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»Dorfhaus« in Sankt Martin in Passeier (I) von Andreas Flora

Musik drin
»Dorfhaus« in Sankt Martin in Passeier (I)

Im neuen Dorfhaus der Gemeinde Sankt Martin im Passeiertal gehen Konzerte über die Bühne. Doch es bietet auch Platz zum Feiern, Proben und Parken. Die Architektur fügt sich perfekt in das Umfeld ein – und offenbart ihre Stärken nicht zuletzt unter der Erde.

  • Architekt: Andreas Flora
    Tragwerksplanung: Hartmann & Gamper
  • Kritik: Klaus Meyer
    Fotos: Benjamin Pfitscher, Andreas Flora
Zwei Wege führen nach Sankt Martin im Passeiertal. Der bequeme geht über Meran, der aufregende über die Berge. Wer also von München kommt und etwas erleben möchte, verlässt bei Sterzing die Brennerautobahn und folgt der Strada Statale 44 in Richtung Jaufenpass. Die Straße schraubt sich in engen Serpentinen auf eine Höhe von über 2 000 m. Während Ende März im Tal schon die Forsythien blühen, türmt sich auf der Passhöhe noch der Schnee. Die eisigen, lebensfeindlichen Gipfel der Stubaier, Ötztaler und Sarntaler Alpen vor Augen, sehnt man sich hier oben nach einem grünen Fleck. Auf den ersten Kilometern der steilen Abfahrt dann, macht das Tal der Passer den Eindruck einer gottverlassenen Schattenwelt. Dringt die Sonne überhaupt in diese enge, tiefe Schlucht? Der auf dem Flachländer lastende Alpdruck verflüchtigt sich erst unten in Sankt Leonhard, dem Geburtsort des Südtiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer. Sankt Martin liegt acht Kilometer entfernt. Es geht auf ebener Straße vorbei an saftigen Wiesen und einer Fabrik. Sobald man von der Staatsstraße ins Dorf abgebogen ist, steigt die Stimmung noch einmal. Viele Kinder und junge Mütter bewegen sich in den Gassen mit mächtigen, steinernen Häusern: Der 3 000-Seelen-Ort fühlt sich erfreulich lebendig und urban an – besonders in der Mitte, wo am neu geschaffenen Dorfplatz das im September 2013 eingeweihte Dorfhaus steht.
Schräg gegenüber lockt seit den Tagen Andreas Hofers die traditionsreiche Gastwirtschaft »Lamm« zur Einkehr. Zwei Häuser weiter lädt das Café »Platzl« zum Verweilen ein. Ferner grenzen das ehemalige »Turmhaus« und das alte »Feldhaus« an den Platz. Hinter dem in den Hang gebauten Dorfhaus erheben sich das ehrwürdige Widum (Pfarrhaus) von 1755 sowie der mit Holzbalkonen angehübschte Zweckbau des Altersheims St. Benedikt. Will sagen: Die Dorfmitte von Sankt Martin ist nicht die Piazza Navona, aber sie hat etwas zu bieten, und deshalb war hier wohl auch lange Zeit – ein Parkplatz.

Den Zusammenhalt stärken

Dass die Patentlösung der automobilverrückten Ära nicht der Weisheit letzter Schluss sein konnte, wusste man in der Gemeinde seit Langem. 2007 begannen die Planungen für eine Neugestaltung der Dorfmitte. Und von Anfang an war der Architekt Andreas Flora, damals Assistent am Institut für Gestaltung der Universität Innsbruck, an den Überlegungen beteiligt. Flora, heute Assistenzprofessor, engagiert sich für die nachhaltige Entwicklung der Dörfer seiner Südtiroler Heimat. Auch in den Alpentälern saugen Einkaufszentren und Einkaufsstädte das Leben aus den kleinen Ortschaften. »Wenn die Gemeinden nicht zu Schlafdörfern degenerieren sollen, muss man den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Menschen stärken«, sagt der Architekt. Aber kann der Neubau eines Musikpavillons dabei helfen?
Das war der Nukleus des Plans: Um der örtlichen Musikkapelle eine Bühne für sommerliche Freiluftkonzerte zu verschaffen, fasste man zunächst nur den Bau einer Art Konzertmuschel ins Auge. Doch weitergehende Ideen ließen nicht lange auf sich warten. Ein Probenraum für die Kapelle, ein Multifunktionsraum für Vereinsaktivitäten, ein Ratssaal, ein Parkplatz für Besucher, ein Ausschank für Feste: Das Raumprogramm, mit dem es Andreas Flora zu tun hatte, umfasste schließlich ein Gesamtvolumen von 9 500 m³. Das meiste davon, ca. 8 000 m³, verlegte der Architekt in den Untergrund.

