinien angelegt wurden, etwa nach und durch Neudorf, seit 2017 sogar über die Grenze und den Rhein nach Kehl. Dem ÖPNV wird in Frankreich eine weit höhere Bedeutung beigemessen als in Deutschland. Und weil Straßburg zu den fahrradfreundlichsten Städten Frankreichs gehört, kamen dabei auch die Drahteselwege nicht zu kurz.
In Neudorf liegt nun eine Art urbane Insel, eine île urbain auf dem Ilot ZD6, das nach dem benachbarten Friedhof »Saint-Urbain« benannt ist. Im Westen vom Parc de l’Étoile, im Osten vom Friedhof, im Süden von der Avenue Jean Jaurès und im Norden von der Avenue du Rhin begrenzt, kann man bei Saint-Urbain tatsächlich von einer isolierten Lage sprechen. Immerhin ist der Verkehr so diszipliniert, dass man fußläufig die Umgebung erreicht, ohne in Unterführungen verbannt zu werden. Mit acht unterschiedlich hohen Baukörpern ist Saint-Urbain nun sehr dicht, funktional sehr gemischt und sehr farbig bebaut worden.
Auf einer Nutzungsfläche von über 21.500 m² fanden hier 178 Wohnungen, ein Hotel, einige Büroflächen und in den EGs Handel und Gastronomie Platz. Die Heterogenität des Raumprogramms packten die Architekten ungeachtet funktionaler Besonderheiten in die acht einander ähnelnden Baukörper, sodass die Nutzungsvielfalt in den gerasterten Fassaden mit weitgehend gleichformatigen Fenstern kaum zu erkennen ist. Büros und Hotelzimmer, kleine und große Wohnungen mit und ohne Loggien sind einer stadtrelevanten Ordnung unterworfen, die in Frankreich eine lange Tradition hat, aus Baron Haussmanns Paris ins globale Bewusstsein gelangte und auch in Straßburgs Zentrum faktisch präsent ist. Allerdings ist das Terrain Saint-Urbain nicht als geschlossene Blockrandbebauung konzipiert, sondern in die erwähnten acht Baukörper unterschiedlicher Höhe gegliedert. Sie lassen als Ensemble eher an ein kleines Manhattan denken. Ein intimer Hofbereich entsteht immerhin dadurch, dass auf EG-Niveau eine Garage Platz gefunden hat, deren Dach als quartiersinterne, halbprivate Fläche begrünt ist und eine Aufenthaltsqualität aufweist, die ausschließlich den Bewohnern vorbehalten bleibt.
Farbe stiftet Identität
Die Fassaden signalisieren durch ihre Gleichförmigkeit eine Art Gleichheit der dahinter liegenden Räume – die aber nur im Sinne einer Zusammengehörigkeit interpretiert werden soll. Zu dieser gleichförmigen Ordnung gehören traditionell die vertrauten, bodentiefen Fenster an den Straßenfassaden, die nun eins der beiden Gestaltungsmotive des Ilot ZD6 bilden, die Dominanz der Farbe das andere. Die konsequente Farbgebung intensiviert die skulpturale Wirkung der unterschiedlich dimensionierten Gebäude und beschert reizvolle Durchblicke und Lichtverhältnisse. Die Farben verleihen den Baukörpern im Einzelnen und dem Ensemble in der Gesamtwirkung auch ein bemerkenswertes Maß an Identität.
Die Gebäudefarben, so die LAN Architekten, korrespondieren im Sinne Josef Albers’ miteinander. Josef Albers (1888-1976), der einflussreiche Lehrer am Weimarer Bauhaus, war 1933 in die USA geflohen und hatte dort an der Kunsthochschule Black Mountain College unterrichtet; zu seinen Schülern gehörten Robert Rauschenberg, Donald Judd und Cy Twombly. Berühmtheit erlangten Albers’ Experimente mit der farbig zauberhaften »Homage to the Square« aus den frühen 1950er Jahren und das 1963 erschienene Buch »Interaction of Color«: Auf derart intensive Farbwirkungen rekurrieren auch die Architekten hier bei ihrem Straßburger Projekt. Ihre Farbauswahl bezieht sich auf Nuancen aus der Nachbarschaft – etwa mit dem Braun des Hotels auf die gegenüberliegende Cité de la Musique et de la Danse oder mit einem hellen Blau auf das Eingangsgebäude zum Friedhof. Außergewöhnlich ist, wie radikal die Farbgebung die Architektur dominiert. Wandflächen, Türen, Fensterrahmen und -sprossen, Loggiengeländer – jegliche Materialität verschwindet hinter der hervorstechenden Farbe, auch wenn es leichte Unterschiede in den Tonwerten etwa zwischen Holzbeize (Keim) und Fassadenfarben (RAL) gibt. Die Anpassung an die jeweilige Baukörperfarbe geht sogar so weit, dass Stühle eines Bistros im Außenbereich die Farbe seines Hauses haben und sich der Ton auch ins Innere hineinzieht: Foyerwände, Briefkästen und Geländer entsprechen den jeweiligen Gebäudefarben. In den EGs wird ohnehin keine Farbvielfalt geduldet; die Wandflächen für Restaurant- oder Ladennamen sind klein und nur dezent bestückt. Leuchtreklame und Markenpräsenz bleiben tabu. Das ist per se angenehm und tut der Urbanität des Ensembles keinen Abbruch.
