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Der Charme des Rationalen | Gewerbehaus »Nœrd« in Zürich-Oerlikon

Gewerbehaus »Nœrd« in Zürich-Oerlikon (CH)
Der Charme des Rationalen

Das Gewerbe verlässt die Stadt, weil die Rendite von Gewerbeimmobilien für Investoren unattraktiv ist. Dass es auch anders geht, beweist das Gewerbehaus »Nœrd« in Zürich-Oerlikon. Architekten, Mieter, Totalunternehmer und ein Beratungsunternehmen der Immobilienbranche haben Hand in Hand ein Projekt realisiert, das architektonisch bemerkenswert und dabei kostengünstig ist – und sich zudem dem Suffizienz-Gedanken auf einer komplexen Ebene verpflichtet zeigt.
  • Architekten: Beat Rothen Architektur
    Tragwerksplanung: Conzett Bronzini Gartmann; Schällibaum
  • Kritik: Hubertus Adam
    Fotos: Gaston Wicky
Das positive Image, das Zürich genießt, verdankt die Stadt schwerlich den Banken, Finanzdienstleistern und Versicherungen. Sondern denen, die heute gerne als »Kreativbranche« bezeichnet werden: den Künstlern, Architekten, Werbern, Grafikern, Modedesignern und Musikern. Viele von ihnen arbeiten als Ein-Personen-Betrieb im geteilten Atelier, einigen gelingt der große Durchbruch. Kaum eine Karriere ist bilderbuchreifer als die der Brüder Markus und Daniel Freitag, die in den frühen 90er Jahre einen »Messengerbag« aus gebrauchten Lastwagenplanen, Fahrradreifen und Autogurten erfanden. Das Accessoire, ebenso hip (urban und mobil) wie korrekt (Recycling) avancierte binnen kurzer Zeit zum globalen Trendartikel, der aufgrund der stets unterschiedlichen Planenfarben und -aufschriften dem Individualisierungswunsch entgegenkommt, ohne jedoch die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu ignorieren. 1993 hatten die Freitags ihr Unternehmen gegründet, und bald schon übersiedelten sie in das Quartier Zürich-West.
Gewerbe zurück in die Stadt
Doch die Transformation von Zürich-West forderte ihren Tribut: Für Gewerbe war einige Jahre später kein Platz mehr, und die Suche nach einer alten Industriehalle, die sich hätte umnutzen lassen, erwies sich als ergebnislos. Weil sie aber Zürich nicht verlassen wollten und der Bau einer Gewerbehalle irgendwo an der Peripherie keine Option darstellte, nahmen sie Kontakt zu Martin Hofer vom Immobilienberatungsunternehmen Wüest und Partner auf. Hofer war die treibende Kraft hinter einer Idee, die in boomenden Metropolen gemeinhin nicht als realistisch gilt: eine Gewerbehalle im städtischen Kontext neu zu errichten – und das zu Mietpreisen, welche die eines umgenutzten Altbaus nicht übersteigen.
Dass das Projekt gelang, ist das Verdienst aller Beteiligten – zu nennen sind auch Senn BPM als Totalunternehmer sowie der Architekt Beat Rothen, der in den letzten Jahren gerade im Bereich des Wohnungsbaus bewiesen hat, dass selbst in der Schweiz günstiger gebaut werden kann als gemeinhin angenommen.
Nœrd heißt das an der Binzmühlestraße entstandene »Gewerbegebäude der anderen Art«, wie es seine Erfinder nennen. Der vielleicht ein wenig allzu zeitgeistige Name ist indes nicht Resultat einer teuer bezahlten Brandingkampagne, sondern wurde von den Mietern selbst erfunden: Es handelt sich um eine Anspielung auf den Stadtteil Neu-Oerlikon, den Norden von Zürich und natürlich den Nerd. Und die abends leuchtenden, aus Neonröhren zusammengesetzten Buchstaben sind die einzige weithin sichtbare Schrift an der Fassade. Wer hier einzieht, und das sind neben den Ankermietern, der Freitag lab.ag und der Eventagentur Aroma, eine Reihe von kleinen Unternehmen, muss sich auf die Platzierung eines äußerst diskreten Schriftzugs an der Fassade beschränken. Ziel war ganz bewusst kein ikonisches, sondern ein generisches Bauwerk. Weil Freitag und Aroma bei der Planung von Anfang an dabei waren, ist das Gebäude zwar maßgeschneidert für deren Bedürfnisse – aber zugleich so flexibel, dass es problemlos an die Ansprüche weiterer und anderer Nutzer angepasst werden kann.
Flexibilität und Einfachheit
