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Baugruppenprojekt B.R.O.T. in Pressbaum (A), nonconform

Die Baugruppe von Bullerbü
Baugruppenprojekt B.R.O.T. in Pressbaum (A)

Baugruppenprojekt B.R.O.T. in Pressbaum (A)
Chaos und Ordnung: Die einzelnen Holzhäuser scheinen auf den ersten Blick recht wild über das 14 000 m² große Hanggrundstück verteilt zu sein Foto: Kurt Hörbst
Das Gemeinschaftswohnprojekt B.R.O.T. in Pressbaum ist eines der auf den ersten Blick unscheinbarsten und bei näherer Betrachtung wohl schönsten Baugruppen-Projekte Österreichs. Das Wiener Büro nonconform zimmerte ein nachhaltiges Dorf aus zehn vorgefertigten Holzhäusern.

Architekten: nonconform
Tragwerksplanung: PhysCon

Kritik: Wojciech Czaja
Fotos: Kurt Hörbst

Die Kleinen laufen nackt durch die Botanik und richten wassergefüllte Spritzpistolen aufeinander. Fangenspielen, Räuber und Gendarm, Käferbegutachtungen auf der ausgebreiteten Handfläche. »Spinnst du? Das ist doch kein Marienkäfer! Der ist ja nicht mal rot!« – »Oh ja, die sind nicht alle rot! Du hast ja keine Ahnung …« Die ersten Minuten vor Ort fühlen sich an, als wäre man in eine Zeitmaschine ein- und in irgendeiner smartphone- und applosen Parallelwelt wieder ausgestiegen. Wie ein Wald- und Wiesenspaziergang durch Bullerbü, mit Pippi Langstrumpf , Tommy und Annika an der Hand.

»Die meisten von uns kommen aus Wien und haben sich nach einem ruhigen, nachhaltigen Leben mit geringem CO2-Fußabdruck gesehnt«, sagt Johanna Leutgöb. »Es gibt sehr viele Kinder, sehr viel Natur und auch ein gewisses Bewusstsein für die Gestaltung des Wohn- und Lebensalltags, das uns alle verbindet. Und trotzdem wohnen hier ganz viele unterschiedliche Leute aus unterschiedlichen beruflichen Backgrounds mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen.« Johanna, 64 Jahre alt, ist Coach und Organisationsberaterin und lebt hier gemeinsam mit ihrem Partner Peter, seines Zeichens Landschaftsplaner und Landschaftsökologe. Er steht gerade in der Küche und mischt den Teig für Rosinenbrot und gebackene Mäuse.

»Mit 22 Jahren bin ich in mein erstes ökotopisches Wohnprojekt eingezogen, und ich würde sagen, mit Baugruppen und gemeinschaftlichen Wohnmodellen mit all ihren Vor- und Nachteilen kenne ich mich mittlerweile ziemlich gut aus«, so Johanna. »Viele Fehler, die man zu Beginn macht, haben wir hier versucht zu vermeiden.« Soziale Homogenität sucht man vergeblich. Die Bewohnerinnen und Bewohner stammen aus mehreren Generationen, Einkommensschichten und kulturellen Backgrounds. Es wurde sogar eine Crowdfunding-Kampagne gemacht, um einer jungen Flüchtlingsfamilie aus Afghanistan eine 50 m2 große Wohnung zur Verfügung zu stellen. Mehr als 40 000 € konnten auf diese Weise zusammengetragen werden.

All diese Wärme und Lebendigkeit dieses ungewöhnlichen Projekts scheint in der niederösterreichischen Frühlingsluft zu liegen, sobald man zwischen den vorgefertigten Holzhäusern durchmarschiert und hinter den großen, ungemähten Flockenblumen, Schafgarben und Kamillen in den Fenstern das soziale Durcheinander beobachtet. Die Initiative geht zurück auf Helmuth Schattovits (1939-2015), der bereits in den 90er Jahren in Wien das erste Wohnprojekt unter der Dachmarke B.R.O.T. errichtete. Hinter dem etwas eigenwillig kohlehydrathaltigen Akronym verbergen sich die Worte und Werte »Begegnen, Reden, Offensein, Teilen«.

Nach mehreren Wohnprojekten dieser Art innerhalb der Wiener Stadtgrenzen stieß Schattovits 2011 durch Zufall auf dieses Grundstück am Haitzawinkel, 20 km westlich von Wien, das von der Pfarre Pressbaum zur Bebauung im Baurecht angeboten wurde. B.R.O.T. griff zu und sicherte sich das Areal für 99 Jahre. Eine weitere Fügung sorgte dafür, dass Schattovits bei einer Straßenbahnfahrt auf Architekt Peter Nageler, Partner im Wiener Architekturbüro nonconform, stieß, und so nahm das Projekt seinen Lauf. Einreichplanung 2015, Spatenstich 2017, Fertigstellung 2018. Jetzt stehen wir also da, die Rotzlöffel und ich, die Spritzpistole auf den Journalisten gerichtet. »Wer bist du? Was machst du da?«

