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Jakob-Sigle-Heim in Kornwestheim von wulf architekten

Offen für Veränderung
Jakob-Sigle-Heim in Kornwestheim

Ein Bauherr, der gute Konzepte einfordert und unterstützt, bei der Umsetzung aber geizen muss. Beharrliche Architekten, die im Ringen um Qualitäten den Nutzer im Auge behalten. Ein Ersatzneubau des örtlichen Pflegeheims, der das Zeug dazu hat, als öffentlicher Anlaufpunkt für das gesamte Quartier wahrgenommen zu werden. Ein Spannungsfeld unter hohem Druck mit viel Potenzial.

Architekten: wulf architekten
Tragwerksplanung: Pfefferkorn Ingenieure

Kritik: Achim Geissinger
Fotos: Markus Guhl

Kornwestheim ist keine Perle – so wenig wie die meisten Mittelstädte im Stuttgarter Speckgürtel. Dass man hier gerne wohnt, liegt an der beschaulichen Unaufgeregtheit, viel Grün und an der exzellenten Verkehrsanbindung. Identifikationspunkt und Wohlstandsgarant war etwa 100 Jahre lang die Schuhproduktion, deren Protagonisten, die sozialpolitisch engagierten Brüder Ernst und Jakob Sigle, überall in der Stadt präsent sind. So liegen etwa das nach Ernst benannte Gymnasium (mit einem sehenswerten Erweiterungsbau von D’Inka Scheible Hoffmann Architekten, 2015) und das nach Jakob benannte Wohn- und Pflegeheim in fußläufiger Entfernung zum Jakob-Sigle-Platz, der guten Stube der Stadt mit dem markanten Rathaus von Paul Bonatz. Eine Spende des damals ortsansässigen Schuhkonzerns hat die Einrichtung des Heims im Jahr 1961 ermöglicht.

An die verschärften Anforderungen der Landesheimbauverordnung, die bis September 2019 größtenteils umgesetzt sein sollen, ließ sich dessen Bausubstanz nicht sinnvoll anpassen. So wurden Wulf Architekten, mit denen das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg bereits beim »Haus am Kappelberg« in Fellbach (s. db 8/2008, S. 58) Pionierarbeit in Sachen Wohngruppenkonzept geleistet hatten, nach einer Machbarkeitsstudie direkt mit dem Ersatzneubau beauftragt.

Teilabriss und Baufortschritt beim neuen Pflegeheim konnten die Klienten aus dem verbliebenen Altbauteil beobachten. Dessen Abriss ist nun im Gange, bis 2019 wird an seiner Stelle ein dritter, separat stehender Flügel für betreutes Wohnen errichtet.

Die im Grundriss H-förmige Struktur des Pflegeheims nimmt pro Stockwerk zwei Wohngruppen à 15 Personen auf, wie vom Kuratorium Deutsche Altershilfe empfohlen, dazu jeweils eine helle, offene Wohnküche mit Außenbezug und an jedem Flurende eine Loggia. Um Raumdoppelungen zu umgehen, wurden Nebenräume für Pflege, Personal und Lagerung dem zentral gelegenen Erschließungsbereich zugeordnet. Allein schon an der räumlichen Optimierung lässt sich der Kostendruck erahnen, unter dem der Bau (nicht nur) dieses Projekts steht. Pflegekassen und Heimträger knapsen und bestehen auf Minimalforderungen, wo sie nur können. Um sich ein paar »Extras« leisten zu dürfen, mussten die Architekten beispielsweise eine reduzierte Etagenhöhe gegenrechnen – die glücklicherweise nur bei explizitem Hinweis ins Bewusstsein rückt, dann in den Fluren aber durchaus spürbar wird.