Das architektonische Konzept, das Beat Rothen entwickelte, basiert auf der Idee eines kompakten Volumens mit einer einfachen Tragstruktur. Eine 7 m hohe Fabrikationshalle mit Oberlichtern wird auf allen Seiten von Büro- und Dienstleistungstrakten umfasst, die oberhalb des Hallendachs, also in den oberen beiden Geschossen, in mäandrierender doppelter U-Form auf die gemeinsame und bepflanzte Dachterrasse ausgreifen. Das statische Konzept ist auf ein Minimum reduziert. Pro Fassade gibt es lediglich einen Erschließungskern. Die vier Kerne, die auch zugleich die Zugänge aufnehmen, dienen der Aussteifung einer modularen Struktur mit einem Stützenraster von 8,1 m. Diese Spannweite erlaubt eine möglichst flexible Bespielung der Räume und zudem die Nutzung von Flachdecken aus Beton; lediglich in bestimmten Bereichen der Halle erforderte eine doppelte Spannweite die Integration von Unterzügen.
Statik, Installation und Fassade sind unabhängig voneinander konzipiert, sodass auf die unterschiedliche Lebensdauer reagiert werden kann. Dabei wurde die Gebäudetechnik als üblicherweise kostentreibender Faktor ebenfalls minimiert. Die Schächte wurden indes so großzügig dimensioniert, dass eine bedarfsorientierte Nachrüstung für einzelne Mieter problemlos möglich ist. Vermietet werden die Flächen im Rohbau, wobei viele der Nutzer sich für die von Beat Rothen vorgesehenen Trennwandsysteme entschieden haben. Insgesamt wurde auf nachhaltige und einfache, nicht hybride und damit recycelbare Baustoffe geachtet: Bei der Struktur kam bis auf die tragenden Stützen Recyclingbeton zum Einsatz, an den als Holzkonstruktion ausgeführten Fassaden Mineralfaserplatten und Holzfenster. Metallarbeiten wurden in gelb chromatiertem Blech ausgeführt, Brüstungen in Maschendraht. Wie alles ineinandergreift, zeigt sich beispielsweise an den umlaufenden Balkonen. Sie fungieren einerseits als Außenräume und Putzbalkone für die Mieter und andererseits als Wetterschutz für die Fassaden. Alle Fenster lassen sich manuell öffnen und sind nicht mit einer Steuerungselektronik versehen. Wer ins Nœrd zieht, sollte ein Mindestmaß an Verantwortlichkeit mitbringen. Logischerweise verzichtete man auch auf eine Minergie-Zertifizierung, die hohe Investitionskosten nach sich zieht und gesellschaftliche, ökonomische und Standortfragen sowie deren Auswirkungen nicht berücksichtigt. Im Sinne des Suffizienzgedankens liegt dem Projekt ein ganzheitliches Denken zugrunde, das verschiedene Faktoren umfasst, so die Begrenzung der benötigten Nutzfläche dank einer effizienten Gebäudeorganisation, die Verwendung einfacher und recycelbarer Baumaterialien, die Minimierung der Haustechnik, nicht zuletzt aber auch die soziale Interaktion zwischen den unterschiedlichen Mietern, in der auch für externe Besucher geöffneten Dachkantine. Geheizt wird mit der Abwärme der nahen Kehrichtverbrennungsanlage, für das Waschen der Lkw-Planen wird das auf dem Dach gesammelte Regenwasser eingesetzt.
Gemeinsam planen
Gewerbebauten gelten für viele Investoren als unattraktiv, da sie aufgrund der geringeren Wertschöpfung pro Quadratmeter auch weniger Rendite abwerfen als Büro- oder Wohnimmobilien. Das führt dazu, dass das Gewerbe aus der Stadt gedrängt wird, was nicht nur zu funktionaler Entmischung führt, sondern auch zu verstärkten Pendlerbewegungen. Nœrd ist ein Glücksfall, weil es beweist, dass es auch anders geht. Neu-Oerlikon, einst als Sitz der Schwerindustrie ein fast unzugänglicher Stadtteil, wurde seit den späten 80er Jahren zu einem im Wesentlichen Wohnquartier transformiert, wobei Grundeigentümer, Stadt und Kanton im Zuge eines für die Schweiz pionierhaften »kooperativen Planungsverfahrens« zusammen agierten. Das wurde im Großen und Ganzen zum Erfolg, wenn auch die monofunktionale Ausrichtung auf das Wohnen nicht die erhoffte urbane Lebendigkeit hat entstehen lassen. Dass mit Nœrd nun auch neues Gewerbe eingezogen ist, darf als positives Zeichen gewertet werden. Entscheidend für das Zustandekommen war allerdings nicht nur das architektonische Konzept, sondern auch die Tatsache, dass die Ankermieter nach einer langfristigen Lösung suchten. Weil damit ständige Mieterwechsel, wie sie für Büroimmobilien typisch sind, nicht zu erwarten standen, wurde die Bruttorendite von 6 % auch für Investoren interessant, zumal für Büroflächen eine Sättigung in der Stadt Zürich erreicht ist. Außerdem waren die Erwerbskosten für das Land niedrig, weil der Totalunternehmer die Altlastensanierung übernahm. Was von Nœrd folglich zu lernen ist: Nichts hier ist Hexerei, es handelt sich auch nicht um revolutionäre Konzepte, die noch nirgends angewendet worden wären, sondern um intelligente Ideen, die dann zusammenfinden, wenn verschiedene Partner guten Willens sind und ein gemeinsames Ziel verfolgen. •
  • Standort: Binzmühlestraße 170, CH-8050 Zürich

