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Stadtbalkon für Röttingen von Schlicht Lamprecht Architekten

Spektakel auf der Burg
Stadtbalkon für Röttingen bei Würzburg

 
Nach Jahrzehnten des Provisoriums haben die Frankenfestspiele auf Burg Brattenstein eine feste Tribüne bekommen. Doch der Neubau – eine schlichte, geradlinige Satteldachform »with a twist« – ist sehr viel mehr: Er schließt eine städtebauliche und emotionale Leerstelle in dem 1 700-Seelen-Ort und ist zu einem weiteren funktionierenden Baustein in der Neuerfindung des Städtchens geworden, das in der fränkischen Geschichte durchaus seine Bedeutung hatte.

Architekten: Schlicht Lamprecht Architekten
Tragwerksplanung: Hußenöder Ingenieure

Kritik: Dagmar Ruhnau
Fotos: Stefan Meyer

Röttingen liegt 35 km südlich von Würzburg im Taubertal, einer hügeligen Landschaft, die durch ihren Wein bekannt ist. Obwohl die Stadt heute pittoresk-verschlafen wirkt – erst recht an einem nebligen Vormittag mitten in der Woche –, deuten große Bauten aus unterschiedlichen Jahrhunderten auf vergangene Bedeutung, Wohlstand und Bürgerstolz. Erstmals wurde die Stadt gemeinsam mit der Kirche St. Kilian 1103 erwähnt. Aus den zahlreichen schön hergerichteten Fachwerkbauten ragen das barocke Rathaus am Marktplatz, das Neorenaissance-Spital und die Schule von 1873 heraus. Die Stadt ist Ausflugsziel insbesondere für Radfahrer und Tagestouristen, die mit dem Auto die »Romantische Straße« zwischen Würzburg und Neuschwanstein abfahren. Die Burg Brattenstein wurde erstmals 1230 als Wohnsitz lokaler Adlige erwähnt und diente 1345-1803 als Sitz der Vertreter des Bistums Würzburg, ab der Säkularisierung als untere Finanzbehörde des Königreichs Bayern.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Nutzungen kurzfristiger und heterogener. Passte die Vierseitanlage, die sich als Teil der Stadtmauer über dem Ort erhebt, aber aus dem Stadtgefüge ziemlich zurückzieht, während des Dritten Reichs im Ausdruck durchaus noch zur Nutzung durch den Reichsarbeitsdienst, wurde sie danach Quartier amerikanischer Soldaten, Durchgangslager für Flüchtlinge und bis 1971 Produktionsstätte für eine Aschaffenburger Textilfabrik. Seit 1984 finden hier jeden Sommer die Frankenfestspiele statt, und im Südflügel hat ein kleines Weinmuseum seine Heimat. Seit 2003, seit dem Bau der Umgehungsstraße, wird die Revitalisierung des Städtchens mithilfe der Städtebauförderung Stück für Stück vorangetrieben: Rathaus, Spielscheune, »Hochzeitsturm«, Marktplatz und Hauptstraße.

Stadt und Burg einander zuwenden

Mit ihrer Ostseite wendet sich die Burg der Stadt zu. 1971 stürzte ein Teil davon ein – es wird vermutet, dass die Vibrationen der Nähmaschinen dem uralten Bruchsteinmauerwerk zusammen mit dem Druck aus dem Hang den Rest gaben. Beim Sturz aus mehreren Metern Höhe wurden vier Näherinnen getötet. Die Außenmauer blieb jahrelang provisorisch abgestützt, umgeben von einer Absperrung. Dadurch entstand eine Engstelle in der Straße, die niemand gern passierte, was die Burg zusätzlich von der Stadt trennte. Diese physischen und mentalen Barrieren zu öffnen, war eins der Anliegen der Architekten, als sie von der Stadt beauftragt wurden, ein Konzept für die Reparatur des Ostflügels zu erarbeiten.

Der Anlass war ein ganz profaner: Der Statiker konnte nach 20 Jahren die Funktionstüchtigkeit der provisorischen Holzkonstruktion für die Hangsicherung schlicht nicht mehr nachweisen. Die Suche nach einer sinnstiftenden Nutzung und damit nach der Ausgestaltung des Neubaus erwies sich als nicht so leicht. Zwar belegen die Frankenfestspiele den Hof von Mai bis August, doch ist das etwas wenig für eine solche Anlage. Somit entstand die Idee, die Burg öffentlich zugänglich zu machen, sodass sie den Bürgern auch außerhalb der Aufführungen zur Verfügung steht.

