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Was lange währt, wird besser

Quartier de La Réunion im 20. Arrondissement von Paris (F)
Was lange währt, wird besser

Paris, nahe den Metro-Stationen Avron oder Marachaires: Man glaubt sich in einem anderen Paris, in einem Paris der Vorstädte und Arbeitersiedlungen, weit entfernt von der mondänen Glitzerwelt und den gerade angesagten Quartieren der Metropole. Hier wird seit 15 Jahren eine sanfte Quartierserneuerung praktiziert. Es entstand unter intensiver Bürgerbeteiligung eine Architektur, die sensibel auf den Ort eingeht, ein Ansatz, der Renovierung und Neubau gekonnt zusammenführt. Das negative Renomee des Viertels verändert sich und trotz aller gegenteiliger Intentionen wird die eingesessene Bevölkerung verdrängt.

    • Architekten: Bernard Bourgade (Koordination), Franck Hamouttène, Daufresne, Laverdant und Lagarrec, Emmanuelle Colboc, Philippe Prost, TOA architectes, Edouard François und andere

  • Kritik: Wilhelm Klauser Fotos: Stephan Lucas, Frédéric Delangle, Patrick Tourneboeuf, David Boreau
Der Bereich, von dem hier die Rede ist, trägt seine Vergangenheit noch im Namen: Die Rue des Vignerons, die Straße der Weinberge, durchzieht das Quartier oder die Rue des Haies, die Straße der Hecken. Es muss ein rechter Fusel gewesen sein, der auf dem leicht nach Süd-Osten abfallenden Gelände angebaut wurde. Aber die Landwirtschaft hat dem Areal ein Gesicht gegeben, das bis heute dominiert. Durch fortgesetzte Erbteilung entstanden lange, schmale Parzellen, die von der Straße aus erschlossen werden. Stiche, die zwischen 1,2 und 4,5 Meter breit sind, führen von den Straßen aus in die Tiefe. Diese Gassen werden gesäumt von schmalen Gebäuden, die selten höher sind als drei Geschosse: Schlechte Substanz, keine Belle Etage, kein Stuck und keine großen Portale. Stattdessen führen Schlupftüren von den Stichen in die Häuser. In manchen der Gassen stellt sich das Areal mit zerfallenden Häusern und Graffitis sogar noch so dar, wie es gewesen ist, vor 15 Jahren: ein Quartier vor dem Kollaps. Das Quartier de La Réunion, von dem hier gesprochen wird, war verrufen. Aber es hatte Charakter.
Urbanismus und DigiCode
In den letzten Jahren ist viel geschehen. Offiziell wurde das städtebauliche Projekt »La Réunion« im letzten Jahr abgeschlossen. Angefangen hatte es – symbolische Geste – mit dem Bau eines Parks, dem Jardin Casque d’Or. Der Landschaftsplaner Alain Marguerite errichtete ihn 1993 an der Stelle ›
› einer ehemaligen Schokoladenfabrik, und er konnte ihn 2006 nochmals erweitern. In der Folge sind 58 000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche entstanden, 677 Wohneinheiten wurden von verschiedenen Architekten in Neubauten und renovierten Häusern realisiert, darunter finden sich auch zwei Studentenwohnheime. Es gibt zwei neue Schulen, die 1992 von Franck Hamouttène und 2003 von den Architekten Daufresne, Laverdant und Lagarrec errichtet wurden. Mit dem Zuzug junger Bewohner musste ein Kindergarten gebaut werden (2002, Emmanuelle Colboc). 2007 entstand in umgebauten Produktionsbetrieben ein Gründerzentrum (FFL-Architects), eine Jugendbibliothek wird demnächst fertiggestellt: Eine sorgfältig abgestimmte, kleinteilige Umgebung in einer großen Stadt ist entstanden, die sich über mehr als zwanzig Jahre entwickelt hat und die dem koordinierenden Architekten Bernard Bourgade seit 1989 wohl manche schlaflose Nacht beschert hat. Dass die Umsetzung außerordentliche Moderatorenleistungen verlangte, ist dem Areal heute nicht mehr auf den ersten Blick anzusehen. Insbesondere die letzten Wohnungsbauten im Areal, die 2004 von Philippe Prost zwischen der Rue des Pyrénées, der Passage Dagorno und der Rue des Haies realisiert wurden, zeigen, dass sich die Anstrengungen gelohnt haben. Zwischen sanierten Altbauten fügen sich unauffällig neue Gebäude ein, die die Maßstäblichkeit wahren und trotzdem eine moderne und zeitlose Architektursprache sprechen. 