    Bauherr: Immobilien-Anlagestiftung Turidomus, Zürich
    Architektur und Innenausbau Senn BPM: Beat Rothen Architektur Winterthur
    Mitarbeiter: Beat Rothen, Birgit Rothen-Rieder, Ina Hesselmann, Oliver Maurer, Marcel Jäger, Claudia Toepsch, Lars Reinhardt Statisches
    Konzept: Conzett Bronzini Gartmann, Chur
    Tragwerksplanung: Schällibaum, St. Gallen
    Innenausbau Freitag lab: Spillmann Echsle Architekten
    Landschaftsarchitekt: Müller Illien, Zürich
    Haustechnik: Amstein + Walthert, St. Gallen
    Immobilienberater: Wüest & Partner AG, Zürich
    Nutzfläche: 18 907 m²
    BRI: 105 861 m³
    Investitionsvolumen: 53 Mio. CHF (ca. 50,9 Mio. Euro)
    Bauzeit: Frühjahr 2010 bis Mitte 2011
  • Beteiligte Firmen:
    Totalunternehmer: Senn BPM, St. Gallen, www.senn.com
    Rohbau: Specogna Bau, Kloten, www.specogna.ch
    Beton-Elemente: SAW Spannbetonwerk, Widnau, www.saw.ch
    Montagebau in Holz inkl. Fenster: Erne Holz, Laufenburg, www.erne.net
    Fassadenplatten (Rockpanel nature): INOPAN, Pratteln, www.inopan.ch
    Metall-Innentüren: Oppikofer, Frauenfeld, www.oppikofer.ch
    Metall-Außentüren: Daetmetall, Bachenbülach, www.daetmetall.ch
    Stores: Warema, Luzern, www.warema.ch

Beat Rothen Architektur


Beat Rothen1957 in Winterthur (CH) geboren. Architekturstudium. 1982 Diplom an der HTL, 1986 an der ETH Zürich. Seit 1989 eigenes Architekturbüro. 1989-95 Assistenz an der ETH Zürich. 2001-07 Diplomexperte an der ZHAW Winterthur, seit 2007 dort Dozent.
Birgit Rothen-Rieder
1969 in Heide geboren. Architekturstudium an der Universität Hannover, 1994 Diplom. 1994-2004 Mitarbeit in mehreren Büros in Hannover und München, 2004-08 bei Daniel Libeskind. Seit 2008 Mitarbeit und Mitglied der Geschäftsleitung bei Beat Rothen.

 
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