Aufgeteilt ist das ursprünglich 14 000 m2 große Hanggrundstück, das von der höchsten bis zur tiefsten Stelle um rund 10 m abfällt, auf elf Parzellen mit insgesamt zehn Wohnhäusern und einem Gemeinschaftshaus im Zentrum. Außerdem gibt es einen Sportplatz und eine E-Ladestation im Süden sowie Spielplatz, Schwimmteich, Gewächshaus, Parkplatz und in den Hang eingegrabene Stauraumboxen im nördlichen Teil des Areals. Einer der Bewohner betreibt sogar eine Bienenfarm mit etlichen Stöcken. Aktuell wird ein Haus der Stille errichtet. Das Fundament steht schon.

»Partizipationsprojekte haben wir schon viele gemacht, aber in diesem Fall war der Prozess besonders reibungslos und unkompliziert«, sagt Johanna Steinhäusler, Projektleiterin bei nonconform. »Die Baugruppe zeichnete sich von Anfang an durch ein hohes Engagement aus – und durch eine gewisse Sturheit, weil sie auf manche Dinge auf keinen Fall verzichten wollte. Der starke gemeinschaftliche Zusammenhalt funktioniert bis heute.« Zu den unumstößlichen Entscheidungen der Gruppe zählen v. a. Bauweise und Haustechnik. Bis auf das Gemeinschaftshaus und die Treppenhauskerne, die in Stahlbeton errichtet wurden, handelt es sich beim gesamten Projekt um Holzleichtbau mit kreuzlagenverleimten Deckenplatten.

Die vorgefertigten Fassadenelemente sind geschoßhoch und bis zu 8 m lang und bestehen aus einer Fichtenkonstruktion mit vertikaler Lärchenlattung und innen liegender, eingeblasener Zellulosedämmung mit 30 cm Dicke. Innenbeplankung und nichttragende Wände sind ganz klassisch im Trockenleichtbau errichtet worden. Auffällig ist die Raumhöhe von 2,70 m in den Wohnräumen sowie die KLH-Decke mit belassener Sichtoberfläche in den Aufenthaltsräumen. Die meisten Bewohner haben eine unbehandelte Deckenuntersicht, einige wenige haben das Holz eingeölt oder lackiert. Lediglich in den Vorzimmern sowie in den Sanitärräumen wurde eine abgehängte Gipskartondecke eingezogen. In den Hohlräumen befindet sich die Installation für die kontrollierte Wohnraumlüftung.

»Ein großes Anliegen«, sagt Planerin Steinhäusler, »war uns die Positionierung der Fenster und Fenstertüren. Wo immer dies mit Rücksicht auf die Möblierung möglich war, haben wir die Fensteröffnungen ganz in die Ecke gerückt. Durch den flächenbündigen Anschluss an die angrenzende Innenwand ergibt sich auf der Oberfläche ein sehr schönes Licht- und Schattenspiel. Zudem sorgt das flach einfallende Streulicht durch die Reflexion für zusätzliche Helligkeit in den Innenräumen.« Sämtliche Fenster – auch jene in den OGs – sind französisch ausgeführt und verlaufen fast bis zum Boden. Die Absturzsicherung besteht aus verzinkten Stabgeländern. Sehr easy, sehr rough, sehr passend zum hier innewohnenden Geist.

Geheizt wird mit Biomasse. Neben dem Gemeinschaftshaus wurde eine kleine Hackschnitzelanlage errichtet, die mit Holzabfällen aus dem lokalen Maschinenring gespeist wird. Zudem wurden auf den Gebäuden 50 m2 Sonnenkollektoren mit 4 000 l Pufferspeicher sowie sechs PV-Anlagen im Gesamtausmaß von 97 kW Peak-Nennleistung angebracht. Übers Jahr gerechnet können damit rund 75 % des Strombedarfs gedeckt werden. Kleiner Wermutstropfen: Während der Großteil des Wohnprojekts aussieht wie eine Mischung aus Bullerbü und Biene Majas Klatschmohnwiese mit einem Hauch Woodstock, dominiert auf der Technikzentrale mit ihren schräg aufgeklappten Kollektorflächen der Eindruck eines etwas aus den Fugen geratenen Sonnenkraftwerks. Der visuelle Schmerz ist verkraftbar.

