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Ein Weg als Tragwerk. »Isarsteg Nord« in Freising - db bauzeitung

Ein Weg als Tragwerk
»Isarsteg Nord« in Freising

Während viele konventionelle Brücken das zu überbrückende Hindernis durch ihre Gestaltung hervorheben, macht dieser Steg über die Isar bei München vergessen, dass es überhaupt zwei Seiten gibt. Statt sich selbst zu inszenieren, wird er dank der Einheit aus Form, Materialität und integralem Tragwerk eins mit der Umgebung.

Ein Weg als Tragwerk

Architekten: J2M Architekten
Tragwerksplanung: &structures; IT Bergmeister
Kritik: Roland Pawlitschko
Fotos: Oliver Jaist; J2M Architekten
 
In heißen Sommern fließt die Isar als harmloser, stellenweise nur knietiefer Fluss mit erfrischend kaltem Gebirgswasser von den Alpen in Richtung Norden. Kaum vorstellbar, dass sie sich in Zeiten starker Regenfälle oder zur Schneeschmelze in ein reißendes Gewässer verwandelt, das nicht nur verheerende Überschwemmungen verursachen, sondern auch Brücken zum Einsturz bringen kann. Anders als in München, wo weite Bereiche des Flussbetts zwar renaturiert sind, aber noch immer hohe Ufermauern und Stauwehre das Bild prägen, durchfließt die Isar in Freising, 30 km weiter nördlich, eine wunderbar natürliche Auenwaldlandschaft.
 
Freising, die älteste Stadt Oberbayerns, liegt zu beiden Seiten der Isar und verzeichnet ein ebenso rasantes Bevölkerungswachstum wie München. Um die neueren Stadtviertel rechts der Isar besser an die Altstadt und die Sportanlagen auf der anderen Flussseite anzubinden, beschloss die Stadt den Bau von zwei neuen Fußgänger- und Radfahrerbrücken und lobte hierfür im Jahr 2013 ein europaweites VOF-Vergabeverfahren mit vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren aus. Dass der Stadtrat nach den offenen Wettbewerbspräsentationen der Endrundenteilnehmer das Team des Architekten Christoph Mayr und der Tragwerksplaner Oliver Englhardt und Josef Taferner zum Sieger kürte und mit der Realisierung des »Isarstegs Nord« beauftragte (der »Isarsteg Süd« wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen), lag nicht zuletzt an dem Entwurf, der sich auf besondere Weise mit dem Ort auseinandersetzt. Was damit gemeint ist, erleben Passanten längst bevor sie die insgesamt gut 160 m lange Brücke betreten haben: Wenn sie den überregionalen Isarradweg befahren oder aus dem Auenwald zum Isarufer spazieren, sehen sie keine Brücke als kürzestmögliche Verbindung einer Trennung, sondern ein paradoxerweise gleichermaßen unaufgeregtes wie spektakuläres Bauwerk, das wie ein verzweigter Ast über dem Fluss liegt.
Gut eineinhalb Jahre nach der Einweihung lässt sich noch immer beobachten, dass der monolithische Steg aus Cortenstahl die Neugier der Passanten weckt und sie dazu veranlasst, ihr Tempo zu verringern und stehen zu bleiben, um diese Querung, die sie ursprünglich vielleicht gar nicht als solche nutzen wollten, schließlich doch zu betreten und dort zu verweilen. Aufmerksamkeit erregt dabei gar nicht so sehr der Steg selbst – er ist weder detailreich gestaltet noch ragt er als Landmarke weit in die Höhe oder sticht durch exaltierte Farben und Formen hervor. Im Vordergrund steht vielmehr seine Haltung, gewissermaßen ein über Treppen und Rampen erreichbarer Teil der Flussauenlandschaft zu sein, eine Art Ufererweiterung, die neue Perspektiven erlaubt. Erst auf den zweiten Blick fällt dann auf, dass er ganz anderen Entwurfs- und Konstruktionsprinzipien gehorcht als konventionelle Balken-, Bogen- oder Hängebrücken.