Dieses zunächst noch etwas ungefähre Nutzungskonzept, das sich in den nächsten Jahren mit Leben füllen wird, veranlasste die Architekten, zusammen mit dem Öffnungsgedanken, den Neubau im Volumen deutlich geringer als den Vorgänger zu formulieren. Zum Hof hin schließt der lange Bau die vom Rest des Ostflügels vorgegebene Kante. Dadurch tritt er auf der Außenseite der Burg aus der Flucht zurück. Es entsteht ein relativ breiter Vorplatz in Richtung der gegenüberliegenden Gebäude, den seine helle, mittelformatige Pflasterung selbst an einem dunklen Tag luftig und einladend wirken lässt.

Öffnung zur Stadt

Die neue, 10 m hohe Außenmauer besteht zum größten Teil aus wiederverwendeten Muschelkalksteinen aus dem eingestürzten Flügelbau. Dahinter wurde eine Stahlbetonkonstruktion als Unterbau für das neue Gebäude erstellt, in dem u. a. die Veranstaltungstechnik ihren Platz findet. Zwischen die neue Außenmauer und ein – ordentlich gereinigtes und abgedichtetes – Überbleibsel der alten wurde eine breite Treppe aus Sichtbeton eingeschoben, die zum Stadtzentrum gerichtet ist. Sie stellt zusammen mit dem Vorplatz die wichtige Öffnung zur Stadt sicher, ist aber zugleich ganz profan der notwendige 2. Fluchtweg, den die Burg als Versammlungsstätte benötigt.

Nachts setzen Beleuchtungselemente die Treppe angenehm in Szene, ebenso die bei Tag kaum wahrzunehmende lange Betonbank (auf der sich der Architekt mehr sommernachts plaudernde Menschen wünscht) und die darüber schwebende Loggia. Vor der Loggia begrenzt ein mächtiger historischer Ausleger, auf dem früher ein Turm aufsetzte, den Vorplatz. Dessen glattes Mauerwerk, das das Unglück 1971 ohne Schaden überstanden zu haben scheint, rahmt ein Stück in der Flucht der ehemaligen Außenmauer, das bewusst die Steine zeigt, wo der Einsturz die Wand auseinandergerissen hat. Auch auf der Cortentafel, die in die Sichtbetonwand der Treppe eingelassen ist, wird daran erinnert – Gesten, die von den Angehörigen der Opfer gewürdigt werden.

Auf der Höhe des Burghofs, auf der Außenseite des Ostflügels, befindet sich ein weiterer Platz, barrierefreier Zugang und 1. Fluchtweg. Hier werden u. a. die Eintrittskarten verkauft. Auf einem neu angelegten Bereich auf dem Dach einer ehemaligen Garage (mit Gewölbe!) wurde während der Festspiele eine Sektbar mit Sitzsäcken und schönem Ausblick eingerichtet. Dieses Angebot wurde schon gut angenommen, und es entstand ein wenig öffentliches Stadterleben, das sich der Architekt für das Gelingen des Projekts so wünscht.

Die Loggia: Hingucker und Ausguck

Die Loggia ist das Pièce de Résistance der Burg. Architekt Stefan Schlicht meint, ein solcher Eingriff in ein historisches Gebäude und eine traditionelle Stadt brauche einen Hingucker – auch wenn mancher Stadtrat damit zunächst nicht einverstanden war. So erklärt sich u. a. die Wahl des Materials Corten, das die Tribüne umhüllt und nach außen die große glatte Fläche der Mauer proportioniert und elegant abschließt. Nach einem Jahr hat sich seine Farbe von Dunkelgrau zu Rostrot gewandelt und kommt damit auch den Wünschen jener Stadträte entgegen, die eine traditionelle rote Ziegeldeckung für den Bau vorgezogen hätten. Die Ausformulierung der Loggia selbst verdankt sich einem zufälligen Blick durch eine verschobene Latte in der provisorischen Holz-Rückwand.

Für Stefan Schlicht war sofort klar, dass diese Aussicht der Burg große Anziehungskraft verleihen würde. Untermauern konnte er seine Einschätzung mit der Beobachtung, dass z. B. im nahen Würzburg all jene Weinstuben und -feste mit Ausblick über die Umgebung förmlich überrannt werden. Und in der Tat: Die Loggia wirkt. Ist der Burghof zugänglich – was noch nicht dauerhaft der Fall ist –, lassen Einheimische ihre Besucher gern an dem besonderen Gefühl, erhaben den Blick über die Stadt schweifen zu lassen, teilhaben. Brattenstein ist auf dem Weg, »eine Burg für die Bürger« zu werden, wie von den Architekten geplant.