1997 bereits war der Architekt, der bis dahin insbesondere mit der sensiblen Renovierung denkmalgeschützter Substanz hervorgetreten war, mit einer ersten Studie beauftragt worden. Im Verlauf der folgenden zwei Jahre entwickelte sich in langen Diskussionen und Abstimmung zwischen Stadt, lokalen Interessenverbänden und Bürgern ein erster Massenplan, der explizit einen neuen Umgang mit lang gestreckten, schmalen Grundstücken vorschlägt. Vorteilhaft war, dass Bourgade in diesem Areal keine scharfen Baugrenzen vorgab, sondern lediglich die Flächen vorschrieb, die der Architekt zu errichten hatte. Prost war also weitgehend frei in der Art und Weise, wie er die Gebäude anordnete, und er hat von dieser Freiheit profitiert. Durch die Bereitschaft, sich auf die Eigenheiten des Standorts einzulassen, war es möglich, die Kapazität des Areals zu erschließen und jenseits der innenstadttypischen Blocktypologie, die das Bauen in Paris dominiert, neue Vorschläge zu machen. Das Ergebnis überzeugt. Die Gebäude fügen sich unauffällig zwischen renovierten Häusern ein, die wie selbstverständlich in das Gesamtensemble integriert wurden. ›
› Material, Fensterformate oder auch Rhythmus der angrenzenden Bebauungen werden aufgenommen: Eine diskrete aber durchaus moderne Lösung, die dem Quartier angemessen ist. Zwischen den Gebäuden gibt es gut proportionierte und gut belichtete Freiflächen, die als halböffentlicher Raum von hoher Aufenthaltsqualität sind und offensichtlich gut angenommen werden.
Das Entstehen solch qualitativ hochwertiger Umgebungen spricht sich natürlich herum. Das 20. Arrondissement, in dem mehrere Quartierserneuerungen ablaufen, wird Opfer seines eigenen Erfolgs. Die Verdrängung einer alten Bevölkerung erfolgt schnell, auch wenn im Quartier Réunion vorwiegend Sozialwohnungen entstanden. Die äußeren Zeichen sind nicht zu übersehen. In Paris leben kann man nur noch mit viel Geld. Vor den schmalen, renovierten Stichen stehen häufig unüberwindliche Gittertore. Paris ist die Hauptstadt des Digicodes: Wer den Zahlencode vergessen hat, kommt nicht rein. Ein Blick in die Fenster der Immobilienhändler auf den angrenzenden großen Boulevards zeigt horrende Preisvorstellungen: Verzeichneten die Makler 2001 noch Quadratmeterpreise von 2300 Euro, so liegen die Angebote heute bei ungefähr 4100 Euro. Die zu kleinen Einzelhandels- und Gewerbelokale, die in den Erdgeschossen vorgesehen sind, stehen leer.
Es war einmal …, es wird einmal …
Der Planungsprozess für das Quartier war extrem langwierig und schwierig. Anfang der achtziger Jahre war das Gebiet – Folge über Jahrzehnte andauernder Vernachlässigung – in einem Stadium des umfassenden Verfalls angekommen. 1987 schließlich wird auf 5,5 Hektar eine ZAC eingerichtet. Eine »Zone schwerpunktmäßiger Entwicklung« gibt der Stadt weitreichende Durchgriffs- und Koordinierungsmöglichkeiten, um Maßnahmen, die im allgemeinen Interesse sind, zu beschleunigen. Mit der Durchführung werden als Bauherrenvertreter von der Stadt Paris zunächst die SEMAER St. Blaise und später die SEMAVIP betraut, Gesellschaften der Stadt, die auf die Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen spezialisiert sind und über große Erfahrung verfügen. Aber zunächst haben alle guten Vorsätze keinen Erfolg, denn die ZAC ist ein Instrument, um große Flächen umzuwidmen und sehr schnell zu bebauen und dort erfolgreich, wo großflächige Strukturen vorliegen. Der seltsam zerfaserte Umriss des Gebiets zeigt aber bereits, dass hier andere Voraussetzungen und äußerst komplizierte Besitzverhältnisse herrschen. In Réunion scheitert der Ansatz allerdings nicht nur an den differenzierten Rahmenbedingungen, sondern auch an dem prekären Umfeld, das dem baulichen Niedergang eigene Formen des sozialen Zusammenhalts entgegensetzte. Vielfältige Interessengruppen wehrten sich verbissen gegen die vorgeschlagenen Maßnahmen, die von oben nach unten dekretiert wurden. Gegenvorschläge der Bevölkerung unterminierten ›
› den Versuch, größere zusammenhängende Grundstücke herzustellen, die als eine Voraussetzung für die Aufwertung angesehen wurden. Über Monate hinweg kampieren Familien, die im Zuge der Neubaumaßnahmen ihre Wohnungen verloren haben, aus Protest im neuen Park.