Umso schöner die Tatsache, dass sich die Baugruppe vom Kärntner Holzproduzenten Weissenseer, der sich auf dem innovativen Holzbausektor mittlerweile einen über die Branche hinaus bekannten Namen gemacht hat, die Holz- und KLH-Reststücke hat anliefern lassen. Einige davon fristen nun ein Dasein als Klettergerüst oder Küchenarbeitsplatte im Gemeinschaftshaus. Neben der Werkstatttür lehnt ein unförmiges Holzstück mit etwa 1,50 m Länge. Mit Bleistift hat jemand die Absichtserklärung auf die Oberfläche geschrieben: »Reserviert Rutsche!!!«

»Wir wohnen hier jetzt seit über drei Jahren«, sagt Stefan Fittner, Kassier der Vereins B.R.O.T. Pressbaum. »Über eine eigens eingerichtete Signal-Gruppe stehen wir permanent in Kontakt. Wer auch immer etwas braucht, ob das nun Hilfe in der Werkstatt oder Unterstützung in der Food-Coop ist, schreibt einfach eine kurze Nachricht in die Gruppe.« Und Anita Scharl, die beruflich in der Umweltanwaltschaft tätig ist und den Verein eine Zeit lang als Pressesprecherin repräsentierte, freut sich v. a. über das gute Raumklima in den Wohnungen und über das insgesamt gute Preis-Leistungs-Verhältnis des Projekts. »Es gab viele Aufs und Abs mit der Kirche, mit den Kreditvereinbarungen, mit den Kostenangeboten bei den Baufirmen, aber letztendlich ist das Projekt verhältnismäßig gut über die Bühne gegangen. Es ist super, hier zu wohnen.«

Auf ihrer Terrasse wird gerade eine Pergola errichtet. Der Bruder, Zimmermann von Beruf, ist zur Stelle, die Mutter zupft das Unkraut aus den Gemüsebeeten, der 80-jährige Vater, der dem Autor dieses Artikels schnell noch einen Crash-Kurs im Sensenmähen gibt, kümmert sich um das viel zu hohe Gras auf der Böschung zwischen Wohnhaus und Sportplatz. »Es ist nicht immer alles so harmonisch wie heute«, sagt Anita. »Aber fast immer. Ich mein’, schau dich mal um! Ich persönlich hätte mir zwar ein klassisches Satteldach gewünscht, aber in diesem Punkt bin ich halt von der Baugruppe und den Architekten überstimmt worden. Abgesehen davon ist unser kleines Dorf hier einfach nur großartig.«


IMG_5425.jpgCoronabedingt ausgehungert nach der Ferne, fühlte sich unser Kritiker Wojciech Czaja im B.R.O.T. Pressbaum bereits nach einer Viertelstunde wie im Urlaub. Sensenmähen machte ihm übrigens richtig Spaß, zumindest ein paar Minuten lang.
 
 


  • Standort: Haitzawinkel, A-3021 Pressbaum

    Bauherr: Verein Gemeinschaft B.R.O.T. Pressbaum
    Architekten: nonconform zt gmbh – Architektur und partizipative Raumentwicklung, Wien
    Projektleitung: Marlies Wernahrt, Peter Nageler
    Mitarbeiter: Johanna Treberspurg, Johanna Steinhäusler, Martin Puller, Peter Paller, Katharina Forster, Christina Kragl
    Tragwerksplanung: PhysCon ZT GmbH, Pressbaum
    Landschaftsplanung: Verein Gemeinschaft B.R.O.T. Pressbaum
    BGF: 3 046 m² und 270 m² Gemeinschaftsflächen
    BRI: 18 450 m³
    Baukosten: 7,1 Mio. Euro
    Kosten pro m2: 2 147 Euro
    Bauzeit: März 2017 bis Mai 2018
  • Beteiligte Firmen:
    Fassade, Dach, Fenster, Türen, Böden: Weissenseer Holz-System-Bau GmbH, Wien, www.weissenseer.com
    Mauerwerk: Bauunternehmen Ing. Harald Weissel Ges.m.b.H., Linz, www.weissel.at
    Haustechnik: KEM Montage GmbH, Keutschach, www.kem-montage.at und HATEC Elektrotechnik GmbH, Hürm
    Lichtplanung/-ausstattung: K.E.M. Montage GmbH, Keutschach, www.kem-montage.at
    Elektroinstallationen: S&P Climadesign GmbH Büro für technische Gebäudeausrüstung, Gmunden, www.sundp.at
    Bauphysik: Schöberl & Pöll GmbH, Wien, www.schoeberlpoell.at/de

 nonconform


Johanna Treberspurg

Architektur- und Kunstpädagogikstudium an der TU Wien, der IUAV, Venedig und der Akademie der bildenden Künste Wien. 2008-12 Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros im In- und Ausland sowie bei der Architekturbiennale Venedig. Seit 2013 Projektleitung und seit 2020 Partnerin bei nonconform.


Peter Nageler

Architekturstudium an der TU Graz, 1999 Ziviltechnikerprüfung. 1999 Büro mit Roland Gruber. Seit 2006 Lehrauftrag an der Aarhus School of Architecture und der FH Wien. Mitgründer des Europäischen Toleranzzentrums Denk.Raum.Fresach und von Stadt, Werk und Wohnen, Wien


Wojciech Czaja

1978 geboren. Architekturstudium an der TU Wien. Freischaffender Architekturjournalist für Tagespresse und Fachmagazine. Zahlreiche Bücher. Seit 2005 Tätigkeit für die österreichische Tageszeitung Der Standard.

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