Schlank und geknickt

Christoph Mayr erläutert dieses Phänomen mit einem Entwurfsansatz, dem die Integration des Orts und der Nutzer, aber auch die Einheit von Tragwerk und Weg zugrunde liegt: »Die meisten anspruchsvollen Brückenentwürfe der letzten Zeit folgen entweder den Prinzipien der ›technischen Schönheit‹, bei denen Eleganz durch die präzise Abbildung des Kräftespiels und durch ausgefeilte Details erreicht wird, oder dem Ansatz der ›autonomen Skulptur‹, bei dem sich die Konstruktion aus einer unabhängigen, starken Formidee entwickelt.« Beim Isarsteg Nord mit seiner geknickten Wegeführung trifft beides nicht zu. Er reagiert auf die Besonderheiten des Orts – auf die Topografie, die vorhandenen Wege und den Baumbestand. Daher tastet er sich eher vorsichtig durch den Auenwald, ändert mehrmals seine Richtung, weicht Baumgruppen aus und gabelt sich auf beiden Uferseiten, um über je eine Rampe nicht nur den Dammweg, sondern über Treppen auch den tieferliegenden Uferweg anzubinden. Für die Menschen ergeben sich dadurch vielfältige Nutzungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten, ganz ähnlich wie beim Klenzesteg in München (2013) und beim Lechsteg in Landsberg/Lech (2016) – zwei bislang unrealisierte Wettbewerbsentwürfe, die gemeinsam von Christoph Mayr und Oliver Englhardt auf Grundlage eines vergleichbaren Entwurfsansatzes geplant wurden.
Weg und Tragwerk bilden eine Einheit. Beim Isarsteg Nord gibt es keine rein statischen Elemente (wie etwa Pylone oder Zugseile) und auch die unregelmäßig gesetzten Treppenabgänge und Rampen dienen nicht nur der Erschließung, sondern übernehmen zugleich wesentliche Aufgaben im Tragsystem. Beispielsweise leiten sie durch sich gegenseitig ergänzende Stützmechanismen die Lasten über Tiefengründungen mit verpressten Kleinbohrpfählen in den Baugrund ein. Die integrale Bauweise ermöglichte eine Konstruktion als biegesteifes Rahmentragwerk, das heißt, sämtliche Bauteile sind kraftschlüssig und monolithisch verbunden und ohne Gleitlager und Fugen ausgeführt. Gleich, ob im Bereich der Treppen, Rampen, Stützen oder der 58 m langen Flussüberquerung – konstruktiv ist das gesamte Bauwerk als Stahlverbundtragwerk mit einem im Querschnitt veränderlichen, dreiecksförmigen, torsionssteifen, luft- und wasserdicht verschweißten Stahlhohlkasten konzipiert. In dessen Innerem befinden sich alle 3 m Querschotten, auf denen im Verbund mit dem Deckblech des Kastens eine 15 cm dicke und 3 m breite bewehrte Ortbetonplatte als Gehwegbelag aufliegt.

Wirtschaftlich und elegant

Der Überbau, also von der Unterkante des Trägers bis zur Oberkante des Gehwegbelags, hat über die gesamte Brückenlänge eine konstante Höhe von 1,20 m. Seine konstruktive Höhe basiert v. a. auf zwei Aspekten: Die Unterkante entspricht dem vorgegebenen Freibord (Abstand zwischen Wasserspiegel und Unterkante des Stegs), der die Brücke bei Hochwasser vor Beschädigungen durch Treibgut schützt; zugleich durfte die Gehwegebene nicht zu hoch über den Dammwegen liegen, um das Gefälle der Rampen mit Blick auf Rollstuhlfahrer nicht zu groß werden zu lassen. Ziel der Planer war aber auch ein möglichst kleines Verhältnis zwischen Konstruktionshöhe und Brückenlänge, das zu einem möglichst eleganten Erscheinungsbild führen sollte. Nachdem sich Architekt und Ingenieure von Anfang an darüber einig waren, die Brücke als sensible Lösung in die Flusslandschaft zu integrieren, und Mayr die Idee der Analogie zur Struktur eines Asts als Gestaltungsprinzip ins Spiel brachte, war es nur noch ein kurzer Weg zum Stahlhohlkasten. Er sorgt für ein homogenes, unaufgeregtes Äußeres und ermöglicht dank seiner Kielform geringe Angriffsflächen für Wind und für Treibgut bei Hochwasser sowie für einen natürlichen Schutz der Metalloberflächen vor Schlagregen. Durch die statisch günstige Dreiecksform und die Möglichkeit, auf unterschiedlich hohe Kräfte- und Momentenverläufe mit unterschiedlichen Blechdicken und Querschnittsformen zu reagieren, entsteht zudem ein ebenso leichtes wie robustes und wirtschaftliches Tragwerk. Die klare Linienführung der Brücke erforderte die Überhöhung des Hohlkastentragwerks, das sich unter maximaler Nutzlast (Verkehr) um rund 72 mm verformt (ca. l/780). Die erste Eigenschwingungsfrequenz der Konstruktion beträgt 1,33 Hz bei einer modalen Masse von 65 t. Ein Schwingungsdämpfer im Hohlkasten unter der Gehwegplatte sichert den Nutzerkomfort.
 
