Kritik: Ulrike Kunkel
Der 3. März 2009 gilt als der Tag eines des größten kulturellen Desasters Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg: Das Historische Archiv der Stadt Köln stürzte ein und versank in der offenen Baugrube der Nord-Süd-U-Bahn. Zwei Menschen starben, 30 Regalkilometer Akten wurden im Grundwasser verschüttet. Dank einer sofort einsetzenden Rettungsaktion gelang es, 95 % der Archivalien zu bergen, zum großen Teil gefrier zu trocknen und auf diverse auswärtige Depots, sogenannte Asylarchive, zu verteilen. Die Restaurierung der Bestände, so die derzeitige Prognose, wird bis zum Jahr 2060 andauern. Die Herausforderung für die Archivarinnen und Archivare besteht aber nicht nur in der physischen Wiederherstellung der Akten, sondern auch in deren Zuordnung. Auch wenn die beteiligten Baufirmen inzwischen zu einer Zahlung von 660 Mio. Euro verpflichtet wurden – der gesamte materielle Schaden wird auf 1,3 Mrd. beziffert.
Neubau des Archivs
Fahrlässigkeit, Pfusch am Bau, Kölscher Klüngel: Darüber ist hier nicht zu urteilen. Zu konstatieren indes bleibt, dass das historische Gedächtnis der Stadt, das selbst die Zerstörung Kölns im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überdauert hat, für mehr als eine Generation von Forschern und Nutzern kaum ernsthaft konsultierbar ist. Angesichts dieser Ausgangslage mag es zynisch anmuten, der Katastrophe auch positive Aspekte abzugewinnen. Und doch, der Neubau des Archivs, das Anfang September 2021 eröffnet wurde, ist schlicht erfreulich. Und ein Gewinn für die Stadt, auch wenn seit dem Wettbewerb 2011 zehn Jahre vergangen sind. Immerhin sind mit 90 Mio. Euro die Kosten im Rahmen geblieben.
Solitärer Charakter
Wirkte die in die Severinstraße eingebundene Granitfassade des Bestandsgebäudes mit ihren spärlichen Lichtschlitzen hermetisch und abweisend, so gibt sich der 3 km entfernte Neubau dezidiert als öffentliches Gebäude zu erkennen. Darin bildet sich einerseits das veränderte Selbstverständnis von Archiven ab, die sich nicht zuletzt aus Gründen politischer Legitimation weniger als Verwahrinstitutionen denn als Serviceeinrichtung für Forschende, aber auch für die interessierte Bevölkerung verstehen, andererseits wäre es ohne die Vorgeschichte der Katastrophe wohl kaum zu einem solchen Bau an diesem Ort gekommen: In Hannover beispielsweise hat man sich unlängst dazu entschieden, das Stadtarchiv zusammen mit diversen Museumsdepots an einem unwirtlichen Ort in Stadtrandlage durch Investoren erstellen zu lassen und dann zu mieten.
Der Standort ist attraktiv
Eine solche Lösung wäre in Köln nicht in Frage gekommen. Der Standort ist attraktiv – der Neubau steht dort, wo die nach Südwesten führende Luxemburger Straße, eine der für Köln typischen ins Umland ausstrahlenden Radialachsen, den Inneren Grüngürtel begrenzt. Während die Straße Eifelwall mit ihrer Wohnbebauung die gründerzeitliche Stadtkante darstellt, ist das Archiv nicht als direktes Gegenüber, sondern eher als Solitär im Park konzipiert, ähnlich wie die verschiedenen Institute der nahen Universität weiter im Norden. Der Bau eines die Achse fortsetzenden Studierendenwohnheims im Süden ist bisher unterblieben, sodass der solitäre Charakter des Neubaus stärker in Erscheinung tritt als ursprünglich geplant.
Hülle und Kern
Die Darmstädter Architekten Waechter + Waechter konnten die Jury mit dem stringenten Konzept einer vierseitigen orthogonalen Mantelbebauung überzeugen, die ein zentrales Schatzhaus umgibt, das eigentliche Magazingebäude. Zur Zeit des Wettbewerbs bestand die Idee, im Neubau drei Institutionen zusammenzufassen: das Historische Archiv selbst, das Rheinische Bildarchiv und die Kunst- und Museumsbibliothek, die auf zwei Standorte, das Museum Ludwig und das Museum für Angewandte Kunst aufgeteilt ist. Aus Kostengründen fiel 2003 die Entscheidung, die Bibliothek an diesen Standorten zu belassen. Somit wird der Neubau von Historischem Archiv der Stadt Köln und Rheinischem Bildarchiv genutzt, die verwaltungstechnisch und institutionell eigenständig bleiben, aber die Räume mit Besucherverkehr wie Lesesaal, Auditorium und Ausstellungsbereich gemeinsam nutzen.