Erst 1991, mit der Wahl des Sozialisten Bertrand Delanoë ins Bürgermeisteramt, kommt Bewegung in die Sache. Als nach den Wahlen von 1995 weitere fünf Arrondissements an die Sozialisten und Grünen fallen, wird es leicht. Jetzt ist nicht mehr nur der Totalabbruch angesagt, sondern auch der Erhalt und die Renovierung von Gebäuden. Zunächst aber müssen Dialogformen gefunden werden, um ein für Planung unerlässliches Vertrauensverhältnis wiederherzustellen. Dies gelingt durch viele Zugeständnisse, und die Planungen werden nun mit enger Bürgerbeteiligung vorangetrieben. Der Erhalt von Gebäuden bedeutet, dass sich die ursprüngliche, kleinteilige und schmale Parzellierung als Gestalt prägend etabliert. Der existierende Bebauungsplan, der Blöcke vorschlug, die sich um einen Innenhof organisierten, ist nicht mehr durchzusetzen. Stattdessen entsteht nun ein über die ganze Fläche hinweg eng verwebtes, kleinteiliges Gefüge, das die Struktur des Gebiets fortschreibt. Die höheren Kosten, die eine weniger tiefe Bebauung bedeutet, führen dazu, dass sich plötzlich auch Renovierungen wieder rechnen. Es entstehen, mitten in Paris, maximal drei- bis viergeschossige Gebäude und kleine Reihenhäuser, die in vielen Wohnungen sogar das Durchwohnen zulassen und die gleichzeitig auf eine große funktionale Durchmischung ausgelegt sind. Den Wegfall von Grünparzellen, die im Verlauf der Jahre auf verfallenen Grundstücken entstanden waren und die von der Bevölkerung als hoher lokaler Wert und Identifikationspunkt angesehen wurden, kompensiert ein 2006 nochmals vergrößerter, öffentlicher Garten, der mangels Alternativen von Kindergärten und Schulen gut angenommen wird. Kindergarten, Grundschule, Bolzplätze entstehen: Das Arsenal der sozialen Befriedung wird in seiner ganzen Breite ausgerollt, schließlich handelt es sich um eine Operation in Paris … plötzlich lässt sich scheinbar alles durchsetzen, die Begeisterung ist groß, der Erfolg garantiert.
Der sensible Umgang mit dem Quartier, der nicht nur Rücksicht auf charakteristische Parzellenzuschnitte nimmt, sondern auch hinsichtlich einer Durchmischung neue Ansätze sucht, strahlt natürlich aus. Die angrenzenden Gebiete werden ebenfalls als Zonen mit besonderem Entwicklungsbedarf ausgewiesen. 2008 wird, in Vignoles-Ost nach einem gewonnenen Wettbewerb, durch TOA-Architekten eine neue Sporthalle fertiggestellt. Die große Masse der Halle ist unauffällig hinter neuen Wohnbebauungen versteckt, die hausbacken daherkommen und konservative Grundrisse haben. Die 47 Einheiten werden im Frühjahr 2009 bezogen werden. Zweiseitig orientiert, werden sie überwiegend über außenliegende Treppen und Laubengänge erschlossen. Nur manchmal lässt sich von der Straße ein Blick auf die harte Streckmetallfassade und eine transluzente Glaswand der Sporthalle hinter den Wohnhäusern erhaschen, die durch eine andere Materialität die großformatige Nutzung kennzeichnen. Auf dem Dach der Sporthalle, das über eine außenliegende Treppe erreicht wird, entsteht ein Lehrgarten für das Quartier. Zwischen die Träger, die über 24 Meter spannen, werden Becken eingehängt, die die notwendige Krume für den Bewuchs aufnehmen. Das ist die ferne Referenz an die wilde, grüne Guerilla, die auf dem Grundstück seit 2000 einen ungenehmigten Quartiersgarten unterhalten hatte und sich erst nach zähem Widerstand zurückzog. Ob solch ein Konzept des halböffentlichen Dachgartens funktioniert, das darf allerdings bezweifelt