Kein Musikantenstadl

Darum zeigt sich einem jetzt ein Gebäude, das nicht mit schierer Größe prahlt, dafür aber durch schöne Proportionen und Materialien besticht. Zum Dorfplatz hin präsentiert es sich, mit einem riesigen Tor auf der Giebelseite, als archetypisches Satteldachhaus. Die Natursteine des Mauerwerks stammen von einem Abbruchgebäude aus Sankt Leonhard. Zu den Außenwänden passen die bereits angegrauten Zirbelholzbretter, mit denen das zweischalige Dach gedeckt wurde, perfekt. Trotz des großen »Scheunentors«, der traditionellen Bauform und der rustikalen Baustoffe hat das Gebäude nichts von einem volkstümelnden Musikantenstadl. Durch Merkmale wie die scharfkantige Kubatur, die unregelmäßige Befensterung oder die in das Volumen geschnittene Eingangs-Loggia auf der Westseite gibt sich das Dorfhaus auf den ersten Blick als zeitgenössisches Bauwerk zu erkennen.
Im Dialog mit den teils denkmalgeschützten Nachbarn duckt es sich weder weg noch schreit es seine Modernität heraus. Es behauptet sich mit einer Selbstverständlichkeit, die ihm 2013 den Südtiroler Architekturpreis eintrug.
Wenn das Tor effektvoll im Boden versinkt und der vollständig mit Zirbelholzpaneelen ausgekleidete Raum dahinter zum Vorschein kommt, verwandelt sich das Dorfhaus in ein Bühnenhaus und der Platz davor in einen Konzertsaal. Im Sommer spielt hier nicht nur die örtliche Kapelle auf, es finden auch Theateraufführungen, klassische Konzerte und Rockfestivals statt. Steht gerade keine Vorführung an, wird das Tor hochgefahren, woraufhin der Bühnenraum sich in einen mittelgroßen, zweigeschossigen Saal wandelt, in dem die Mitglieder der örtlichen Vereine tagen, tanzen oder proben können. Aus dem ursprünglich geplanten Schönwetter-Pavillon ist also eine ganzjährig bespielbare Plattform für unterschiedlichste Nutzungen geworden.