Im Innern ist die Stahlkonstruktion mit Lärchenholz ausgekleidet. Die Holzbekleidung zieht sich nahtlos auch über das große schwere Schiebeelement, das die Tribüne von der Loggia trennt und bei Aufführungen gegen Schall aus der Stadt schützt. Die unregelmäßig geteilte, raue Lattung ist außerdem mit einem akustisch wirksamen Vlies hinterlegt, das Echos unterbindet. Trotz der großen Entfernung zur Bühne ist die Akustik sehr gut, berichtet der Architekt, u. a. auch dank professioneller Tontechnik. 199 Sitzplätze sind fest installiert, bei Bedarf wird der Burghof voll bestuhlt und »betischt«. Die Regie hat ihren Platz nun zwischen den Sitzplätzen, mit Blick auf die Bühne und nicht mehr in einem Seitengebäude wie bisher. Räume in der sogenannten Zehntscheuer, die die Bühne seitlich begrenzt, dienen als Umkleiden. Das Gebäude, das 2009-12 saniert (und mit einem Preis der Bayerischen Architektenkammer bedacht) wurde, beherbergt außerdem den Sitzungssaal für den Stadtrat, Räume für Veranstaltungen und Seminare sowie Jugendräume. 

Auf den Punkt

So einfach das resultierende Gebäude scheint, so komplex waren die Einflussfaktoren für seine Gestaltung. Es ist bemerkenswert, wie es all seine Aufgaben gut erfüllt, beim »Aufsehenerregen« das richtige Maß wahrt und damit seine städtebauliche Funktion verantwortungsvoll wahrnimmt.

Auch die bauliche Ausführung war eine Herausforderung. Am Tag nach der letzten Festspiel-Aufführung im August 2017 gab es unter Anwesenheit des Landrats und des Bürgermeisters ein feierlich-fröhliches »Ansägen« der ausgedienten Holzkonstruktion, und am Tag der ersten Aufführung im Mai 2018 ein »Auskehren« der Späne. Dazwischen: Zeitdruck angesichts ausgebuchter Handwerker, der Suche nach den geeigneten Herstellern und (normaler) unvorhergesehener Zwischenfälle auf der Baustelle. Dass das alles geklappt hat, bezeichnet Stefan Schlicht fränkisch nüchtern als das eigentlich Herausragende an diesem Projekt. Für ein Architekturbüro rechnet sich ein solches Vorhaben so richtig nur über die Leidenschaft, die man dafür entwickelt, aber für die Stadt Röttingen ist es ein klarer Gewinn.

Wie für viele Revitalisierungsprojekte konnten glücklicherweise Mittel aus der Städtebauförderung in Anspruch genommen werden. Denn ein attraktives, funktionierendes Städtchen, das kommenden Ideen Raum bieten kann, hält auch die Jüngeren im Ort. Weitere Projekte sind im Gang. Die Burghalle und die Alte Schule werden saniert, ein Generationenpark am Tauberufer – wieder ein sehr zeitgemäßes Projekt – ist in Planung. Im Frühjahr bekommt Röttingen einen neuen Bürgermeister. Es bleibt spannend, wie es weitergeht.


Die rückwärtige Öffnung der Loggia ist knapp 10 m breit und wird mit einer zweiteiligen Schiebetür von der Tribüne abgeteilt. db-Redakteurin Dagmar Ruhnau und Architekt Stefan Schlicht ließen es sich nicht nehmen, vor Ort die schweren Türen persönlich zuzuziehen.

Dagmar Ruhnau (~dr)
Studium der Kunst, Anglistik, Architektur, 2001 Diplom. Berufstätigkeit in mehreren Architekturbüros, Redaktionen und einer PR-Agentur. Seit 2006 Freie Redakteurin der db.

Lageplan: Schlicht Lamprecht Architekten, Schweinfurt
Schnitt: Schlicht Lamprecht Architekten, Schweinfurt

  • Standort: Lagerweg, 97285 Röttingen

    Bauherr: Stadt Röttingen, vertreten durch Bürgermeister Martin Umscheid
    Architekten: Schlicht Lamprecht Architekten, Schweinfurt
    Mitarbeiter: Barbara Kiesel, Jochen Munke
    Tragwerksplanung: Hußenöder Ingenieure, Würzburg
    Beleuchtung: Lichtraum, Würzburg
    BGF: 349 m²
    BRI: 2 163 m³
    Baukosten: 1,9 Mio. Euro
    Bauzeit: August 2017 bis Mai 2018
    Auszeichnungen: BDA Preis Bayern 2019, artouro 2019 Bayerischer Tourismus Architektur Preis

Schlicht Lamprecht Architekten

Stefan Schlicht
1997-2002 Architekturstudium an der FH Würzburg. Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. 2004-06 Aufbaustudium an der Akademie der Bildenden Künste München. Seit 2011 gemeinsames Büro mit Christoph Lamprecht.

Christoph Lamprecht
1993-99 Architekturstudium an der FH Coburg und der FH Würzburg. Mitarbeit in mehreren Architekturbüros. Seit 2011 gemeinsames Büro mit Stefan Schlicht.


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