Offen oder geschlossen
Eine modulare Metallfassade mit tiefen Rippen, die als Brise-Soleils dienen, vereinheitlicht umlaufend den 126 langen und 45 m breiten dreigeschossigen Baukörper. Zur Stadt hin verhält sich das Gebäude nicht anders als zum Park, was seine Eigenständigkeit unterstreicht. Je nach Perspektive zeigt es sich offen oder geschlossen; lediglich die Erdgeschosszone der nordwestlichen Stirnseite ist komplett verglast. Hier, zum neu entstandenen Vorplatz hin orientiert, findet sich der Eingang für die Nutzerinnen und Nutzer, die in ein überaus helles und freundliches zweigeschossiges Foyer eintreten. Die dunkle Metalloptik des Äußeren weicht dem hellen Farbton weiß geölten Douglasienholzes, das die öffentlichen Bereiche prägt: Ausstellungsraum und Vortragssaal im EG sowie den großzügigen Lesesaal, den man über eine Treppe erreicht und der die gesamte Gebäudebreite im 1. OG in Anspruch nimmt.
Die Organisation des Gebäudes ist streng funktional
Zur freundlichen und hellen Atmosphäre trägt der Ausblick in den vorderen Innenhof bei, der rückwärtig durch den geschlossenen, mit aufgefalteter Baubronze bekleideten Magazinbaukörper begrenzt wird. Ein weiterer, schmalerer Innenhof befindet sich dahinter, sodass das Magazin zu zwei Seiten hin wirkungsvoll in Erscheinung treten kann. Die hofseitigen Korridore laufen auf allen Geschossen durch und bilden die klare Erschließung für die diversen Werkstätten, Restaurierungsateliers und Büros, die sämtlich nach außen hin orientiert sind. Die Organisation des Gebäudes ist streng funktional und erschließt sich unmittelbar, sobald man das Gebäude betritt: Die nordwestliche Stirnseite ist der öffentliche Teil des Baus mit der Verwaltung im 2. OG, während die Anlieferung der Archivalien über den Eifelwall und die Zufahrt auf der südöstlichen Stirn erfolgt, wo sich auch Quarantänebereiche befinden, durch die das Einbringen von Schädlingen verhindert wird.
Verhaltene Zeichenhaftigkeit
Herz und Zentrum des Gebäudes bildet der Magazinbau, der auch zu den Korridoren hin mit Platten aus Baubronze bekleidet ist. Mittig durch Gänge erschlossen, gliedern sich die insgesamt sieben Magazingeschosse mit ihren Ausmaßen von 56 x 27 m jeweils in vier gleich große Räume, die weitgehend mit Rollregalsystemen, aber auch mit Planschränken und Aufbewahrungssystemen für diverse Medien ausgestattet sind. Standardarchivboxen, die sich zu einer maximalen Länge von 50 Regalkilometern reihen, um für zukünftige Jahrzehnte gewappnet zu sein, bildeten gewissermaßen das repetitive Grundmodul, das schließlich zu Form und Dimension des Kernbauwerks führte. Die Wände bestehen aus 30 cm, die Decken aus 32 cm dickem Stahlbeton, sodass eine maximale thermische Trägheit erzielt wird.
Waechter + Waechter realisieren stringentes Gebäude
Da Materialien mit unterschiedlichen konservatorischen Anforderungen gelagert werden, gliedern sich die Archivbereiche in sieben unterschiedlich temperierte Klimazonen. Die Massivität der Bauweise, die Unterteilung in überschaubare Einheiten und die Fensterlosigkeit erlaubten es, das Thema des Brandschutzes auf passive Weise anzugehen und auf für Akten desaströse Sprinkler oder Hochdrucksprühsysteme und für Menschen gefährliche Sauerstoffeliminationsanlagen zu verzichten. Zur Wärme- respektive Kälteversorgung dient neben Fernwärme ein Eisspeicher unter dem großen vorderen Hof: Eine Wärmepumpe entzieht dem Wasser im Behälter Wärme, sodass dieses gefriert und die Kälteenergie im Sommer für die Lüftung genutzt werden kann. Archivgüter finden sich nicht nur im Magazinbaukörper, sie werden auch in anderen Bereichen des Hauses restauriert, genutzt oder bearbeitet. Das erklärt die umlaufenden tiefen Brise-Soleils – aber auch die Tatsache, dass die Höfe zwecks Vermeidung des Eintrags von Feuchtigkeit oder Wärme in die Raumluft nicht betreten werden dürfen.
