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Von der Grau- zur Grünzone

Neubau Wohnsiedlung Werdwies in Zürich (CH)
Von der Grau- zur Grünzone

Als Siedlung Bernerstrasse war sie ein sozialer Brennpunkt, dann entschloss sich die Stadt zur Radikalmaßnahme des Abrisses und für einen kompletten Neubau. Als Siedlung Werdwies ist sie heute ein Ort, an dem Familien sehr gut leben können. Und der frei und offen gestaltete Außenraum bereichert als neues Zentrum nicht nur die Siedlung, sondern wirkt sich positiv auf ein insgesamt nicht unproblematisches Quartier aus. Die neuen Wohnungen sind doppelt so groß wie die alten und beglücken preisbewusste Pragmatiker wie ästhetisch Anspruchsvolle gleichermaßen.

    • Architekten: Adrian Streich Architekten Tragwerksplanung: APT Ingenieure

  • Kritik: Axel Simon Fotos: Roger Frei, Mara Truog, Andrea Helbling
Eine wenig idyllische Bebauungsinsel im Norden der Stadt Zürich, gerahmt von Autobahn, Flusslauf, Klärwerk, Sport- und Parkplätzen. Diese »Insel« heißt Grünau und war bis vor Kurzem nur durch Unterführungen oder per Fallschirm zu erreichen. Der Filmemacher Fredi Murer hat der Siedlung Bernerstrasse, dem Kern der Grünau, 1979 ein Denkmal gesetzt. Nicht von ungefähr heißt der Film »Grauzone«: Trist war die 1959 billig hochge- zogene Siedlung schon nach zwanzig Jahren. Weitere zwanzig Jahre später waren die Hausfassaden mit ihrem Ausschlag unzähliger Satellitenschüsseln nicht mehr grau, sondern schwarz und ihr Abriss beschlossene Sache.
Der Zustand der 267 kleinen Wohnungen war schlecht, längst genügten sie heutigen Wohnansprüchen nicht mehr. Sie durch halb so viele, im Schnitt aber doppelt so große zu ersetzen, war das Ziel, ein weiteres die Aufwertung des gesamten Quartiers. Die sozial schwache Bewohnerschaft der ehemaligen Siedlung Bernerstrasse, die sich aus über dreißig verschiedenen Nationalitäten zusammensetzte, entlockte Politikern immer wieder das Reizwort Slum – eine sicherlich übertriebene Bezeichnung, doch fehlte eine ausgeglichene soziale Durchmischung, selbst innerhalb des Quartiers war die Siedlung ein stigmatisierter Ort. Nun sollte sie sein städtisches Zentrum werden.
GRÖSSER, SCHÖNER, ÖKOLOGISCHER
Zwar wurden in Zürich in den letzten Jahren bereits einige genossenschaftliche Siedlungen durch Neubauten ersetzt, doch niemals zuvor so viele gemeinnützige Wohnungen auf einen Schlag abgerissen wie an der Bernerstrasse. War der Ersatzneubau in dieser Stadt rund 25 Jahre lang tabu, so greift man heute mehr und mehr zu diesem radikalen Mittel – muss es sogar, denn die meisten Züricher Wohnungen kommen in die Jahre und sind zu kleinräumig für heutige Ansprüche an Wohnraum. Mit einzelnen Verbesserungen wie neuen Balkonen oder einer zusätzlichen Wärmedämmung hat man am Ende oft weder gute Architektur noch wird viel Geld gespart, darum baut man lieber ganz neu.
Doch der Abbruch bestehender Wohnhäuser geht nie ohne Widerstand und Kritik über die Bühne. Denn auch wenn es sich um keine Traumwohnlage handelt, haben sich über die Jahre Nachbarschaften gebildet und die Mieter sich in ihren oft sehr günstigen Verhältnissen eingerichtet, ›
› nicht anders an der Bernerstrasse. Denn im heutigen Zürich findet man kaum noch eine Dreizimmerwohnung für 600 Franken. Die Stadt reagierte auf diese schwierige Situation mit der Einrichtung eines Mieterbüros in der Grünau. Es half den 670 Bewohnern der alten Siedlung erfolgreich bei der Suche nach neuem Wohnraum, am Ende hatten die allermeisten eine Bleibe in Zürich gefunden. Warum nur wenige der ehemaligen Bewohner in die neue Siedlung zurückkehrten, hat seine Gründe: Den meisten waren die größeren Wohnungen einfach zu teuer, ansonsten regelte die Stadt als Vermieterin mit einem obligaten Bewerbungsverfahren die gewünschte neue Durchmischung der Bewohnerschaft.
DIE STADT ALS HAUSBESETZERIN
Während der mehrjährigen Übergangszeit von der Bekanntgabe des geplanten Abrisses bis zum Auszug der letzten Mieter im Januar 2004 wurde die Stadt zur Hausbesetzerin: Die frei werdenden Wohnungen überließ sie mehreren hundert Künstlern und Studenten zur Ateliernutzung. Die »Fuge«, »Europas grösste Künstlerkolonie«, wie die Presse vollmundig schrieb, verhinderte zwar eine Geisterstadt, Vandalismus und »echte« Hausbesetzungen, die Performances, Feuerwerke und durchbohrten Wände der Künstlerbesetzer stießen jedoch bei den verbliebenen Bewohnern in der Regel auf wenig Gegenliebe – sie hatten andere Probleme als sich mit Kunst zu beschäftigen.