Die subtile Gestaltung und die integrative Bauweise unterstützen nicht nur die sensible Einbettung des Bauwerks in die als besonders schützenswert ausgewiesene Auenlandschaft (FFH-Gebiet). Sie tragen auch dazu bei, dass die Brücke ohne jegliche Gleitlager und Dehnfugen, die oft aus umweltbelastenden Materialien bestehen und zudem wartungsintensiv sind, als überaus nachhaltig bezeichnet werden kann. Letztlich besteht die Brücke aus nur zwei Materialien: Stahlbeton für Gehwegplatte und Fundamente sowie schweißgeeigneter, wetterfester Baustahl S355 J2G2W (Stahl nach EN10155 bzw. EN10025–5) für die gesamte Stahlkonstruktion. Dieser Stahl benötigt aufgrund seiner dichten oxidischen Rostdeckschicht keinerlei zusätzlichen Korrosionsschutz, was von großem Vorteil ist: Jede Art der eines Tages nötigen Beschichtungserneuerung hier im Auenwald wäre nur mit äußerst aufwendigen Schutzmaßnahmen umzusetzen gewesen.
 
Führt der Einsatz von Cortenstahl bei Passanten sonst oft zu Irritationen, so findet er hier große Akzeptanz, nicht zuletzt, weil er den von den Planern gewünschten Eindruck einer Brücke als »den Naturkräften ausgesetzter Ast oder Baumstamm« verstärkt. Im Sinne dieser Natürlichkeit kam am Ende auch als Absturzsicherung kein glänzender Edelstahl zum Einsatz, sondern schwarz gesintertes Drahtgeflecht, das in der Wertigkeit mit dem Rost der Stahlkonstruktion korrespondiert. Und weil es aus der Entfernung kaum mehr sichtbar ist, bringt es die ganze Leichtigkeit und Eleganz eines Brückentragwerks zur Geltung, das sich als Teil einer einzigartigen Naturlandschaft versteht.

  • Standort: Isarsteg Nord, 85356 Freising (Isar, Flußkilometer 112,8)

    Architekten: J2M Architekten, Christoph Mayr, München
    Mitarbeiter: Anne Carina Voelkel, Pierre Gisquet
    Tragwerksplanung: &structures, Oliver Englhardt, München;IT Bergmeister, Josef Taferner, Neustift-Vahrn
    Landschaftsarchitektur: Christoph Mayr
    Brückenlänge: 160 m
    Verarbeiteter Stahl: 200 t
    Baukosten: 1,58 Mio. Euro
    Bauzeit: September 2014 bis September 2015

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Bereits vor der Besichtigung des Isarstegs sprachen der Kritiker Roland Pawlitschko, der Architekt Christoph Mayr und der Tragwerksplaner Oliver Englhardt (v.  l.) im Büro von J2M Architekten ausführlich über das konstruktive Konzept und dessen Umsetzung.

J2M Architekten


Christoph Mayr
Architekturstudium an der Hochschule München, 1994 Diplom. Seit 1998 selbstständige Tätigkeit, ab 2000 MSP, Meier-Scupin, Petzet, Mayr, Hehenberg. Lehrauftrag an der Hochschule München. 2003 Gründung von terrain: loenhart & mayr. Seit 2015 J2M Architekten mit Alexander Jeckel und Andreas Metz.
Oliver Englhardt
1991-99 Studium des Bauingenieurwesens an der TU München. 1991-2000 Mitarbeit bei Grad Ingenieurplanungen. 2000-2007 wiss. Mitarbeit an der TU Wien und der Universität für Bodenkultur, Wien. 2007 Promotion. 2008-09 Mitarbeit bei Ove Arup & Partners, London, und Werner Sobek, Stuttgart. Seit 2010 Ingenieurbüro in München und Professur an der TU Graz.
Ingenieurteam Bergmeister
Josef Taferner
1964 in Meran (I) geboren. 1986-92 Studium des Bauingenieurwesens an der TU Graz. Seit 1992 Berufstätigkeit, seit 1995 im Ingenieurteam Bergmeister, seit 1997 als Teilhaber. 1995-97 Vertiefung u. a. zur Formfindung im konstruktiven Ingenieurbau an der Universität Innsbruck, 2008 Dissertation zum fugenlosen Bauen.

 

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