Gebäudeformen und -größen sowie die Farbintensität erzeugen im flachen Straßburg einen von der Ferne erkennbaren Orientierungspunkt. Von den Straßen und Straßenbahnlinien aus betrachtet bleiben ein Ort, eine Adresse im (Bild-)Gedächtnis; eine semiotische Bedeutung der Quartiersilhouette als Signet der Stadttransformation ist nicht auszuschließen. Denn das Farbenspiel auf der île urbain findet seinesgleichen in Straßburg nicht und wird es auch kaum bekommen. Die farbige Skyline hat also das Zeug zur Landmark.
Schließlich stellt sich die Frage, ob einem die Farbe des jeweiligen Hauses, in dem man sein Zuhause oder seinen Arbeitsplatz findet, auch gefällt. Das ist schwer zu beantworten, denn Farbvorlieben gehören zu den Geschmacksfragen. Sucht man nach Namen für die Farben, lassen sich Wertungen schon nicht vermeiden: Lind-, Reseda- oder Salbeigrün? Terrakotta oder Aubergine? Lila, Flieder oder Pink? Türkis oder Mint? Im Ganzen ein Sortiment aus Bonbon-Farben? Die Wertigkeit der einzelnen Töne wird sich auch in ihrer Namensgebung im Alltag spiegeln.
- Standort: Route de Vienne – Rue de la Colonne ZAC Étoile, block ZD6, F-Straßburg
Architekten: LAN, Paris
Projektmanagement: LAN, Paris; TOA, Straßburg
Tragwerksplanung: CTE, Straßburg
Raumprogramm, Bauherren und Flächen: Haus A: 62 geförderte und frei finanzierte Wohnungen; Bauherr: Stones & Territories; Fläche: 4.248 m²
Haus B: 30 Einheiten „Wohnen auf Zeit“; Bauherr: CDC Habitat;Fläche: 1.726 m²
Haus C: 23 Einheiten „Wohnen auf Zeit“; Bauherr: Domial; Fläche: 1.245 m²
Haus D: Büros; Bauherr: Domial / Housing Action; Fläche: 2.756 m²
Haus E: 22 geförderte Wohnungen; Bauherr: Ophea; Fläche: 1.576 m²
Haus F: 24 geförderte Wohnungen; Bauherr: Domial; Fläche: 1.638 m²
Haus G: 17 geförderte Wohnungen; Bauherr: Domial; Fläche: 1.224m²
Haus H: 4-Sterne-Hotel mit 123 Zimmern; Bauherr: Naos; Fläche: 4.860 m²
Einzelhandel und Gastronomie in den EGs: 2.269 m²
Tiefgarage mit 211 Stellplätzen - Beteiligte Firmen:
Verglasung: Saint-Gobain Glass Deutschland, Stolberg
Fassadenfarbe: KEIMFARBEN GmbH, Diedorf
LAN
Benoit Jallon
Architekturstudium an der École Nationale Supérieure d’Architecture de Paris-La Villette, 2001 Diplom. 2002 Büro mit Umberto Napolitano.
Umberto Napolitano
Architekturstudium an der Università Federico II und École Nationale Supérieure d’Architecture de Paris-La Villette. 2002 Büro mit Benoit Jallon. Professur an der Columbia University, New York und der AA School of Architecture, London.
Ursula Baus
Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Saarbrücken. Architekturstudium in Stuttgart und Paris. Promotion. 1989-2004 Redakteurin der db, seit 2004 frei04-publizistik mit Christian Holl und Claudia Siegele. 2004-10 Lehraufträge in Biberach und Stuttgart. Ab 2010 im wissenschaftlichen Kuratorium der IBA Basel 2020. Seit 2017 Mitherausgeberin des Magazins www.marlowes.de.