Dem gegenüber steht eine mit viel Überzeugungsarbeit durchgesetzte Erkerkonstruktion, die jedem der auf 14,7 m² begrenzten Bewohnerzimmer eine überraschende Großzügigkeit verleiht und für das Fehlen eines Balkons entschädigt. Zu diesem kleinen Luxus gehören ein Panoramafenster, das über die niedrige Brüstung hinweg auch vom Bett aus freien Blick nach draußen erlaubt, ein elektrisch betriebener, horizontal geführter Sonnenschutz, hinter dem man sich gut verstecken kann und der transparent genug ist, um die Außenwelt nicht ganz auszublenden, ein Lüftungsflügel und schließlich eine holzbekleidete Fensterbank, die – da es kaum Platz für Besuchermöbel gibt – zum Sitzen dienen kann. Gerne wird sie aber auch als Regal für allerlei Erinnerungs- und Sammlerstücke genutzt.

Für den Außenstehenden schwer einzuordnen ist die Entscheidung, alle übrigen Flächen komplett neutral zu gestalten und auch eine ganze Reihe weiterer Ausstattungsdetails wegzulassen. Wer großmütterliche Wohnzimmeratmosphäre erwartet, wird hinter den weißen und grauen, allenfalls brauntonigen Oberflächen und den Stahlzargen – deutlich robuster als Holz – zwangsläufig den Rotstift vermuten. Tatsächlich handelten Bauherr und Architekten aber eine Anmutung aus, die sich möglichst am gewohnten Wohnumfeld der Bewohnerschaft orientiert, an den benachbarten Wohnblocks, deren Gemeinschaftsflächen durchaus nicht tapeziert oder farblich gefasst sind, und deren Privatbereiche den eigenen Vorstellungen entsprechen.

Zudem wurde explizit ein neutraler Hintergrund verlangt, auf dem »etwas wachsen« kann – die Bespielung und Gestaltung soll mit den Klienten ausgehandelt werden und sich mit der wechselnden Bewohnerschaft wandeln können. Mündigkeit wird vorausgesetzt und auch eingefordert und somit länger erhalten. So will man der oft beobachteten Falle entgehen, dass die Bequemlichkeit über die Eigenständigkeit siegt.

Dem entspricht auch die personelle Trennung von Pflegedienst, dem vorwiegend medizinisch-pflegerische Tätigkeiten obliegen, und Alltagsbegleitung, die mit den Bewohnern kocht und auf vielerlei Ebenen Sozialkontakte pflegt. Räumlich drückt sich dies im weitgehenden Fehlen typischer Krankenhaus- und Kontroll-Attribute aus: Das Stationszimmer kommt sehr gut ohne »Überwachungsfenster« aus. Es gibt keine Handläufe, da diese erfahrungsgemäß wegen des Einsatzes von Gehhilfen aller Art ohnehin so gut wie nicht genutzt werden und somit so wenig Sinn ergeben wie ausgebuffte Farb- und Leitkonzepte für Demente, die – ebenfalls ein Erfahrungswert – allzu oft viel zu abstrakt ausfallen und im Vergleich zu auffälligen Möbelstücken oder ähnlich markanten Punkten wenig ausrichten.

Als für das Wohlbefinden wichtiger wird die zirkadiane Flur-/Wohnküchenbeleuchtung angesehen, deren Lichttönung sich der Tageszeit anpasst. Wie meist kommt es auch hier weniger auf das konkrete Design an, als vielmehr auf die Angebote, die ein Gebäude macht.

Lang kann man über die mangelnde Ausführungsqualität, die dem Zwang zum allergünstigsten Angebot entspringt, lamentieren, über unsauber angebrachte Leisten, dicke Türprofile, unfähige Stuckateure, die eine ganze Wand neu verputzen mussten, weil nur einer unter ihnen die Besenstrichtechnik beherrschte, zerbeulte Bleche, endlose Listen von Nacharbeiten …

Dies alles tritt jedoch vor der angenehmen Atmosphäre, die sich beim Besuch der Einrichtung erspüren lässt, zurück, beim Gottesdienst, beim Musizieren, in den Wohnküchen und in den einzelnen Zimmern wie auch in den Räumen der angegliederten Tagespflege im EG. Bewohner und Personal bringen sie mit.

Die rigide Reihenstruktur der gesetzlich geforderten Einzelzimmer lässt sich mit den Zimmertrennwänden in Leichtbauweise bei Bedarf verhältnismäßig leicht aufbrechen und in Doppelzimmer für Paare überführen, wie es sie bereits vereinzelt im obersten Stockwerk gibt.