Heute steht anstelle der Siedlung Bernerstrasse die Siedlung Werdwies, keine Grau-, sondern eine Grünzone mit frischer Architektur. Ihr Architekt, der heute Anfangvierziger Adrian Streich, gewann den an guten Vorschlägen nicht armen Wettbewerb 2002 und realisierte mit der Siedlung sein erstes großes Projekt. Mittlerweile gilt er als Fachmann für Wohnungsbau unter schwierigen Bedingungen. Seine statt der ehemals 267 nun auf 152 reduzierten, schönen Wohnungen in der Werdwies sind doppelt so groß wie in der Vorgängersiedlung – die meisten von ihnen weisen bei viereinhalb Zimmern 106 bis 112 Quadratmeter auf, die größten mit sechseinhalb Zimmern gar 154 Quadratmeter. Auch die Mieten haben sich verdoppelt, sind aber für Züricher Verhältnisse noch immer günstig, ein Drittel der Wohnungen wird zur angestrebten sozialen Durchmischung für weniger Verdienende subventioniert. Und Schöngeister können sich eines von 28 schallgedämmten Musikzimmern dazumieten. ›
STÄDTISCHER RAUM STATT SIEDLUNGSRAUM
Die sieben neuen Häuser sind mit jeweils acht Geschossen alle gleich hoch. Sie besetzen in drei unterschiedlich großen Typen das Grundstück: Die vier kleinen Häuser öffnen den Raum der Siedlung in Richtung Quartier, das größte bildet wie ein Block den westlichen Schlusspunkt. In diesem Block sitzt über einem erdgeschossigen Supermarkt ein großer, offener Innenhof mit Laubengängen. Bei den mittelgroßen Baukörpern erschließt ein glasgedeckter Lichthof im Zentrum jeweils vier Wohnungen pro Geschoss, die kleinen Häuser sind zweispännig organisiert und besitzen ein Treppenhaus an der nördlichen Fassade – schon dieser Reichtum an verschiedenen Typen belebt den Raum dazwischen. In den hohen Erdgeschossen finden sich öffentliche und gemeinschaftliche Einrichtungen: neben dem Supermarkt ein Bistro, Kindergarten und Kinderkrippe sowie Fahrradräume und Waschküchen, die sich über große Fenster nach außen öffnen, zusätzlich – wie bei gemeinnützigen Siedlungen in der Schweiz üblich – ein Gemeinschaftsraum, außerdem Ateliers und drei Gewerberäume. Tiefe Loggien prägen die Fassaden – bei den kleinen Baukörpern auf der Südseite, bei den beiden größeren Typen im Osten und Westen – und vermitteln auch in den oberen Geschossen zwischen dem Außenraum der Siedlung und den privaten Räumen.
Dieser Außenraum umfließt die neuen Wohnblöcke, die keine definierte Vorder- und Rückseite haben. Bäume und »Rasenkissen« geben der offenen Fläche einen Rhythmus und schieben sich beim Durchschreiten der Anlage wie Kulissen vor die Häuser. Diesen Freiraum definierte der Landschaftsarchitekt André Müller als »städtischen Bewegungsraum« – das nahe Limmatufer dient dem gesamten Quartier als natürliche Grünfläche. Was innerhalb der Grünau fehlte, waren belebte Räume, städtische Räume. So geht der Asphalt der umgebenden Straßen und Gehsteige nahtlos in die Siedlung über, die Erdgeschossfassaden sind aus robustem Beton. In Gruppen gepflanzte Eschen und Erlen, aber auch Exoten wie Tulpenbäume wachsen in großen Baumscheiben aus dem Hartbelag. Mit Eisenträgern gefasst und Schotter gefüllt, funktionieren die Baumscheiben wie überdimensionierte Gullys: Das Regenwasser der gesamten Siedlung sammelt sich hier ›
› und wird versickert. Überhaupt war die Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema: Die Häuser wurden zu achtzig Prozent aus recyceltem Material aus dem Abbruch der Siedlung gebaut, die Wohnungen genügen dem Schweizer Minergie-Standard. Die Konstruktion setzt sich zusammen aus einer tragenden Gebäudehülle in Ortbeton und Mauerwerk und einem tragenden Betonskelett im Inneren. Die meisten Wohnungs- und Zimmertrennwände sind nichttragend ausgeführt. Außer den Erdgeschossfassaden (zweischalig auch aus Beton) und den Loggien (selbsttragende Konstruktionen aus Betonelementen) besteht die Gebäudehülle aus einer verputzten Außenwärmedämmung mit mineralischem Aufbau.
BÜRGERLICHE VORBILDER
Tritt man aus den drei unterschiedlichen Erschließungsräumen in eine Wohnung, steht man zunächst in einer großzügigen Eingangshalle mit Wandschränken, die bei Bedarf auch als Essraum dienen kann. Seitlich gruppieren sich gleichwertige Zimmer, der große Wohn- und Essraum wird von einer riesigen Loggia begleitet. Die Räume sind robust und einfach materialisiert, ihr Vorbild war jedoch der großzügige Zuschnitt bürgerlicher Häuser der Jahrhundertwende.
Die geschundene Grünau besitzt nun ein belebtes Quartierzentrum mit sieben stattlichen Häusern, gepflegten Rasenflächen, öffentlichen Einrichtungen und einem Brunnen des New Yorker Künstlers Ugo Rondinone als Treffpunkt. 500 Bewohner leben in Werdwies, davon die Hälfte Kinder, der Ausländeranteil liegt bei vierzig Prozent, hier wohnt der Gastarbeiter neben dem Chef eines bekannten Kunstbuchverlages. Nicht nur portugiesische, kosovarische oder Schweizer Flaggen schmücken hier die grünen Brüstungen der Balkone, auf jedem der sieben Häuser flattert außerdem eine große Fantasiefahne, installiert vom Genfer Künstler Frédéric Post. Wie eine Neugründung in Übersee liegt nun die Grünau-Insel inmitten von Autobahn, Flusslauf, Industrie und Sportplätzen. Eine neue Fußgängerbrücke führt auch hinüber. Die neue Architektur passt zu diesem Ort: Sie ist robust und pragmatisch, erfüllt aber auch die nicht geringen Ansprüche der Kreativen Zürichs.