Vereinte Vielfalt

Der Zugang zum Saal und den anderen Innenräumen erfolgt nicht über das Haupttor. Zwar wäre es möglich gewesen, eine Tür in den hölzernen »Vorhang« zu integrieren, aber die teure und technisch aufwendige Maßnahme erschien keinem Beteiligten sinnvoll. Wozu das Bild des »Sesam, öffne dich!« verunklären, wenn es ohnehin bequemere Wege ins Innere gibt! Tatsächlich verfügt das Gebäude über fünf Eingänge. Durch die Tür an der Nordflanke gelangt man ohne Umstände ins rückwärtige Foyer und zu den – an Dorffesten naturgemäß viel frequentierten – Toiletten. Am Südrand des Platzes führt eine einläufige Treppe direkt in die Tiefgarage und weiter in den unterirdischen Trakt, der den Probenraum der Musikkapelle sowie weitere Vereinsräume birgt. Die Garagenzufahrt am Nordrand des Platzes verbirgt sich teilweise unter einer begrünten Aufschüttung, in die auch der Ausschank integriert wurde. Der markante Eingang auf der dem Pfarrhaus zugewandten Giebelseite führt in ein Zwischengeschoss, von dem Treppen zum Foyer hinunter und zum (ebenfalls vielfältig nutzbaren) Ratssaal unterm Dach hinaufgehen. Wer schlecht zu Fuß ist, muss sich nicht erst ins Entrée begeben, sondern kann gleich vom Vorplatz aus in den Lift steigen.
Zirbelkiefer ist allgegenwärtig in den Innenräumen – und zwar nicht nur an Wänden, Decken und Böden, sondern auch in der Nase, weil das unbehandelte Holz einen süßlichen, jedoch nicht unangenehmen Duft verströmt. Im Bühnensaal und im Probenraum, von dessen Dimensionen und klanglichen Qualitäten manch ein städtisches Orchester nur träumen kann, wurden die meisten Paneele aus akkustischen Gründen perforiert. Einen belebenden Kontrast zu den Holzoberflächen bilden knallrot gestrichene Nischen im Vereinslokal sowie eine ausklappbare Bar im Foyer. Der bemerkenswerteste Aspekt im Innern ist jedoch genuin architektonischer Natur: Klug platzierte Oberlichter und Glastüren bringen Tageslicht in die unterirdischen Räume und sorgen an vielen Stellen für überraschende Durch- und Ausblicke.

Architektur als Ausdruck eines kommunitären Ideals

Qualität hat ihren Preis. Rund 4,3 Mio. Euro hat der Bau des Dorfhauses gekostet, wobei die Gemeinde den größten Teil der Finanzierung aus Eigenmitteln bestritten hat. Laut Bürgermeisterin Rosmarie Pamer sind allerdings »80 % der Aufwendungen und damit der Wertschöpfung im Tal geblieben«. Tatsächlich ist das Gebäude von Maurern, Zimmerleuten, Tischlern und Elektrikern aus Sankt Martin und Umgebung errichtet worden. Man hat zusammen geplant und zusammen gearbeitet, jetzt feiert man zusammen. Architektur als Ausdruck eines kommunitären Ideals: Was gibt es Besseres! 

  • Standort: Dorfhaus, I-39010 St. Martin in Passeier

    Bauherr: Gemeinde St. Martin in Passeier
    Architekt: Andreas Flora, Mals und Innsbruck
    Projektpartner: Gilbert Sommer, Innsbruck; Wolfgang Hainz, Luttach; Plan Werk Stadt, Bozen
    Tragwerksplanung: Hartmann & Gamper, Meran
    HLS -Planung: Thermostudio, Meran Elektroplanung: Mirko Beikircher, Meran
    Akustikplanung: Hutter Acustix, Birkfeld
    BGF: 2 350 m²
    BRI: 9 500 m³, davon 1 500 m³ oberirdisch
    Baukosten: 3,5 Mio. Euro
    Bauzeit: November 2011 bis September 2013
  • Beteiligte Firmen: Generalunternehmer: Gufler Bau, St. Leonard in Passeier, www.guflerbau.com
    Inneneinrichtung: Tischlereigenossenschaft Passeier, www.tischlerei.passeier.it
    Bühnentechnik: Larcher, Lana, www.larcher.bz.it
    Akustikoberflächen: Hutter Acustix, Birkfeld, www.hutter.co.at
    Zementböden: Eccemento, München, www.eccemento.eu
    Außenbeleuchtung: Viabizzuno, Bentivoglio, www.viabizzuno.com
    Bestuhlung: Vitra, Birsfelden, www.vitra.com


Andreas Flora

1969 geboren. Freischaffender Architekt in Innsbruck (A) und Mals (I). Assistenzprofessur an der Universität Innsbruck. Vorstandsmitglied von AUT (Architektur und Tirol).

~Klaus Meyer
1954 geboren. Studium der Germanistik und Geschichte. Zehnjährige Tätigkeit als Werbetexter in Hamburg. Mitarbeit als Redakteur bei Architectural Digest in München. Seit 1999 Tätigkeit als freier Journalist.


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