Der Speise- und Veranstaltungssaal, den man sich als öffentlichen Anlaufpunkt für das gesamte Quartier wünscht und der als solcher durchaus angenommen wird, lässt sich durch mobile Trennwände unterteilen. Ein Friseursalon und Therapieräume für interne Leistungen wie auch externe Anbieter knüpfen zarte Bande zur Außenwelt, genauso wie die Freibereiche, die jeweils von stumpfwinklig gestoßenen Außenwänden umarmt und geschützt werden. Mit offen empfangender Gestik wirkt das Gebäude in den Straßenraum hinein. Ein wenig fremdartig nimmt es sich schon aus; und so mancher Passantenkommentar zeugt von Gewöhnungsbedarf. Im Grunde schafft es aber den Spagat zwischen der legitimen Auffälligkeit eines Sonderbaus und der Anmutung eines – eigentlich ganz normalen – Wohnhauses.

So haben die Architekten aus der Bauaufgabe und innerhalb des gegebenen Kostenrahmens das Beste herausgeholt und eine gute Grundlage bereitet, auf der das Heim samt dem zweiten Bauabschnitt als selbstverständlicher Wohnbaustein in die öffentliche Wahrnehmung einsinken und sich zu einer Art Quartiersmittelpunkt weiterentwickeln kann.

Grundriss: wulf architekten, Stuttgart
Grundriss: wulf architekten, Stuttgart
Lageplan: wulf architekten, Stuttgart
Schnitt: wulf architekten, Stuttgart

  • Standort: Rosensteinstraße 28-30, 70806 Kornwestheim

    Bauherr: Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg, Stuttgart
    Architekten: wulf architekten, Stuttgart
    Mitarbeiter: Ingmar Menzer, Stephan Burger (Projektleitung); Emiliya Mykhaylyuk, Larissa Schuster
    Tragwerksplanung: Pfefferkorn Ingenieure, Beratende Ingenieure, Stuttgart
    Örtliche Bauleitung: Ernst² Architekten, Stuttgart
    Projektsteuerung: ARP Architektenpartnerschaft Stuttgart, Stuttgart
    HLS-, Elektroplanung: Deerns Deutschland, Stuttgart
    Bauphysik: Bayer Bauphysik Ingenieurgesellschaft, Fellbach
    Brandschutz: Ralf Schäfer, Stuttgart
    Landschaftsarchitektur: Planstatt Senner, Überlingen
    BGF: 12 065 m (Pflegeheim 7 094 m², betr. Wohnen 4 971 m²)
    BRI: 37 244 m³ (Pflegeheim 21 057 m³, betr. Wohnen 16 187 m³)
    Baukosten: (Gesamtprojekt) ca. 18 Mio. Euro
    Bauzeit: Juli 2015 bis Juli 2017 (2. BA, betr. Wohnen, vorauss. Jan. 2019)

Da hilft auch ein schöner Besenstrichputz als Hintergrund nichts. Statt es mit einem Selfie zu versuchen, hätte db-Redakteur Achim Geissinger besser den Architekturfotografen gefragt, der für seine Aufnahmen zufällig denselben strahlenden Spätsommertag nutzte.

 


wulf architekten


Tobias Wulf

1956 in Frankfurt a. M. geboren. 1974-81 Architekturstudium an der Universität Stuttgart. Mitarbeit u. a. bei Auer und Weber, Joachim Schürmann und Gottfried Böhm, seit 1987 eigenes Architekturbüro in Stuttgart. 1987-91 Lehrauftrag an der Universität Stuttgart, seit 1991 Professur an der HfT Stuttgart.

Ingmar Menzer

1970 in Chemnitz geboren. 1989-91 Steinmetz und Restaurator im Albertinum in Dresden, 1991-98 Architekturstudium an der TU Dresden. Mitarbeit bei Staib Architekten und Behnisch & Partner, eigene Projekte. Seit 2002 Mitarbeit bei wulf & partner, seit 2015 als geschäftsführender Gesellschafter von wulf architekten. Seit 2014 Lehrauftrag an der HfT Stuttgart.


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