  • Bauherr: Stadt Zürich Architekt: Adrian Streich Architekten AG, Zürich
    Team: Adrian Streich, Gerhard Stettler, Bruno Kurz, Roger Frei
    Roman Brantschen, Cristina Gutbrod, Christoph Altermatt, Hans Gritsch, Nicole Gerber
    Bauleitung: Bosshard + Partner AG, Zürich
    Landschaftsarchitekt: Schmid Landschaftsarchitekten GmbH, Zürich
    Bauingenieur: APT Ingenieure GmbH, Zürich Kunst: Ugo Rondinone, New York, Frédéric Post, Genf
    Lichtplaner: Amstein und Walthert AG, Zürich
    Elektroplaner: IBG B. Graf AG Engineering, Winterthur
    Sanitärplaner: ALCO Haustechnik, Zürich
    Heizung- und Lüftungsplaner: Waldhauser Haustechnik AG, Basel
    Bauphysik: Bakus Bauphysik & Akustik GmbH, Zürich
    Geologie: Gysi Leoni Mader AG, Zürich
    Grundstücksfläche : 15 353 m2
    Gebäudevolumen : 100 421 m3
    Anzahl Wohnungen: 152 Geschossfläche : 32 652 m2
    Hauptnutzfläche (gesamt): 19 064 m2
    Hauptnutzfläche Wohnen : 16 615 m2
    Baukosten gesamt (inkl. Abbruch und Freianlagen): 71,3 Mio. sFr
    Kosten Abbruch: 2, 8 Mio. sFr
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