Das Gedächtnis der Stadt
Waechter + Waechter ist es gelungen, ein funktional im besten Sinne stringentes und zudem im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtendes Gebäude zu realisieren, das sehr gute Bedingungen für das Archivgut schafft, aber auch auf die Befindlichkeiten der durch die Katastrophe traumatisierten Mitarbeiter Rücksicht nimmt. Ein Archiv mit Tiefmagazin wäre angesichts des Grundwasserdesasters von 2009 undenkbar gewesen. Das der zentrale Archivschrein nun sichtbar die Mantelbebauung überragt, ist ein willkommener Nebeneffekt. So himmelsstürmend und zeichenhaft wie der Ziegelsteinpfeiler von Ortner & Ortner gibt sich das Gebäude in Köln nicht, doch städtebaulich präsent ist es auf jeden Fall. Und Präsenz zu markieren, steht diesem Gebäude, das das Gedächtnis der Stadt bewahrt, gut zu Gesicht.
Unser db-Video zum Historischen Archiv der Stadt Köln finden Sie hier »
Fakten
Standort: Eifelwall 5, 50674 Köln
Bauherrin: Gebäudewirtschaft der Stadt Köln
Projektsteuerung: BMP Baumanagement GmbH, Köln
Architekten: Waechter + Waechter Architekten BDA PartmbB, Prof. Felix Waechter, Sibylle Waechter, Darmstadt, Webseite des Büros
Projektleiter: Stephan Erkel, Michael Kohaus
Projektteam: Kathrin Sattler, Esther Ferreira Lopes,Walter Hein, Denise Finkernagel, Yan Zhang, Todor Nachev
Tragwerksplanung: IDK Kleinjohann GmbH & Co. KG, Köln
Detailplanung Fassade: Waechter + Waechter Architekten BDA PartmbB mit Werner Sobek Stuttgart AG
Ausschreibung und Objektüberwachung Gebäude: Heinle, Wischer und Partner Freie Architekten, Köln
Ausführungsplanung, Ausschreibung und Objektüberwachung Freianlagen: Riehl Bauermann + Partner Landschaftsarchitekten, Kassel
TGA-Planung, Ausschreibung und Objektüberwachung TGA: agn Niederberghaus & Partner GmbH, Ibbenbüren
Prüfstatik: Pirlet & Partner Baukonstruktion, Köln
Baugrundgutachten: CDM Smith Consult GmbH, Bochum
Lichtplanung: Licht Kunst Licht AG, Bonn
Bauphysik, Klimakonzept Magazinbau, Raumakustik: Müller BBM GmbH, Planegg
Brandschutzplanung: BPK Fire Safety Consultants GmbH & Co. KG, Frankfurt a. M.
Nutzerberatung, Klimamonitoring: Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP, Stuttgart
BGF: 22 580 m²
Nutzfläche: 14 490 m² (davon 9 035 m² Magazine)
Baukosten: keine Angaben
Wettbewerb: 1. Preis 2011
Eröffnung: 2021
Fotos: Brigida González
Beteiligte Firmen:
Fenster, Pfosten-Riegel-Fassade: GUTTMANN, Weißenburg
Sonnenschutz: WAREMA, Marktheidenfeld
Blendschutz‐ und Verdunklungsvorhänge: Kvadrat, Ebeltoft
Holzlamellendecke: Hunter Douglas, Emmerich
Streckmetalldecke: Lindner, Arnstorf
Holzinnentüren: Neuform, Erdmannhausen
Stahlinnentüren, Türen mit Aluminiumzargen: Hörmann, Steinhagen
Beschläge: FSB, Franz Schneider Brakel
Hochdrucklaminat‐Wandbekleidungen: Egger, St. Johann in Tirol
Dielenboden: Dinesen, Rødding
Linoleumbeläge: Forbo Flooring, Paderborn
Regalanlagen: Bruynzeel, Kleve
Waechter + Waechter Architekten
1989-95 Architekturstudium an der ABK Stuttgart und an der École d’Architecture de Lyon. 1995-96 Mitarbeit bei Kammerer und Belz, Kucher und Partner, Stuttgart. 1996-97 Mitarbeit bei Finegold + Alexander, Boston. Seit 1998 Büro mit Felix Waechter. 1997-98 Lehrauftrag am BAC Boston Architectural Center.
1990-96 Architekturstudium an der Universität Stuttgart, der École d’Architecture de Lyon, Diplom. 1996-98 Architekturstudium an der Harvard University, Cambridge, Master. 1997-98 Lehrauftrag am BAC Boston Architectural Center. Seit 1998 Büro mit Sibylle Waechter. 2005-06 Professurvertretung an der FH Wiesbaden. 2016 Professur an der TU Darmstadt.
Ulrike Kunkel (~uk)
Studierte Germanistik, Architektur, Städtebau, Stadt- und Regionalplanung, Kunstgeschichte an der TU Berlin und am IUAV, Venedig. 1998 Diplom. 1999-2004 Kuratorin am Vitra Design Museum; 2002-04 Assistentin an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel, freie Autorin für Architektur- und Designthemen. Seit 2005 Redakteurin der db; seit 2009 Chefredakteurin.