werden, politisch jedenfalls ist es ein schlagendes Argument. Viel wird nun davon abhängen, ob diese Einrichtung von den Bewohnern des Quartiers aktiv bespielt wird. Noch lässt sich das aber nicht absehen. Der allgegenwärtige Digicode spricht eher eine andere Sprache und deutet auf Individualisierung und Rückzug der Bewohner aus der Öffentlichkeit hin. Die Überlagerung nicht kompatibler Nutzungen, die in diesem Projekt vorgeschlagen wird, schreibt den Wunsch nach einem Erhalt der Vielgestaltigkeit des Quartiers fort, eine Qualität, die in einem PLU – einem »lokalen Plan für Urbanismus« – vorgegeben ist. Die Aufstellung solch sorgfältiger Abstimmungsplanungen auf Quartiers- oder interkommunaler Ebene ist seit 2000 in Frankreich bindend. Existierende und oftmals überholte Flächennutzungspläne werden damit auf den aktuellen Stand gebracht. Einerseits ist solches Vorgehen zu begrüßen, gleichzeitig aber verhindert der damit verbundene Verhandlungsaufwand häufig auch Innovationen und bürgt keineswegs für Qualität.
Edouard Francois realisiert 2009, ebenfalls unmittelbar neben dem Quartier in Vignoles-Ost, eine neue Bebauung fertig, die den Betrachter sprachlos macht. Bekannt für seine exzessive Bepflanzungsfreude realisiert er zwei Reihen ziegelgedeckter, kleiner Reihenhäuser mit Miniaturgärten, die in ihrer Maßstäblichkeit vollkommen aus dem Rahmen fallen. Normierte Blumentöpfe harren der Bepflanzung durch die Mieter von Wohnungen und Ateliers. Einige Apfelbäume spielen Landwirtschaft. Zwischen diese Vorstadttypologie schiebt sich ein langer Riegel mit Sozialwohnungen. Das sanft abgetreppte Betonregal erschließen über drei Geschosse große, außenliegende Freitreppen. Vor die billige Metall-Elementfassade der durchgesteckten Wohnungen ist auf beiden Seiten eine zweite Schicht aus Lärchenholzbrettern genagelt, die dem Ensemble den Charme einer Notsiedlung verleiht: Trümmerchic, den dermaleinst ein grüner Mantel zieren soll. Die städtebaulich überzeugende Grundidee, die sich an der Linearität der Parzelle ausrichtet, ist in der Durcharbeitung gescheitert und orientiert sich stattdessen an den Prämissen der Medienwirksamkeit. Ein enttäuschend populistischer Vorschlag, der keineswegs die Qualität der Gebäude erreicht, die in der ZAC Réunion realisiert wurden. •
  • Bauherr: OPAC (Office Public d’Aménagement et de Construction de Paris) Architekten: TOA architectes, Montreuil / Schiltigheim Partner: Paysage & Lumière, Paris Tragwerksplanung: EVP, Paris Projektsteuerung: MDetc, Paris Nachhaltigkeit: Isabelle Hurpy Etudes Environnementales, Montreuil Gesamtfläche: 3630 m² (Wohnen), 1650 m² (Sporthalle) Baukosten: 7,3 Mio. Euro (ohne MwSt.) Erstellungskosten: 1595 Euro/m² Wohnraum Fertigstellung: Wohnungen: April 2008, Sporthalle: Juni 2008, Garten: Januar 2009
  • Bauherr: R.I.V.P. (Régie Immobilière de la Ville de Paris) Architekten: Agence d’Architecture Philippe Prost, Paris Mitarbeiter: Dominique Blanchon (Projektleitung); Rémy Pottier, Jindriska Bauerova Baubetreuung: Semavip (Société d’économie mixte de la Ville de Paris) Bauzeit: Teil D2: Juni 2001 bis Dezember 2002; Teil D1: Januar 2003 bis Mai 2004 Bruttogrundfläche: Teil D1: 2200 m²; Teil D2: 4500 m² Baukosten: 7,3 Mio. Euro, netto (1090 Euro/m² BGF)
  • Beteiligtes Unternehmen: Generalunternehmer: Bouygues Construction, St-Quentin-en-Yvelines, www.bouygues-construction.com (für beide Projekte)
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